Marx21: “Mit den Islamisten manchmal, mit dem Staat niemals” 

Trotzki (4. v. l.) zusammen mit Stalin (3. v. r.) als einer der Sargträger bei der Beerdigung von Felix Dserschinski Foto: Unbekannt Lizenz: Gemeinfrei


“Bevor der Putsch losging, ist er gescheitert, aber alles hat einen Segen, jetzt können wir ein wenig Dreck säubern”. 
Mit diesem Facebookpost löste die Berliner Bloggerin Betül Ulusoy kurz nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei 2016 einiges an Unruhe aus, ihr drohte ein Ausschluss aus der Jungen Union. Es war nicht das erste Mal, dass sie eindeutige Sympathien mit dem islamistischen Regime der Türkei äußerte, sie machte Wahlkampf für eine Gegnerin der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern und zieht ihn selbst in Frage, fand 2014 die Atmosphäre auf Erdogan-Wahlkampfveranstaltungen “unbeschreiblich” . Von unserem Gastautor Jan Schiffer.

Nur ein Jahr nach ihrem “unbeschreiblichen” Selfie vom AKP-Wahlkampf findet sie sich auf dem Podium eines Kongresses, auf dem man eigentlich keine AKP-Anhängerinnen erwarten sollte: Sie spricht auf dem vom trotzkistischen Netzwerk marx21 veranstalteten Marx-Is-Muss-Kongress. Was bei einem Mal noch als unglückliches Versehen bezeichnet werden kann, wird immer irritierender, wenn Ulusoy auch noch Gastbeiträge auf dem marx21-nahen Portal “Die Freiheitsliebe” veröffentlicht und marx21-Spitzenvertreterin und MdB Christine Buchholz Ulusoy regelmäßig auch in der Zeit nach ihren Posts zum Putsch und zu Armenien verteidigt und sie bspw. in einem 2016 veröffentlichten Artikel lobt, dass sie ja immerhin die Todesstrafe ablehnt: “ Die Juristin Betül Ulusoy, die sich in der Berliner Şehitlik-Moschee ehrenamtlich engagiert, wurde heftig dafür kritisiert, dass sie die Verhaftung und Bestrafung der Putschisten forderte. Zugleich wurde ignoriert, dass sie sich öffentlich auf Facebook gegen die Todesstrafe aussprach. Ihre Erklärung ist auch deshalb lesenswert, weil sie einen verstehen lässt, warum viele Mitbürgerinnen und Mitbürger mit türkischen Wurzeln mit Erdogan sympathisieren”. Zuletzt antwortete Buchholz in einem Interview mit der Freiheitsliebe, als sie auf einen kritischen Artikel über Ulusoys Partizipation an #unteilbar in der Jungle World angesprochen wurde, dass Ulusoy sich doch nur “gegen ihre eigene Diskriminierung als kopftuchtragende Muslima” wehrt, womit Buchholz einmal mehr jede Distanzierung von Ulusoys Erdoganapologetik vermissen lässt.

Dabei ist der Umgang von marx21 mit Betül Ulusoy keine Ausnahme, sondern die Regel:

Bei in der Linkspartei und der Linksjugend Aktiven ist marx21 schon lange als Gegner einer anti-islamistischen Positionierung bekannt, welcher selbst die Linksparteipolitikerin Sevim Dagdelen auf Grund ihrer Erdogankritik für eine Rassistenhelferin hält. Es ließen sich noch zahlreiche Beispiele für die seltsame Nähe von marx21 zum Islamismus finden, bspw. die regelmäßige Kooperation mit dem islamistisch dominierten Zentralrat der Muslime (ZMD).

Eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen dieser Politik zeigt, dass es sich bei der Kooperation mit Islamisten durch marx21 keinesfalls nur um die Konsequenz von einem Mangel an Problembewusstsein, einer Verkettung unglücklicher Umstände oder einem falschen Verständnis des antirassistischen Kampfes handelt, sondern um eine bewusst formulierte Strategie, welche auf der internationalen Ebene von der Theorietradition, in der marx21 steht, in allen Ländern umgesetzt wird.

Zuerst einmal muss man wissen, dass marx21 aus der trotzkistischen Organisation Linksruck entstanden ist. Die Gruppe Linksruck war Teil der International Socialist Tendency, welche v.a. von der britischen Socialist Workers Party getragen wird und sich auf deren Theoretiker, vor alle,m Tony Cliff, beruft. Bis heute wird marx21 offiziell von der IST als Gruppe in ihrer Tradition eingestuft. Dementsprechend regelmäßig wird in den Publikationen von marx21 auch auf Cliff und andere SWP-Theoretiker verwiesen. Zum Umfeld der SWP und der IST gehören international zahlreiche Organisationen, bspw. die österreichische Neue Linkswende und die ägyptischen Revolutionary Socialists, auf die ich später noch exemplarisch eingehen werde.

Die theoretische Grundlage: Islamismus als strategischer Verbündeter

Bei der Analyse der Position der SWP/IST-Linie hat man das Glück, hier gar keine große Textinterpretation und Recherche vornehmen zu müssen, da der bedeutende SWP-Theoretiker Chris Harman mit “The prophet and the proletariat” ein eigenes Werk zu dem Thema verfasste, in dem er sich äußerst offen äußert. Marx21 übersetzte und verbreitete den Text auf Deutsch und die Revolutionary Socialists nutzten diesen Text in Ägypten sogar zu einer völligen Neuausrichtung linksradikaler Politik und verbreiteten ihn umfassend(siehe dazu Fußnote 2 in diesem Text).

Zum Inhalt des Textes lässt sich bereits das Schlimmste erahnen, wenn man die Ankündigung auf der marx21-Homepage zum Text liest: “ Der Kampagne gegen den Islam und den Islamismus haben sich leider auch Linke angeschlossen, die ihn für historisch rückschrittlich oder gar faschistisch halten.”

Dieser Satz ist schon mehr als bemerkenswert, da marx21 es hier als rassistische Kampagne darstellt, festzustellen, dass der Islamismus (!) “historisch rückschrittlich oder gar faschistisch” ist.

Ein Blick in den Inhalt zeigt, dass diese Formulierung keineswegs einfach nur der schlechten Ausdrucksfähigkeit des Autors der Zusammenfassung geschuldet ist, sondern im Gegenteil ausgesprochen adäquat die theoretische Linie der IST ausdrückt:

Harman beginnt mit umfangreichen Ausführungen, in denen der Islamismus in einen “Islamismus der alten Ausbeuter”, einen der “neuen Ausbeuter”, einen “der Armen” und diverseste weitere Islamismen auseinanderdifferenziert wird. Eine umfassende Darstellung und Kritik wäre eine ausführlichere Arbeit wert, vorerst begnüge ich mich mit einem Zitat aus der Antwort der Internationalen Bolschewistischen Tendenz (IBT) auf Harman:

Jede Variante falschen Bewusstseins ist voller Widersprüche. Aber die “radikale Rebellion” der Islamisten ist nicht gegen die unterdrückenden und ausbeuterischen gesellschaftlichen Beziehungen der bestehenden Ordnung gerichtet; vielmehr richtet sie sich gegen alle noch so begrenzten Freiheiten, die die Unterdrückten für sich gewonnen haben.

Nach weiteren Ausführungen kommt Harman in der Zusammenfassung zum Punkt: Der Islamismus ist nicht als Feind zu betrachten, sondern als eine Bewegung “kleinbürgerlicher Utopisten”. Dabei gipfelt seine Betrachtung in der Forderung nach themenbezogener Kooperation mit offen islamistischen Kräften auf Seite 64/65:

In manchen Fragen werden wir uns auf der gleichen Seite wie die Islamisten gegen den Imperialismus und den Staat wiederfinden. Das war beispielsweise der Fall in vielen Ländern während des ersten Golfkriegs. Das gilt auch für Länder wie Großbritannien oder Frankreich im Kampf gegen Rassismus. Da, wo sich die Islamisten in der Opposition befinden, solllte unsere Leitlinie sein: »Mit den Islamisten manchmal, mit dem Staat niemals.«

Diese Haltung erinnert nur allzu deutlich an diverse Querfrontstrategien, welche die punktuelle Kooperation von Linken mit Rechtsextremen rechtfertigten, beispielsweise an die von Karl Radek formulierte Schlageterlinie, in der er ganz ähnlich wie Harman die Kooperation mit den Nationalsozialisten als punktuell sinnvoll ansieht und den Nationalsozialisten vorschlägt, mit “den russischen Arbeitern und Bauern zur gemeinsamen Abschüttelung des Joches des Ententekapitals” zu kämpfen. Diese Politik wird heute in der Linken von allen als ein schwerer Fehler angesehen — und zu dieser Erkenntnis sollte man auch hier kommen.

Praktische Umsetzung: Kooperation von IST-Gruppen mit reaktionären Kräften

Die oben dargestellte theoretische Auffassung der IST schlägt sich nicht nur in der Praxis von marx21 wieder:

In Österreich machte die dortige marx21-Schwesterorganisation “Neue Linkswende” durch eine ganz besondere Demo auf sich aufmerksam, auf der Allahu-Akbar-Rufe ertönten und Kritiker des türkischen islamofaschistischen De-facto-Diktators Erdogan körperlich angegriffen wurden: Nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Erdogan wollte die Linkswende gerne gemeinsam mit Anhängern der islamistisch-faschistoiden AKP Erdogans und dessen Koalitionspartners, der offen rechtsextremen MHP, “die Demokratie verteidigen”.

In Ägypten sind die Revolutionary Socialists sehr stolz darauf, nun auch mit der islamistischen und antisemitischen Muslimbruderschaft zu kooperieren, da wundert es auch nicht, dass die ägyptischen Sozialist*innen zu Zeiten der Revolution es (ohne nennenswertes Eingreifen Israels in die innerägyptischen Konflikte) für entscheidend halten, internationale “solidarity against Zionism” aufzubauen.

Natürlich fährt auch die britische Mutterpartei selbst, die Socialist Workers Party (SWP), diesen Kurs. Schon zur Zeit der islamistischen Revolution hatte die SWP eine verharmlosende bis affirmative Politik gegenüber den iranischen Islamisten, wie die IBT in ihrem bereits zitierten Artikel belegt. Anfang der Zweitausender radikalisierte sich dieser Kurs noch einmal: Man kooperierte im Wahlbündnis “Respect” mit dem u.a. vom iranischen Regime über den Staatssender PressTV finanziell massiv alimentierten George Galloway und zielte im Wahlkampf vor allem auf Moslems aller Klassen und politischen Orientierungen, anstatt sozialistische klassenorientierte Politik für linke Moslems zu machen, wie die Alliance for Workers Liberty (AWL) in einem offenen Brief an Harman kritisierte. In einem weiteren offenen Brief berichtet die AWL, dass die SWP sich als Teil von Respect am antisemitischen, vom iranischen Regime initiierten auf die Vernichtung Israels abzielenden Al-Quds-Tag in London beteiligte, wo die Parole “We are all Hezbollah” zu hören war. Ebenfalls war die SWP laut AWL massiv am Aufschwung eines britischen Ablegers der islamistischen Muslimbruderschaft beteiligt, der Muslim Association of Britain, die sie durch Aufnahme in Bündnisse und Aufstellen ihrer Mitglieder bei Wahlen laut AWL erst bekannt machte.

Die Politik der IST ist damit eines der krassesten Beispiele dafür, wo die Linke landet, wenn sie nicht bereit ist, dem Islamismus den Kampf anzusagen: In einem Bündnis mit Antisemiten, Frauen- und Schwulenhassern und anderen reaktionären Strömungen. Der Kampf für eine universalistische Linke, welche sowohl Islamismus als auch die völkische Rechte als ihre Gegner erkennt, bleibt dringend erforderlich.

Unser Gastautor ist Sprecher des BAK Shalom

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[…] nur eines der zahllosen trotzkistischen Grüppchen, die es auf der Welt gibt, sondern auch eng mit Islamisten verbunden. Islamisten sieht man in diesen Kreisen als Verbündete im Kampf gegen den gemeinsamen […]

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[…] auf, aus der Buchholz ursprünglich kam, und deren Nachfolge das von ihr mitgegründete Netzwerk marx21 […]

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