
Der Fall Simeon/Maja T. bewegt derzeit viele in linksprogressiven Kreisen, auch auf vielen CSD-Paraden laufen Blocks mit, aus denen es „Free Maja“ heißt. Von unserem Gastautor Till Randolf Amelung.
Sogar bis in die Bundespolitik hinein engagieren sich Politiker. T. befindet sich seit Sommer 2024 in der ungarischen Hauptstadt Budapest in Untersuchungshaft. Zuletzt wollte T. mit einem Hungerstreik eine Rücküberstellung nach Deutschland erzwingen, dieser wurde nach mehr als einem Monat wegen ernster Gesundheitsrisiken schließlich abgebrochen. Am 15. Juli wurde in der linksradikalen Szene bundesweit zu Protestaktionen mobilisiert: es gab Demos oder wie in Leipzig eine Hausbesetzung. Auch der Eingang des ZDF-Hauptstadtstudios wurde kurzfristig blockiert. Doch in all diesen Aktivitäten gehen die schweren Straftaten unter, wegen denen Simeon/Maja T. in Budapest angeklagt ist.
T. wird vorgeworfen als Teil der „Hammerbande“, einer linksextremistischen Vereinigung, im Februar 2023, gemeinsam anderen in Budapest vier Angriffe auf Rechtsextreme – oder für solche gehaltene – durchgeführt zu haben. Anlass war ein europaweites Treffen von Rechtsextremisten zum sogenannten „Tag der Ehre“, an dem jährlich an den Ausbruchsversuch der deutschen Wehrmachtssoldaten und Waffen-SS sowie ihrer ungarischen Verbündeten aus dem Kessel um Budapest im zweiten Weltkrieg erinnert wird. Diese Veranstaltung ist illegal, wird aber von der Orbán-Regierung stillschweigend gebilligt.
Bei den Angriffen auf mutmaßliche Neonazis ist die „Hammerbande“ mit äußerster Brutalität vorgegangen, die Opfer erlitten teils lebensgefährliche Verletzungen. Nach der Tat tauchte Simeon/Maja T. zusammen mit anderen unter, im Dezember 2023 erfolgte in Berlin die Festnahme des per internationalen Haftbefehl Gesuchten. Im Sommer 2024 schließlich die Überstellung nach Ungarn, auf Bitten der ungarischen Behörden. Die Verteidigung T.‘s versuchte dies noch per Eilverfahren beim Bundesverfassungsgericht zu verhindern, der entsprechende Bescheid kam aber zu spät – da war T. schon an die ungarischen Behörden übergeben worden. Im Falle eines Schuldspruchs vor einem ungarischen Gericht drohen Simeon/Maja T. bis zu 24 Jahre Haft.
Der Fall ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Simeon T. äußerte erst während der Untersuchungshaft in Deutschland, sich als „nonbinär“ zu identifizieren – d.h. sich weder als Mann noch als Frau zu identifizieren und nannte sich fortan „Maja“. Das wurde auch als Argument genutzt, um eine Überstellung an Ungarn zu verhindern, zumal die Regierung Viktor Orbáns tatsächlich einen queerfeindlichen Kurs fährt.
Zum anderen wurden im Fall T.‘s bis in die Bundespolitik hinein mobilisiert, sich für die Rücküberstellung einzusetzen. Vor allem aus den Reihen der Linkspartei, der SPD und den Grünen besuchten Bundestagsabgeordnete wie Heidi Reichinnek (Die Linke), Katrin Göring-Eckart (Bündnis 90/die Grünen) und zuletzt Göring-Eckarts Parteikollege Helge Limburg, Luke Hoß (Die Linke) sowie Sebastian Rohloff (SPD) T. im Gefängnis. Auch der Vater von Simeon/Maja setzt sich medienwirksam für seinen Sohn ein, zuletzt überreichte eine Petition mit über 100.000 Unterschriften für die Rückholung des in Ungarn Inhaftierten nach Deutschland an das Außenministerium. Aktuell will er mit einem sogenannten „Hungermarsch“ bis nach Budapest laufen und damit weiter Unterstützung mobilisieren.
Simeon/Maja T. und seine Unterstützer werfen Ungarn vor, dass die Justiz nicht unabhängig und damit ein fairer Prozess nicht gewährleistet sei. Außerdem werden von T. Folter in Form von Isolierung von anderen Häftlingen sowie menschenunwürdige Haftbedingungen beklagt, insbesondere schlechtes Essen und Wanzen. In der Tat hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Ungarn in der Vergangenheit schon mehrfach wegen unzureichender Bedingungen in Gefängnissen gerügt. Doch das Land hat sich um Verbesserungen bemüht und derzeit belegt Ungarn auch keinen Spitzenplatz, wenn es um die schlechtesten Haftbedingungen in einem EU-Land geht. Dies bestätigten mehrere Hintergrundgespräche mit Experten aus der Justiz. Auf den vordersten Plätzen finden sich vielmehr Länder wie Frankreich oder Zypern. Probleme mit Wanzenbefall treten auch in deutschen Haftanstalten immer wieder auf. Als westeuropäisches Nicht-mehr-EU-Land schockierten zuletzt Berichte über die Zustände in Gefängnissen in Großbritannien.
Geht es um Bedingungen wie Isolation und Teilnahme an Angeboten im Gefängnis, so muss außerdem berücksichtigt werden, dass T. derzeit in Untersuchungshaft im Gefängnis sitzt und nicht als bereits verurteilter Straftäter. Dies hat Konsequenzen für den Umgang – nicht nur in Ungarn, sondern auch in Deutschland wäre es so. Häftlinge in U-Haft dürfen nicht selbstverständlich an den Gemeinschaftsaktivitäten anderer Häftlinge teilnehmen. Auch der Empfang von Post oder Besuch sind eingeschränkt. Üblicherweise legt ein Gericht die Auflagen fest. Erschwerend kommt bei T. hinzu, dass er wegen schwerer Straftaten mit einem politisch extremistischen Motiv angeklagt ist.
Die Frage der Unabhängigkeit der Justiz ist ebenfalls nicht so eindeutig zu Gunsten der Seite Simeon/Maja T.‘s zu beantworten. So gibt es zwar auch von Beschäftigten aus dem ungarischen Justizapparat selbst Beschwerden – zuletzt demonstrierten sie im Februar 2025 für bessere Arbeitsbedingungen. Eine direkte Einflussnahme durch den Staat auf Gerichtsurteile gibt es aber nicht. Jedoch werden Richter, deren Urteilssprüche bei der Orbán-Regierung Gefallen finden, mitunter schneller befördert.
Doch ein sorgfältiger, differenzierter Realitätsabgleich findet in der gesamten Auseinandersetzung mit Simeon/Maja T. nicht statt – vor allem nicht in der medialen Berichterstattung. Zu gut eignet sich Ungarn unter der Regierung des Rechtspopulisten Orbáns als Feindbild. So darf der Vater in Medien pathetisch klagen, dass sein Kind im Krankenhaus erstmals wieder den Sternenhimmel sehen konnte. Die Grünen-Abgeordnete Katrin Göring-Eckart äußerte sich nach einem Besuch T.‘s in sozialen Netzwerken ebenfalls in diesem Stil: „Aber diese Haftbedingungen gehen nicht, das ist eine Katastrophe für einen Menschen wie Maja T. Das ist eine Katastrophe mitten in Europa.“
Göring-Eckart bezieht sich damit auf die geäußerte Identifikation T.‘s als „nonbinär“. Nach allem, was bisher bekannt ist, handelt es sich bei T. um einen biologischen Mann, das nonbinäre Outing erfolgte erst während der Untersuchungshaft in Deutschland. Ob inzwischen eine amtliche Vornamens- und Personenstandsänderung vorliegt, ist gemäß der bisherigen Berichterstattung unklar. Das Selbstbestimmungsgesetz, was die Änderung des Geschlechtseintrags stark vereinfacht hat, ist erst seit November 2024 in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt saß T. bereits in Ungarn in Untersuchungshaft.
Nonbinarität ist denkbar einfach zu deklarieren, da eine kohärente Definition aktiv verweigert wird. Jeder kann mitmachen, indem er sich als nonbinär identifiziert, man muss keine optischen oder körperlichen Veränderungen vollziehen. Dies passt zum queeren Paradigma, dass Geschlecht ausschließlich eine Sache der persönlichen Identifikation ist – unabhängig von jedweden körperlichen Gegebenheiten. Wie glaubwürdig das Outing von Simeon/Maja T. ist, kann hier nicht zweifelsfrei geklärt werden. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass eine drohende Haftstrafe wundersame Geschlechtswechsel fördert. Man kennt dieses Phänomen auch als „criminal proceedings onset gender dysphoria“. In diesem Fall möglicherweise begünstigt durch die Tatsache, dass bei einer Verurteilung in Ungarn ein höheres Strafmaß, als in Deutschland droht.
Worüber bei alledem nicht mehr gesprochen wird, sind die doch erheblichen Straftaten und das politisch extremistische Motiv. Die Schwere der Verletzungen bei einigen der Opfer macht deutlich, dass deren Tod zumindest billigend in Kauf genommen wurde. Politikwissenschaftlerin und Expertin für Extremismus sowie Radikalisierung (u.a. in Gefängnissen) Gülden Hennemann, die mehrere Jahre beim Bayerischen Verfassungsschutz arbeitete und aktuell Leiterin u.a. der Operativen Einheit Extremismusbekämpfung im bayerischen Justizvollzug ist, erklärt: „Diese Strategie nennt man auch ‚Narrativverschiebung‘, um vom eigentlich relevanten Aspekt wegzulenken.“ Der Fokus auf die Geschlechtsidentität von Simeon/Maja T. und die Haftbedingungen trägt zudem zu einer Täter-Opfer-Umkehr bei.
„Man müsste sich nur vorstellen, was los wäre, wenn es um einen rechtsextremen Tatverdächtigen ginge und Vertreter der Union würde den im Gefängnis besuchen“, weist Hennemann noch auf die Doppelmoral bei der Auseinandersetzung mit dem Fall T. hin. „Das Recht auf körperliche Unversehrtheit gilt für alle Menschen und nicht nur dann, wenn die politische Überzeugung genehm ist.“
Doch die Gewalttaten der ausländischen Linksextremisten hatten auch negative innenpolitische Folgen für Linke in Ungarn, worauf Eszter Kováts, die als Politikwissenschaftlerin an der Universität Wien tätig ist, in einem Gespräch hinwies. Denn Orbán und seine Fidesz nutzten dies gnadenlos, um alle Linke als Gewalttäter zu bezichtigen. In diesem Zusammenhang muss die Inhaftierung einer 42-jährigen Aktivistin der Szikra-Bewegung – der gewaltfreien links-grünen politischen Organisation, die den Parlamentsabgeordneten András Jámbor unterstützt, noch im Frühjahr 2023 eingeordnet werden. Laut einer Pressemitteilung von Szikra reichte offenbar ein Facebook-Like aus, um die Aktivistin zwei Wochen lang in Gewahrsam zu nehmen – verbunden mit einer Hetzkampagne. Unter westlichen Linken war dagegen kein Protest, kein Hungermarsch oder Blockaden von Fernsehstudios zu vernehmen.
András Jámbor wiederum, hat mit solchen Erfahrungen im Hintergrund im Mai 2025 westeuropäischen Linken auf Facebook vorgeworfen, sich nicht für die tatsächliche politische Situation in Ungarn zu interessieren, gar ungarischen oppositionellen Kräften mit solchen Aktionen zu schaden. Auslöser war eine Ankündigung der italienischen Europaabgeordneten und linksextremistischen Aktivisten Ilaria Salis, Ende Juni zur Pride nach Budapest zu kommen. Der Italienerin wird ebenfalls vorgeworfen, an den Gewalttaten im Februar 2023 beteiligt gewesen zu sein. Salis befand sich bis Juni 2024 in Ungarn in Untersuchungshaft – sie kam frei, weil sie bei der Europawahl ins Parlament gewählt wurde und als Abgeordnete Immunität genießt. Der ungarische Parlamentsabgeordnete Jambór kommentierte ihre Ankündigung: „Wenn du hierher kommst, wenn sie hierher kommen, wird nur das System stärker. Ungarn und der linken Gemeinde kann man nur hier und jetzt schaden. Bitte tut diesem Land keinen Schaden mehr an!“ Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass selbstgerechte Gute aus dem westeuropäischen linken und extremistischen Spektrum die Folgen ihrer Handlungen selbstkritisch reflektieren werden.

Apropos Narrativverschiebung: „der entsprechende Bescheid kam aber zu spät“ ist eine nette Umschreibung dafür, dass die Auslieferung in einer eiligen Nacht-und-Nebel-Aktion erfolgte, sobald das Urteil des KG, dass diese erlaubte, vorlag. Denn nach monatelanger Untersuchungshaft war es den Strafverfolgungsbehörden offenbar nicht zuzumuten, auch nur einen Tag auf die Entscheidung des Bundsverfassungsgerichts über den Eilantrag dagegen zu warten.
Beck aktuell titelt deswegen auch mit „rechtswidrig“ statt mit „Bescheid kam zu spät“:
„Rechtswidrig nach Ungarn ausgeliefert: Maja T.s bitterer Sieg in Karlsruhe“
https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/bverfg-2bvr110324-haftumstaende-ungarn-aufklaerung-maja-nonbinaer-auslieferung-verfassungsbeschwerde