Sieben Räume der Weisheit 

Ulf Kubank Foto: Zizino Kubanke


Von unserem Gastautor Ulf Kubanke.

„The world is fucked, and so am I

Maybe it’s the other way round, I can’t seem to decide.“ 

Therapy? 1994

 

Erkenntnis, so heißt es im philosophischen Volksmunde, sei der Ausgangspunkt aller Heilung.

 

Problem:

 

Man muss selbst den Punkt Zero erkennen und von diesem aktiv werden.

 

Klappt nie, jedenfalls bei mir.

 

Klappt eventuell spätestens, wenn man so dermaßen im Arsch ist, so dermaßen allein sich wähnt und nicht mehr in der Lage, ohne Hilfestellung von außen weitermachen zu können.

 

Normalerweise kein Problem, wir sind zu zweit. Doch Zizino befand sich vorübergehend in Sakartvelo.

Familienkram regeln, alte Freunde treffen, was so ansteht zwischendurch in länderübergreifenden Familien.

 

Keine Verfügbarkeit.

 

Selbstverständlich tritt in einer solchen Situation eine Krise epischen Ausmaßes ein.

 

Super Timing wie immer.

 

Ohne ins Detail zu gehen, mag ich es wohl als begründete Seelenpein nicht unerheblichen Ausmaßes charakterisieren. Irgendwas mit Flashbacks, PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung), Panikattacken, Verzweiflung…der ganze salzsaure Sud…

 

Was nun?

 

Eine therapeutische Praxis?

Vergiss es, Termine in ungefähr 800 Jahren.

 

Umfeld, Freunde etc.?

Gerade nicht am Start.

 

Deutscher Teil der Familie?

Ein Witz.

 

Kein Witz hingegen: Ich weigere mich, zu einer dieser öffentlichen Therapiegruppen zu gehen.

 

Das einzig gute an jenem Wort ist ohnehin die gleichnamige Belfast Band Therapy? samt ihres legendären „Troublegum“. Die Parallelen sind offenkundig.

 

 

„The world is fucked / And so am I“. Selten gibt es Schallplatten, die in ihrer speziellen Form die gesamte crunchy Knochenmühle des Lebens in sich vereinen und Zerbersten.

 

Die Straße ist ein hartes Pflaster. Doch nichts ist so auszehrend wie der Kampf mit den Frauen und besonders den eigenen Dämonen. „Your Beauty makes me feel alone / I look inside but no one’s home.“ Auf „Troublegum“ bricht meist alles gleichzeitig herein. Ein brennender, rastloser Tanz auf der bereits blutbefleckten Rasierklinge des No more! .

 

Keine Gefangenen, kein Morgentau, keine frische Brise.

Nimm es oder stirb.

 

Der Rest ist…..Leiden

 

Gerade deshalb: Nope, nicht mit mir, ihr Knikklichter.

 

Nein,

 

Nicht mit mir, nee, lasst man steggn.

 

So schlimm kann es doch wohl nicht sein, nicht werden, kein kindisches Angestelle hier. Ich reiß mich zusammen. Mag nicht so ein Pinsel sein. Bah!

 

 

 

Tja, drei Stunden später stehe ich vor einem gigantischen Gebäude samt fischmarkttauglich derbem Pförtner.

 

„Wo soll es denn hingehen?“

 

„Da rein.“

 

„Wo genau?“

 

„Glauben Sie, ich habe Lust, mich hier in der indiskretesten Schlangensituation der Welt, zu offenbaren? Was ist das denn hier?“

 

Ist ihm auch Latte, zum Glück.

Er winkt mich durch.

 

Ich bin in der Halle.

 

Und jetzt?

 

Gefühlt 50 Räume.

 

Welcher könnte der meine sein?

 

Um die Scheiß Schilder zu lesen, muss ich jede einzelne Tür mit der Nasenspitze polieren …nicht mal das klappt momentan noch vernünftig.

 

Also reinschauen….das kann ja dauern.

 

Raum 1 ist voller Tische, ausschließlich Frauen, glaube ich, bin noch nicht sicher, zwinkere.

 

„Ey raus wa, hiä is‘ nuah Fraun, Diggah.“

 

schallt es mir derbst entgegen.

 

„‚zeihung, bin schon weg. Übrigens: „Frauen“ bedeutet Plural.“

 

„Watt is?“

 

„Bin schon weg.“

 

Raum 2 ist leer, weder Möbel, noch Menschen, nur ein sichtlich trockener, stattlicher Kaktus, den ich kurz ernsthaft überlege aus dieser Wüste zu entführen.

 

Weiter zu Raum 3.

 

Abgeschlossen.

 

Raum 4: Stuhlkreis unter funzelig angebrâuntem Neonlicht.

 

Mindestens ein Dutzend Personen. Alles wirkt auf mich totenstill. Na wenigstens nicht augenblicklich angepöbelt.

 

„Moin Leute, könntet ihr mir zuvorkommenderweise bitte sagen, worum es hier geht?“

 

 

……….eine Person ganz sacht, fast hauchend: „Trauerbewältigung.“

 

„Achso, ok, danke. Ich mach schon zu. Schönen Abend.“

 

auf einmal pampig: „Wie soll das denn gehen?“

 

„Ah, sorry, ich meinte nur…“

 

noch lauter: „W A S?“

 

„Tschüss.“

 

 

Goth, was sind die hier alle kompliziert.

 

Raum 5? Mein persönlicher Favorit.

 

„Kleptomanische Selbsthilfegruppe“

 

Mal sehen, ob die nach dem Treffen noch alle Taschen im Schrank haben.

 

Ich muss kurz gegen den Drang ankämpfen, mich aus humoristischen Gründen hinein zu begeben.

 

Raum 6:

 

„Moin Leute, darf ich fragen…“

 

laut unterbrechend

 

„LGBT“ ist eins weiter.“

 

„LG…bitte was?“

 

ungerührt „Ja, eins weiter, sag ich doch.“

 

„Alter, was seid ihr denn?“

 

„A.A.“

 

„Gruß an Onkel Steven.“

 

Er grinst.

 

„Wie gesagt: Nächste T…“

 

Ich bin raus. OK, die nächste Tür kann ich sparen. Im Vorbeigehen erhasche ich einen Blick durch die offenstehende Tür.

 

Scheint ne weit lässigere Atmosphäre zu sein, als bei den anderen. Sogar Kaffeeduft. Egal, Koffein vertrage ich eh nicht mehr. Wäre einfach zu viel neben Gras und Booze. Schnell weiter.

 

„Geiles Makeup.“ ertönt es.

 

„Danke.“

 

Raum 7

 

Ah, endlich finde ich meinen Themenbereich. Fünf vor Acht. Gerade rechtzeitig. Erstmal die Tür öffnen.

 

Eine Lichtwand flutet mir entgegen. OK, für andere lediglich die ortsübliche Beleuchtung öffentlicher Räumlichkeiten.

Für mich eher die Klingonen mit Lasershotgun.

 

Jepp, war so klar. Der hellste Raum. What did I think?

 

Ich kann da doch jetzt nicht ernsthaft mit Shades rein wackeln.

 

Zu peinlich.

Dabei weiß ich streng genommen noch nicht einmal, ob sich überhaupt jemand darin befindet.

 

Aber, tja, das Licht.

 

Also doch rasch aufsetzen.

 

Nein, hab ich Zuhause neben dem Kaffee liegen gelassen. Fukk

 

Ich taste mich behutsam in den Lichtkegel.

 

Wieder Stuhlkreis. Ich ertasten den mir nächsten, lasse mich nieder.

 

Langsam klärt sich das Bild.

 

Mir gegenüber fünf Personen, drei Frauen, zwei Männer. Die drei Damen, eine in meinem Alter, die beiden anderen ca Mitte Dreißig, scheinen einander zu kennen, palavern miteinander.

 

Zwei Herren daneben. Einer die Sorte nervöser Mobster-Buchhalter mit zu bunter Krawatte, kaut Nägel, schaut sich permanent um, vermeidet Augenkontakt.

 

Zu seiner Rechten sitzt ein vollkommen teilnahmsloser Mann. Schätzungsweise Mitte 40, er trägt ein soßenbeflecktes T-Shirt in verwaschenem Greige. Halblange Haare fallen ihm strähnig ins Gesicht. So ein bisschen der späte Mike Oldfield in „Moonshine“.

 

Er starrt teilnahmslos, nahezu entrückt vor sich hin.

 

Weniger Minuten verstreichen zäh wie jahrhundertealter Kaugummi.

 

Was zur Hölle mache ich hier bloß?

 

20:01 – Die drei Frauen und der Buchhalter starren mich an.

 

Haben die keine eigene Beschäftigung. Smartphone befohlen? Hab ich ne Nudel im Gesicht?

 

Ich schaue krampfhaft auf meine Nägel. Mist, der Lack blättert ab. Und wenn ich das schon sehe.

 

20:02 – Das Starren geht in Knallhärten Fixierung über. Mafia-Schlips kneift die Augen zusammen.

 

„Ja, wann geht es denn endlich los?“

 

„Das weiß ich auch nicht. Dachte um 8.“

 

Darauf eine der Frauen

 

„Dann legen Sie doch endlich los.“

 

„Endlich? Ich? Ich sitze hier wie Sie alle Warteposition.“

 

„Dann sind sie nicht der Gruppenleiter?“

 

„Nein, um Goths Willen, oh nein.“

 

Sie zieht ne Schnute.

 

„Aber, wenn sowieso keiner kommt, d a n n könnten Sie doch spontan einspringen?“

 

„Ich? Warum? Ich möchte wirklich nicht kompliziert wirken, aber ich bin weder diplomierter Sozialpsycho noch Gothic Jesus oder was? Echt mal jetzt.“

 

Auf einmal reißt Mr Apathie die Augen auf, grätscht sich in aufrechte Position und ranzt mich semikeifend an.

 

„Ey, ich weiß genau, wer DU bist. Du bist der Wixxer, der immer Blutengel runterschreibt.“

 

„Äh, nein, ich…“

 

Die Damen schauen erneut enttäuscht. Der Buchhalter grinst erstmals, wie ein schadensfrohes Frettchen.

 

„Streite es nicht ab.“

 

„Liegt mir fern, nein klar, ich bin schon der, den Du meinst. Ich schreibe indes niemanden runter. Manche Bands agieren jedoch in Erwartung eines tauben Publikums. Nicht mein Problem. Aber passt auf dein Schandmaul auf.“

 

„Du kannst gar keine objektive Rezession schreiben.“

 

An dem Punkt büßte das ganze Unterfangen, nennt mich hypersensibel, doch ein wenig seinen Glanz ein.

 

Ich stehe auf, verlasse den Raum.

 

Im Türgang stoße ich mit dem Moderator, Gruppenleiter, whatever zusammen.

 

„Sie wollen uns schon verlassen?“

 

„Oh ja.“

 

„Aber es ist doch noch gar nicht losgegangen. Und hier ist alles kuschelig und anonym.“

 

„Dann ist Eure Vorstellung der Anonymität nicht meins. So gar nicht.“

 

(schnippisch) „Tja, dann eben nicht. Manchen kann man es eben nie Recht machen.“

 

„Anscheinend. Ciao.“

 

Ich verlasse diesen unfassbar mittelmäßigen Ort mit einem Lächeln….es wird draußen zum breiten Grinsen. Nicht das irgendwas, irgendwer dort taugte, funktionierte, geschweige denn mein Plan.

 

Während des ganzen Getüdels erfuhr ich gleichwohl keine Heimsuchung vom schwarzen Quader, kein einzig dunkler Gedanke. Den Abend über ebenfalls nicht. Seltsam, nicht wahr? Auch wenn nichts funktioniert, Hauptsache, es klappt.

 

Fehlt noch was?

 

Klar, der Musiktipp.

 

Nach obigem natürlich Therapy? mit „Troublegum“.

 

Kurze Einordnung in die Zeit des Erscheinens, Februar 1994.

 

Wie war das damals?

 

Mit dem Sargnagel „Nevermind“ beenden Nirvana die 80er 1991erstmal im Handstreich. Trent Reznor sammelt mit der „Downward Spiral“ die Verrückten, Type O Negative mit „Bloody Kisses“ die Finsterlinge ein. Doch 1994 gab es nur ein Album, auf das sich von den Metalkuttenträgern über Indie-Heads, Punks, Goths, Rockrr bis hin zu Pop-Fans alle lässig einigen konnten: „Troublegum“.

 

Grosse catchy Melodien, ballernder Rhythmus, knallharte Texte.

 

Als Anspieltipp hier der Klassiker „Screamager“, sowohl elektrisch wie akustisch:

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