
Die beeindruckenden politischen und psychologischen Reflexionen des Politikers Michael Roth (SPD) Von unserem Gastautor Roland Kaufhold
27 Jahre lang saß Michael Roth für die SPD im Bundestag. Bereits mit 28 Jahren war der aus einfachen Verhältnissen Stammende in den Bundestag eingezogen. In seiner hessischen Heimat war er fest verankert, als strömungsunabhängiger linker Politiker und überzeugter Demokrat. Als 2014 Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine begann, ab Februar 2022 in einer noch vehementeren Version, wurde der inzwischen profilierte Außenpolitiker Michael Roth medial omnipräsent: Gemeinsam mit dem Grünen Anton Hofreiter sowie der FDPlerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann fochte er für das Recht der demokratischen Ukraine auf Selbstverteidigung gegen dem auf vollständige Vernichtung ausgerichteten Diktator Putin.
Politik und Ängste
In diesen Jahren, nach gut 20 Jahren professioneller Politik im Bundestag, brachen in Michael Roth scheinbar eruptiv abgrundtiefe Ängste aus. Er wurde seelisch krank, fühlte sich wie gelähmt. Er nahm sich Auszeiten – die Ängste jedoch blieben. Als die Anfeindungen und Vernichtungsversuche ausgerechnet aus seiner eigenen Partei, insbesondere durch den putinzugeneigten Kölner Abgeordneten Rolf Mützenich, immer stärker und persönlicher wurden, beschloss Roth, sich aus der Berufspolitik zu verabschieden. Eine Psychotherapie, über die Roth in seinem bemerkenswerten Buch gleichfalls schreibt, verstärkten seinen Wunsch nach einem selbstbestimmtem Abschied aus der Politik. Er, der sich drei Jahrzehnte lang als Fachpolitiker profiliert und verankert hatte, erlebte die Berufspolitik als toxisch.
Zugleich beschloss er, nach seinem Abschied eine abgrundtief ehrliche Beschreibung seines Engagements und seiner Ängste vorzulegen. Dies ist ihm mit seinem Buch Zonen der Angst wahrlich gelungen.
Der Fall ins Bodenlose
In dem einführenden Kapiteln „Fall ins Bodenlose“ beschreibt er diese „tiefschwarzen Schatten“ (S. 14), die sich auf alles niederlegten, was ihm wichtig war: Sein Engagement, seine Partnerschaft mit seinem Ehemann – sie hatten 2012 geheiratet – und seine sonstigen Freundschaften. Michael Roth hatte zu nichts mehr Lust, vermochte am Neujahrsmorgen noch nicht einmal einfachste Alltagsdinge wie Einkäufe zu erledigen. „Es tut mir leid, aber ich kann nicht mehr. Ich brauche Hilfe. Und zwar professionelle“ (S. 22) teilte er seinem Lebenspartner am 1.1.2022 mit. Roth fand sogleich eine professionelle Psychoanalytikerin.
Roth führt Vieles, Widersprüchliches zusammen: Er beschreibt seinen mühsamen Aufstieg innerhalb „seiner“ SPD, erzählt detailgenau, in der Grundhaltung von Respekt, seine tagtäglichen politischen Engagements für die Menschen. Sein Buch ist frei von jeglicher Form von „billiger Abrechnung“, wie es vielen dieser letztlich bedeutungslosen Büchern von ehemaligen Spitzenpolitikern inhärent ist: Dies hebt Roth im Vorwort auch selbst hervor:
„Dieses Buch ist keine Abrechnung mit der Politik. Auch wenn der öffentliche Einsatz für ein gutes Leben manchmal anstrengend und enttäuschend ist, lohnt er. Ich bin so dankbar für die Chance, an wichtiger Stelle über so lange Zeit gewirkt haben zu dürfen.“ (S. 11) Diese ressentimentfreie Grundhaltung verlässt Roth in seinem beeindruckenden Werk an keiner Stelle. Die Lektüre seines Buches lohnt wirklich.
Roth beschreibt auch die harten, unschönen internen Kämpfe innerhalb der Parteistrukturen. Dass der Parteifreund häufig zugleich der größte Feind ist, gilt als Binsenweisheit. Auch Roth, dessen Buch vom Geist des Respektes vor den demokratischen Prozessen durchdrungen ist, liefert hierfür bestürzende Beispiele. Der aus Köln stammende Rezensent stimmt den Beurteilungen, insbesondere was die Person des Kölners Rolf Mützenich betrifft, umfassend zu.
Psychoanalyse und Politik
Der teils international renommierte Politiker Roth hat sein Werk bewusst mit „Zonen der Angst“ betitelt. Wer seine Gefühle benennt hat im harten Politikbetrieb keine Chance mehr auf eine Karriere. Diese strebt Michael Roth jedoch nicht mehr an.
Er beschreibt in grundehrlicher und beeindruckender Weise seinen eigenen Lebensweg; seine Ambivalenzen und ausgelassenen Kämpfe insbesondere mit seinem Vater, einem einfühlungsarmen autoritären Alkoholiker aus der hessischen Provinz.
Roth beschreibt zugleich auch einige seiner stützenden Gespräche mit seiner Psychotherapeutin, die ihm halfen, seine eigenen Ängste und Motive besser zu verstehen. Durch seine autobiografischen Beschreibungen wolle er Menschen Mut machen, sich mit ihren eigenen Ängsten angemessen auseinander zu setzen – und dennoch eine politische und soziale Haltung einzunehmen: „Gefühle von Angst und Scham haben mich von Kindesbeinen an geprägt“, hebt Roth hervor.
Einmal zitiert er Sigmund Freud selbst mit der Erklärung, dass unsere Angst vor allem ein Signal sei, uns vor – realen oder phantasierten – Bedrohungen zu schützen. Mit seinen sehr aufrichtigen Beschreibungen wolle er zugleich deutlich machen, dass ein Leben ohne Angst möglich sei. Sein 2025 frei gewählter Abschied aus der Politik – nach 28 Jahren verzichtete Roth auf eine erneute Kandidatur für den Bundestag – sei ein Beleg für diese Lebensperspektive.
Weitergehende Verweise zu psychoanalytischer Literatur finden sich in Roths Buch nicht. Erinnert sei daran, dass der Psychoanalytiker Horst-Eberhart Richter (1923-2011) in seinen zahllosen Werken ab den 1970er Jahren die theoretischen Grundlagen für eine Verschränkung zwischen politischem Engagement und psychischer Introspektion gelegt hat (vgl. Kaufhold 2000, 2012 , Wirth 2012).
H.-E. Richters Bücher Eltern, Kind und Neurose (Richter 1962), Patient Familie (1970), Die Gruppe. Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien (1972), Lernziel Solidarität (1974), Flüchten oder Standhalten (1976) sowie Der Gotteskomplex (1979) bilden theoretische Grundlagen für ein vertiefendes Verständnis von Michael Roths Werk. Auszüge aus Richters Der Gotteskomplex waren auch Gegenstand meiner schriftlichen Abiturprüfung im Fach Deutsch.
H.-E. Richters Schüler und Nachfolger, der Gießener Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth, erinnert sich in seinem Nachruf auf Richter: „Vor mehr als 40 Jahren, im Sommer 1970, ich war noch keine 20 Jahre alt, zog mich Horst-Eberhard Richters Patient Familie in einen wahren Leserausch. Neben Sigmund Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Erich Fromms Die Furcht vor der Freiheit bescherte mir dieses Buch eine Leseerfahrung, wie ich sie seit den Tagen meiner Hermann-Hesse-Lektüre nicht mehr erlebt hatte. Es eröffnete sich mir eine neue Welt, und in mir wurde die Neugier geweckt, die psychoanalytische Erkundung der komplexen Zusammenhänge zwischen Psyche und Gesellschaft (…) zum Zentrum meines weiteren Lebens zu machen. Was ich bei Richter las, wirkte – religiös gesprochen – fast wie eine Offenbarung.“ (Wirth 2021)
„Im Anfang war die Angst“
Roth versucht zu verstehen, wie er, nach anfänglicher Unsicherheit, mehr als zwei Jahrzehnte lang im harten Politikbetrieb zu bestehen vermochte. Dass dies mit massiven Verdrängungen der eigenen frühkindlichen Ängste verbunden war, wird ihm, wie bei der Lektüre eindrücklich nachvollziehbar wird, erst nach seinen schweren Krisen deutlich, die während der Ukrainekrise in ihm aufbrachen. Die Unterstützung der durch Putin schwer und grundlos attackierten Ukraine war ihm, als Vorsitzendem des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, zu „meiner wichtigsten Mission“ geworden (S. 25).
In dem Kapitel „Im Anfang war die Angst“ erinnert Roth sich seiner Kindheit im nordhessischen Heringen. Sein Vater war, wie die Mehrzahl der Dorfbewohner, ein Bergmann: „Emotionale Enge und belastendes Schweigen bestimmten unseren Alltag“, erinnert sich der 1970 Geborene (S. 27). Die Folgen der Nazizeit, über die nahezu nie gesprochen wurde (Kaufhold & Hristeva 2021) , prägten auf subtiler Weise die gesellschaftliche Atmosphäre seiner Kindheit. Seine aus einfachen Verhältnissen stammenden Eltern heirateten früh; sie hatten noch nahezu keine Bindungserfahrungen durchlebt. Sein Vater, der drei Kinder hatte, erlebte schrittweise einen vollständigen Kontrollverlust und reagierte hierauf mit Psychoterror, Regellosigkeit und einer „Willkürherrschaft“ (S. 28).
Sein Vater glitt in einen Alkoholismus hinein, Lob und Zuspruch gegenüber den Kindern und seiner Ehefrau war ihm fremd. Beim Essen gab es nur Schweigen und scheinbar gute Tischmanieren. Die Szenen, wie er, sechsjährig, seinen schwer betrunkenen Vater sonntags noch vor dem Mittagessen aus der Kneipe abholen musste, prägten sich ihm als sprachlose Scham ein. Es folgte die Arbeitslosigkeit. Der üble Ruf seines Vaters verbreitete sich in seinem Dorf. Michael Roth fühlte sich als ein Außenseiter, als „der Sohn des Alkoholikers, der sich in der Schule auch noch für etwas Besseres hielt.“ (S. 33) Sein einziger Zufluchtsort war seine Großmutter.
Das wohnortferne Gymnasium ermöglichte ihm eine „Flucht aus meinem Exil“ (S. 34). Schrittweise zog er bei seiner Großmutter ein, war weg vom Elternhaus. Als Arbeiterkind bot ihm das Gymnasium ungewohnte Lernmöglichkeiten. Sein Horizont weitet sich.
Die Abgeordnetenkarriere
Mit 17 Jahren schloss Michael Roth sich der SPD an, ihm eröffnen sich neue Kontakte, Erprobungsräume. Im Rückblick versteht er, vor allem dank seiner Therapie, dass auch dieser Schritt, neben dem Positiven und Entwicklungsförderndem, Anteile einer Flucht hatte: Er vermag nicht mit seinem gewalttätigen Vater zu streiten, zu kämpfen. Dieser ist nun weg – und doch bleibt dessen Schatten in ihm. Noch viele Jahre später, als er im Bundestag sitzt, sich anfangs inmitten der scheinbar eloquenten Anzugträger klein und inkompetent fühlt und sich dennoch weiter entwickelt, spürt er diesen unverarbeiteten Bruch. Und Roth hat sogar als Bundestagsabgeordneter gelegentlich Angst, in seiner Heimatgemeinde auf seinen Vater angesprochen zu werden.
Bei den von „linken Akademikerkindern“ (S. 41) geprägten Jusos fühlt der Linke Roth sich eher nicht wohl. Und vor allem nicht zugehörig. Bei einem Verständnis der sozialen Realität, der sozialen Nöte, benötigt er keine akademische Nachhilfe. Als arriviertem Abgeordneten, 20 Jahre später, imponiert ihm deshalb eher eine „mit einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsene“ Grüne wie Ricarda Lang (S. 51). Solche jungen Frauen hätten in ihrem Leben schon „sehr viel mehr erlebt als manch arrivierter Wirtschaftsanwalt aus gutem Hause“. (S. 51)
In großen Teilen seines Buches beschreibt Roth seinen parlamentarischen Alltag, die internen Auseinandersetzungen und Meinungsbildungsprozesse, sowie auch zahlreiche Begegnungen mit prominenten Politikern. Nicht alles davon wird beim Leser ausgeprägteres Interesse finden. Und doch vermag man die Mühen der Politik und der Entscheidungsfindungen nach der niemals langweiligen Lektüre besser wertzuschätzen. Am wohlsten fühlt er sich nicht in Bonn und danach in Berlin, sondern in seinem hessischen Wahlkreis. Dort erlangt er immer mit die besten Wahlergebnisse aller SPDler, steigt so langsam sogar zum Spitzenkandidaten der hessischen SPD auf – die Voraussetzung für seinen späteren, zunehmend einsamen Kampf für die Ukraine und für Israel. Eine seiner aus persönlichen politischen Begegnungen erwachsenen Beschreibungen sei erwähnt: Er beschreibt den ehemaligen Kanzler Schröder, der sich in seiner Anfangszeit als vorgeblich „wilder“ Juso, der am Kanzleizaun rüttelt, als eine „eindrucksvolle politische Kämpfernatur“ (S. 66), von dem man sehr viel zu lernen vermochte. Und der von Vielen innerhalb der SPD wegen seiner scheinbaren Forschheit und Vitalität auch bewundert wurde: „Aber wie er sich aufführte, wie er Leute in den Senkel stellte, das fand ich abstoßend. Ich erinnere mich, dass manche zitternd wie Espenlaub in die Sitzungen mit dem Kanzler gingen, weil sie wussten: Jetzt werden wir runtergeputzt.“ (S. 66) Mit solchen Machotypen habe er nichts anfangen können, so Roth, was überzeugend erscheint. Solche Personentypen hätten in seiner Anfangszeit als junger Politiker dominiert, auch innerhalb der SPD. Roths Beschreibungen und Urteile, erwachsen aus einer linienunabhängigen Position innerhalb seiner SPD, erscheinen mir im gesamten Buch als stimmig.
Auch seine Beschreibungen Lafontaines fallen, eher nicht überraschend, wenig schmeichelhaft aus. Eine seiner größten politischen Irrtümer sei es gewesen, Lafontaine früher besonders geschätzt zu haben. Lafontaines „besserwisserischen Tiraden“ (S. 84), gepaart mit brillanter Demagogie, brachten ihm Erfolge ein, aber auch, ganz am Ende, einen Bruch mit Willy Brandt. Lafontaine seien die Ostdeutschen, während der Wiedervereinigungsphase, schlicht fremd gewesen. Lafontaines grandioses Scheitern bei der Bundestagswahl im Dezember 1990 sei letztendlich ein Scheitern vor der Geschichte. Was nach Lafontaines zornigem Abschied von der SPD folgte, waren immer neue Demolierungsversuche an seiner neuen Partei, der PDS / Linken (vgl. Pascal Beucker in der taz, 2022 ).
Dies alles sei vor allem von dem Motiv der Rache geprägt gewesen, so Michael Roths Interpretation.
Der Tod des Vaters
In seinem zeitlich weitgehend chronologisch orientierten Werk arbeitet Roth den Tod seines Vaters Ende der 1990er Jahre ein. Eine Jahreszahl gibt er nicht an, Ausdruck seiner seelischen Distanz zu diesem. Dessen Sterben mit Mitte 50, da hatte er schon dem Alkohol abgeschworen, war grausam:
„Das erste und auch letzte richtige Gespräch führte ich mit ihm im Krankenhaus an seinem Sterbebett. Da lag er nun. Im Koma. Nicht ansprechbar. Nicht bei Bewusstsein. Ich habe ihm dennoch gesagt, was es zu sagen gab. Ich wollte versöhnt abschließen. Es gelang mir nicht. Sein endgültiges Verschwinden empfand ich zunächst als große Befreiung. Aber die war es am Ende natürlich nicht.“ (S. 99) Erst Roths psychischer Zusammenbruch 15 Jahre später und seine Psychotherapie ermöglichte es ihm, leidlich Frieden mit seiner Kindheit zu schließen.
Auch diese öffentlichen Erinnerungen Roths an seinen brutalen Vater sind ein Schritt seines beeindruckenden Trauerprozesses.
Staatsminister und Kontakte nach Osteuropa
Detailgenau und persönlich erinnert sich Roth an seine Tätigkeit als Staatsminister für Europa von 2013 – 2021 sowie sein öffentliches, solidarisches Engagement mit LGBTI-AktivistInnen. Seine Reisen nach Osteuropa öffneten ihm die Augen für den unbändigen Freiheitswillen in zahlreichen mittel- und osteuropäischen Staaten. Roth bewundert den Mut und die Leidenschaft von „einfachen“ Bürgern, die endlich in der Demokratie leben wollen, unabhängig vom Despoten Putin. Er beschreibt aus intimer Nähe, wie sich auch in seiner Partei Schröders „russlandpolitische Linie“ (S. 140) mehrheitlich durchsetzte. Begegnungen mit Irina Scherbakowa und ihrer Organisation Memorial öffneten ihm die Augen dafür, „wie Putin systematisch die Geschichte der Sowjetunion umschreiben ließ“; sie prägten sein Bild „vom neuen Terrorstaat Russland nachhaltig“ (S. 142). Nun trat Michael Roth auch regelmäßig in Talkshows auf, insbesondere zur Ukraine.
Michael Roths Entfremdung von solchem befremdlichen Verstehen von imperialen Gelüsten begann schon 2013 – und doch blieb er in seiner Funktion als Staatsminister der Kanzlerin und dem Außenminister verpflichtet. Innerhalb der SPD, aber auch in Teilen der CDU, wurde jeder Gedanke an eine Neuorientierung der Ostpolitik schlicht als „Majestätsbeleidigung“ aufgefasst (S. 153). Die Intrigen und „bösartigen Kampagnen“ (S. 174), die innerhalb seiner Partei gegen Personen wie ihn selbst gefahren wurden, widerten ihn an. Zunehmend wurde ihm bewusst, dass ihm schlicht „die nötige Abgebrühtheit bzw. der Wille zur Macht“ (S. 178) fehlte, um sich auf Dauer im zynischen Raubtierkäfig der Spitzenpolitiker zu behaupten. Seine frühkindlichen Ängste brachen immer öfter in ihm durch. Seelisch zu verstehen vermochte er diese noch nicht.
Roth nahm sich immer wieder mehrwöchige Auszeiten. Diese vermochten seine innerseelischen Konflikte und Ängste jedoch letztlich nicht aufzulösen. Ende 2021 weihte er sein engstes Umfeld über seine seelische Erkrankung ein. Als in einer Talkshow bei Lanz, an der er sich beteiligte, furchtbarste Szenen aus Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine eingeblendet wurden, rang er um Worte und um seine innere Verfassung: „Für die Unterstützung des Freiheitskampfes der Ukraine mobilisierte ich meine allerletzten Kräfte“ (S. 183), konstatiert er lakonisch im Rückblick. Auch im Präsidium der SPD, dem er seit 2021 angehörte, fand Roth nahezu keine Unterstützung.
Mützenichs zynisches Agieren: „Damit hatte ich nicht gerechnet“
Mitstreiter fand er vor allem in Anton Hofreiter (Grüne) und Agnes Strack-Zimmermann (FDP), wobei er hierbei dennoch auf seine innerparteiische Loyalitäten achtete. Eine gemeinsame Reise mit diesen in die Ukraine, im April 2022 versuchte insbesondere das Umfeld um Mützenich zu verhindern.
Das Entsetzen über das kaltblütige, brutale, putinzugeneigte Agieren Mützenichs gegen ihn durchziehen das gesamte Buch. „Damit hatte ich nicht gerechnet“ (S. 201). Auch ich selbst war immer wieder erschüttert, als ich Mützenichs Agieren gegen die Ukraine wie auch gegen Israelerlebte; 20 Jahre zuvor als Kölner hatte ich ihn noch respektiert und für seriös gehalten hatte.
Nach der Ukraine-Reise und Mützenichs fortdauerndem intrigantem Agieren fiel Roth in ein tiefes Loch. Nun wurde über ihn gestreut, er sei ein „illoyaler Nestbeschmutzer“ (S. 203). Wenig später hörte Mützenich auf, ihn auf den Fluren des Bundestages zu grüßen: „Er grüßte ansonsten wirklich jeden – ganz gleich, ob Abgeordneter, Praktikant oder Reinigungskraft. Ich war nur noch Luft für ihn.“ (S. 211)
In den Jahren zuvor sei diese Entwicklung für ihn nicht erahnbar gewesen. 2002, bei ihrer ersten Begegnung, hatte Mützenich Roth noch von einer entfernten Cousine als Köln grüßen lassen.
Im Juni 2022 erwog Michael Roth, mit Unterstützung seiner Therapeutin, sich für eine längere Zeit aus dem Politikbetrieb zurück zu ziehen, um zu genesen. Roth ließ zu, dass der Spiegel im Juni 2022 eine längere Geschichte über Roths seelische Erkrankung brachte – im harten hohen Politbetrieb noch immer eine absolute Ausnahme. Die Angriffe gegen ihn, den Freund der Ukraine und Israels, innerhalb seiner SPD ließen nicht nach. Nun wollte „man“ Roth endgültig innerparteiisch ausschalten.
Das Buch zeichnet aus, dass Roth auch diese schwierige Lebensphase, auch seine Gespräche mit seiner Therapeutin, im Detail nachzeichnet. Das Portrait auch dieser letzten schwierigen Jahre – Roth überschreibt dieses Kapitel mit „Die letzte Runde“ (S. 230-267) – ist eindrücklich und gelungen.
Mützenichs fortgesetztes Agieren, seine herablassende Kritik insbesondere an ausgewiesene Ukraine-Experten wie Claudia Major, Constanze Stelzenmüller, Nicole Deitelhoff und Carlo Masala, – die eindeutig über eine beeindruckendere analytische Kompetenz als Mützenich verfügen – , wirkte bizarr und unterirdisch. Der Putinversteher Mützenich warf diesen Experten in einer Bundestagsrede sogar vor, nur deshalb in Talkshows zu gehen, um ihre Bücher besser zu verkaufen. Mützenich näherte sich, so mein Eindruck, außenpolitisch immer weiter dem AfD- und Wagenknecht- Niveau an. Nun schlug er in schon größenwahnsinniger Weise vor, Putins Angriffskrieg einfach „einzufrieren“…
Als Mützenich als Folge hiervon im Februar 2025 seinen angestammten Kölner Wahlkreis an die Grüne Katharina Dröge verlor, war dies für Viele in Köln eine große Erleichterung.
„Zeit meines politischen Lebens war ich ein völlig unauffälliger Freund Israels“
Lesenswert ist auch Roths überzeugende Beschreibung seiner Beziehung zu Israel und zum jüdischen Schicksal (S. 234-259). Die antisemitische Welle, die gegen Israel und Juden nach dem über Jahre von der Terrororganisation Hamas geplanten Pogrom vom 7.10.2023 losbrach, erschütterte Roth: „Ich war erschüttert, dass sich auch Menschen, die ich bislang geschätzt hatte, mit dem Terror solidarisierten und ihn als legitimes Mittel im Streben nach palästinensischer Selbstbestimmung umdeuteten“ (S. 238). Nun wurde Roth gar das Etikett des „prozionistischen Politikers (S. 241) angeheftet. Roth erinnert sich einer frühen Reise nach Auschwitz sowie seines ersten Israelbesuches in Israel als Teil einer politischen Delegation im Jahr 1999. Erst danach wurde ihm wirklich bewusst, in welchem Umfang durch die Shaoh das jüdische Leben in Deutschland ausgelöscht war und ist. Auch dieses sehr reflektierte Buchkapitel ist durchweg lesenswert. Die Angriffe gegen seine israelsolidarische Grundhaltung nach dem Hamas-Pogrom nahmen in den sozialen Medien nun noch zu: „Im Zweifel für Israel – das war dann einigen doch zu viel.“ (S. 253) Als er nach dem Pogrom eine Israelreise beantragte, wurde ihm sogar diese von der SPD-Fraktionsführung untersagt. Sein Besuch in Israel „läge zu diesem Zeitpunkt nicht im Interesse der SPD-Fraktion“ (S. 258) wurde ihm abschlägig beschieden. Auch eine Reise in die Ukraine versuchte man ihm, dem erfahrenen Bundestagsabgeordneten, zu untersagen:
„Erneut hatten mir Rolf Mützenich und andere einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es spricht Bände, dass mich meine Fraktion an Reisen in diese beiden Länder hindern wollte.“ (S. 259) Während er die innerparteilichen Widerstand gegen seine Ukraine-Position noch rational nachzuvollziehen vermochte, so „traf mich die Blockade bei meinem Herzensthema umso härter – damit hatte ich am wenigsten gerechnet.“ (S. 259)
Im Dezember 2023 kandidierte Roth doch noch einmal auf dem SPD-Bundesparteitag für den Bundesvorstand. Mützenich setzte seine entschlossene Kampagne gegen alle Unterstützer der Ukraine fort. Roth verfehlte den Einzug in den Bundesvorstand seiner Partei im ersten Wahlgang deutlich – und einige Delegierte brachen spontan in Jubel aus.
Im Nachhinein spürte Roth dennoch ein Gefühl der Erleichterung. Er würde mit 55 Jahren nicht wieder für den Bundestag kandidieren: „Ich war mit mir im Reinen und spürte, was ich mehr brauchte als jemals zuvor: Freiheit.“ (S. 266) Er brauchte kein Mandat mehr, um sich dennoch politisch einzumischen. Und seine Gesundheit war ihm wichtiger als Auseinandersetzungen mit Figuren wie Mützenich oder Wagenknecht. „Ja, ich wollte aufgeben – aber nur meinen Job und nicht mich selbst“, beschließt er dieses Kapitel (S. 267).
In dem das Buch abschließendem Kapitel „Epilog: Reise ins Ungewisse“ beschreibt er seine letzte Reise in die Ukraine als Abgeordneter: In der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 2025 – zeitgleich fand die Bundestagswahl statt – fuhr er mit der Eisenbahn noch einmal in die Ukraine. Mit dieser Reise wollte Roth sich zugleich von der Ukraine verabschieden – in seiner Rolle als Abgeordneter. Er und Kollegen trafen auch auf Selenskyi. Dieser sei ein Mensch geblieben, selbst während Putins brutalem und anlasslosem Vernichtungskrieg, „kein blutarmer Technokrat, kein seelenloser Krieger.“ (S. 288)
Was seine Zukunft nun, jenseits der Berufspolitik, mit sich bringe wisse er nicht. „Ich habe manchmal noch Angst. Aber ich bin auf einem guten Weg“ (S. 293), beschließt Michael Roth sein abgrundtief ehrliches Buch.
Eine unbedingte Leseempfehlung.
Michael Roth: Zonen der Angst. Über Leben und Leidenschaft in der Politik, C. H. Beck, 302 S., 26 Euro
Literatur
Kaufhold, R. (2000): Haland-Wirth, Trin; Spangenberg, Norbert; Wirth, Hans-Jürgen (Hrsg.= Unbequem und engagiert. Horst-Eberhart Richter zum 75. Geburtstag, in: Psyche H. 7, Juli 2000, 54. Jg., S. 694-697.
Kaufhold, R. (2012): Ein unermüdlicher Mahner und Menschenfreund. Zum Tode von Horst-Eberhard Richter, Kinderanalyse 20 (2), 2012, S. 136-142. Wiederveröffentlicht auf haGalil https://www.hagalil.com/2012/01/richter/
Kaufhold, R. & G. Hristeva (2021): »Das Leben ist aus. Abrechnung halten!« Eine Erinnerung an vertriebene Psychoanalytiker unter besonderer Berücksichtigung von Wilhelm Reichs epochemachenden Faschismus-Analysen. In: Psychoanalyse im Widerspruch, H. 66/2021 (Gießen: Psychosozial Verlag), S. 7 – 66. https://psychosozial-verlag.de/programm/1000/8357-detail
Wirth, Hans-Jürgen (2012): Psychotherapeut der Nation. Zum Tod von Horst-Eberhard Richter, psychosozial 35 Jg. (2012), Heft I (Nr. 127), S. 7-15. Wiederveröffentlicht auf haGalil https://www.hagalil.com/2012/01/richter/
