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Unverbrauchte Popkultur beim 15. Juicy Beats Festival

Explosiv: Jen Bender, Frontfrau Großstadtgeflüster

Die Ruhe während der Schweigeminuten vor der Hauptbühne beim juicy beats-Festival war tiefempfunden, aber nicht bedrückend. Zuvor hatte der Dortmunder Pfarrer Friedrich Laker eine Kerze für die Opfer des Unglücks auf der Loveparade entzündet. „Das Leben und die Liebe bleiben- lasst uns wieder fröhlich sein“ fügte er danach an, um eine halbwegs würdige Überleitung in die Zeit nach der Trauer zu finden.

Das große Musikfest unter Dortmunds Floriansturm markiert das schlichte Gegenteil eines klaustrophobischen Massenevents. Am Samstag waren circa 25000 Menschen über das Areal locker verteilt. Und vielleicht war es auch die Nachwirkung der aktuellen Ereignisse, die hier alles noch friedlicher zugehen ließ bei der 15. Festival-Ausgabe.
Die Organisation des Ablaufs, aber auch die konzeptionelle Vernetzung lokaler Dortmunder Kulturschaffender wiederspiegeln beim juicybeats-Festival-Bestehens das gemeinsame An-einem-Strang-Ziehen lokaler Kräfte und damit verbunden ein hohes Maß an Unabhängigkeit von kommerzieller Fremdbestimmung und hysterischem Kulturhauptstadt-Theater. Städtische Institutionen wie FZW, Jazzclub domicil, Konzerthaus Dortmund, aber auch viele Clubs und Initiativen sind mit im Boot. Das bereitet auf der grünen Wiese unterm Floriansturm der bunten Vielfalt niveauvoller Popkultur einen überaus fruchtbaren Nährboden.

Viele Neuentdeckungen und intensive Momente also auch beim 15. Festival: An die Loveparade-Gedenkminuten hätte wohl kaum eine Band stimmiger anschließen können als Tocotronic mit ihrem empfindsamen, auf sehr menschliche Weise nachdenklichen Indierock – „Lanzen für den Widerstand“ gegen bestehende Missstände inbegriffen… Aktuell appelliert Sänger Dirk von Lowtzow zum aktiven Protest gegen eine angekündigte Demonstration von Rechtsradikalen am 4. September in Dortmund.

Vollbusig: Aphex Twin, zitiert von der Soulwax-Crew

Der freche,unverbrauchte Pop, den viele junge Bands bieten, zeugt von Authentizität, bereichert mit fühlbarer Substanz. Bis zum Bersten energiegeladen und tänzerisch ausgefeilt kommt etwa der Auftritt der jungen Band „Großstadtgeflüster“ daher – sexy, frech und humorvoll sind Songs und Bühnenpräsenz der Berliner.

Gegen so etwas verbreiten die französischen „Nouvelle Vague“ schon fast so etwas wie gepflegte Langeweile. Haben die Franzosen einst charmant-chillige Bossa-Nova-Arrangements von Klassikern des New Wave produziert, so geht es jetzt deutlich stromlinienförmiger zur Sache.

Derweil kocht die Stimmung vor der Hauptbühne schon wieder. Two Many DJs zelebrieren ihr ganz eigenes Multimedia-Retro-Entertainment: Auf Grundlage wummernder Elektrobeats schnipseln die Belgier endlose Zitate aus der alternativen Popkultur zusammen und bombardieren ihre Crowd mit verqueren Animationen der jeweiligen Plattencover. Von Joy Division bis hin zur computeranimierten Vollbusigkeit des Richard D James aka Aphex Twin sorgt dieses Spektrum pausenlos für großes Hallo! Das schließt so manche Kreise zwischen dem Dekonstruktionsfimmel der 90erJahre – Postmoderne und andererseits der zeitgenössischen Youtube-Kurzclip-Kultur.

Auch in nächtlicher Finsternis lassen sich friedliche junge Menschen durch Wald und Auen treiben. Und dringen gehäuft zu den etwas verschwiegenen Standorten für die elektronische Clubkultur vor. Deren Überleben stellen so ambitionierte Initiativen wie etwa Beatplantation sicher – und auch der Essener Club Hotel Shanghai gehört zu den allerersten Adressen in Sachen House und anderes. Und von deren Betreibern wird auf juicybeats der Seepavillion bespielt. Der bietet perfekte Zuflucht in Sachen makellosem Techhouse und hypnotischen Visuals.

Derweil Klaus Fiehe den Drum and Bass Floor zu rocken weiß. In Rauchwolken gehüllt leistet der seit den späten Neunzigern unermüdliche „Mister Raum und Zeit“ sein redliches Handwerk beim Plattenauflegen in Sachen gebrochener Beats. Der älteste Radio-DJ von Einslive sorgt nach wie vor für die fortschrittlichsten Klänge auf dem Sender. Leider streikt die Technik phasenweise. Das lässt auch einen gestandenen Profi wie Fiehe in Nervosität und Verlegenheit geraten. Aber das Publikum hält ihm auch in einigen bangen, verstärker-losen Minuten die Treue. Ein einzelner Idiot, der ein Feuerzeug in Richtung von Fiehe und DJ-Bühne wirft, bleibt in Dortmund einsame Ausnahme.

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matthes
matthes
13 Jahre zuvor

Über Geschmack lässt sich streiten – ich fand mich von Nouvelle Vague bestens unterhalten und konnte mit Großstadtgeflüster, von den zwei Hits abgesehen, das gewisse Nichts anfangen; der Versuch einer Ballade ging ja fast schon in Richtung Rosenstolz… In diesem Genre haben dann doch eher die drei Audiolith-Combos trotz früher Stunde und teilweise übernächtigter Protagonisten 😉 gezeigt, wo der Hammer hängt.
In dein Loblied über das Festival als Ganzes kann ich aber ohne Einschränkung einstimmen. Dass die Fülle des Programms teilweise zur Qual der Wahl führte – Die Sterne und Freakatronic hätte ich schon gerne gesehen – war schade, ist aber eher ein Luxusproblem. Unterm Strich war es einfach ein schöner Tag!

Fritz Wepper
Fritz Wepper
13 Jahre zuvor

Sorry, aber ich kann diese Begeisterung nicht teilen.

Sprecht mal mit den DJs und Künstlern. Organisatorisch ist Juicy Beats traditionell ein absolutes Chaos. Einige konnten noch nicht einmal auftreten. Da bekommen die meisten Besucher allerdings nichts von mit. VJs, weil keine Bühnentechniker für den Aufbau zur Verfügung standen, MCs, weil sie angeblich zu laut gewesen wären.
Überhaupt ist das Lautstärke-Thema so eine Sache. Fragt mal Klaus Fiehe. Und alle, die auf dem Floor nach ihm versucht haben, zu spielen. Oder gar diejenigen, die nicht direkt am DJ-Pult gestanden haben und versucht haben, etwas zu hören.

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[…] Unverbrauchte Popkultur beim 15. Juicy Beats Festival (Ruhrbarone) […]

BioBlubb
BioBlubb
13 Jahre zuvor

Auch ich kann die Meinung des Autors nur bedingt teilen. Ja, die Bands mittags waren super, die Stimmung war sehr entspannt, die Organisation schien (als Besucher) sehr gut. Dennoch gab es für mich zwei Wermutstropfen:

– Nach den Bands waren viele kleine Stages (z.B. Ananas, Turmterasse) wegen Überfüllung geschlossen. Es ist sicherlich verständlich, dass gerade in diesem Jahr sehr auf die Einhaltung der Vorschriften geachtet wurde. Jedoch bedeutet dies doch wohl, dass mehr Karten verkauft wurden, als Leute auf die kleinen Floors passten. Vielleicht sollte man die „Ab 22:00 Uhr 10 € Eintritt“-Sache mal überdenken.

– Wie kann es denn bitte sein, dass bei einem nicht wirklich zentral gelegenen Musikfestival mit über 20.000 Besuchern, welches offiziell bis spät in die Nacht geht, ab ein Uhr keine Bahnen zum Hbf mehr fahren?! Oder wenigstens Shuttlebusse statt der regulären Nachtexpresse?

Ein weiterer Punkt, für den aber die Veranstalter nix können, waren die vereinzelten Vollidioten, die meinten, beim kleinsten Gedränge Loveparade-Vergleiche oder gar -witze machen zu müssen…

Ansonsten war es allerdings ein wirklich gelungener Tag.

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