Verschleierung als Statthalterin für Vielfalt

Lale Akgün Foto: VVG-Köln Lizenz: Copyright

Ein Vortrag von Lale Akgün zum World Hijab Day

Das Kopftuch ist in unserem Land seit Jahrzehnten ein unerschöpfliches Thema. Und wie viele Bedeutungen ihm zugesprochen werden! Inzwischen hat es eine solche Aufladung bekommen, dass es an positiver Symbolkraft gar nicht überschätzt werden kann.

Ist es für die In-Group der Kopftuchtragenden (wobei diese Bezeichnung insofern falsch ist, da in dieser In-Group auch Männer gibt, die zwar keine Kopftücher tragen, zum Teil aber leidenschaftlichere Kopftuchbefürworter sind als die betroffenen Frauen) – ist es also für die Kopftuchbefürworter und -befürworterinnen ein Symbol der Reinheit, der Keuschheit und der tiefen Gläubigkeit der Frau, wird es für einen bestimmten Teil der Mehrheitsgesellschaft zum Zeichen der Vielfalt. Das Kopftuch als stoffgewordene Diversity sozusagen.

Ein altes neues Rollenbild

Die Frau an sich ist ja schon Vertreterin einer Minderheit, als Migrantin wird ihr diese Rolle noch viel mehr zugesprochen, und als verschleierte Migrantin steigt sie in die äolischen Sphären der Diversity.

Sie wird quasi zu einer heiligen Figur, und an diesem Punkt treffen sich merkwürdigerweise die Definitionen der In-Group und der Mehrheitsgesellschaft. Eine verschleierte Frau ist beschützenswert, rein und unantastbar, im wahrsten Sinne des Wortes. Und sie muss protegiert werden, damit sie sich und die Gesellschaft entfalten kann.

Denn inzwischen ist das Kopftuch auch mit gesellschaftlicher Öffnung aufgeladen:
Kein offizielles Foto und kein Plakat, das die Buntheit unserer Gesellschaft darstellen soll, kommen ohne eine lächelnde Kopftuchträgerin aus.
Keine Partei ohne Kopftuchträgerinnen – natürlich nicht zu hoch in der Hierarchie angesiedelt. Schließlich sollen sie ja die Vielfalt repräsentieren, nicht entscheiden.

Und keine Veranstaltung, bei der nicht Kopftuchträgerinnen als die neuen Eliten in den Himmel gehoben werden und man kritiklos ihren Ausführungen lauscht.
Treffe ich bei einer Diskussion auf eine dieser, zumeist jungen Frauen, muss ich mir den Vorwurf anhören, die Zeiten hätten sich geändert und ich wäre leider eine Ewig-Gestrige. Das Kopftuchtragen, das ich als anti-feministisch anprangern wolle, sei astreiner intersektionaler Feminismus.

Das Kopftuch auch noch das Symbol des intersektionalen Feminismus? Donnerwetter! Ich muss diese wundersame Entwicklung wirklich verschlafen haben.

Umdeutung als Selbstbetrug

Die Verschleierung der Frau, mit oft zwei übereinanderliegenden Kopftüchern, mehreren Lagen Stoff, mit langen Ärmeln und langem Rock hat inzwischen eine ganz andere Bedeutung bekommen. Die verschleierten Frauen sind inzwischen Ikonen der Vielfalt, der Emanzipation und des intersektionalen Feminismus geworden.

(ich werde jetzt nicht fragen, was mit den Männern an ihrer Seite ist, die – je nach Jahreszeit und gesellschaftlicher Gelegenheit im Maßanzug, in Shorts und T-Shirt oder Badehosen herumlaufen? Warum tragen sie bitte nichts zur Diversity dieser Gesellschaft bei? Warum sind sie geradezu unsichtbar und völlig unbrauchbar als Objekte der Vielfalt?)

Natürlich juckt es mich als Psychologin, diese Metamorphose zu analysieren. Wie konnte die Bedeckung der Frau zur Statthalterin der Vielfalt werden? Nun, als gelernte Systemtherapeutin würde ich diesen Vorgang als Umdeutung oder Reframing bezeichnen.

Ohne zu sehr auf diese therapeutische Technik einzugehen: bei der Umdeutung wird einer Tatsache oder einem Geschehen eine andere Bedeutung zugewiesen, damit andere, im alltäglichen Rahmen nicht sichtbare Zusammenhänge zum Vorschein kommen.

Damit die werte Leserschaft diesen Vorgang versteht, hier ein Beispiel aus der Familientherapie: ein Kind begeht einen Ladendiebstahl. Die Psychologen erklären der Familie, dass das Kind sie nicht ärgern will, sondern sie von ihren anderen Sorgen ablenken möchte. Das Kind tut also etwas Gutes für die Familie. In diesem Fall handelt es sich um Bedeutungsreframing.

So ähnlich läuft es im Fall der Verschleierung auch. Auch sie bekommt ein Bedeutungsreframing verpasst und ist damit nun kein Herrschaftsinstrument der Männer oder kein rein religiöses Symbol mehr, sondern ein Zeichen der Vielfalt und der Emanzipation.

Ja mehr noch: die Verschleierung bereichert nicht nur die Trägerin, sondern die gesamte Gesellschaft. Oder wenigstens die, die daran glauben wollen, dass sie davon bereichert werden. Watzlawick lässt grüßen.

Ein Keuschheitssymbol als Ausweis von Toleranz

Ich frage mich: kann eine Intervention, die bei einer Therapie bewusst als Provokation eingesetzt wird, um die üblichen Denkpfade zu verlassen, 1: 1 auf ein Thema wie Verschleierung übertragen werden?

Wie man sieht, geht das anscheinend problemlos. Es hat Erfolg. Wenn man diese Behauptung – Schleier als Emanzipation und Bereicherung und so weiter und so fort – oft genug wiederholt, glauben es am Ende alle. Und im Gegensatz zur Therapie, wo Umdeutung zur Aufrüttlung dient, wird sie beim Thema Verschleierung auf einmal als Tatsache akzeptiert! Aber – warum?

Vielleicht sollte man auch mal darüber reden, wem dieses Reframing eigentlich dient? Die Gretchenfrage lautet: wer fühlt sich eigentlich emanzipiert und bereichert durch die Verschleierung? Die Verschleierten? Oder Teile der Gesellschaft, die sich mit ihrer paradoxen Intervention ihrer Toleranz und Güte versichern?

Wie lange will man jungen Frauen, die die Ungleichheit von Männern und Frauen miterleben dürfen, wobei sie die Ungleicheren sind, ihre Situation als Bereicherung für sie und die Gesellschaft verkaufen?

Es ist an der Zeit, dass die Verantwortlichen in Politik, Gesellschaft und Medien mal die Augen öffnen für die Wirklichkeit der verschleierten Frauen.

Von welcher Emanzipation reden wir?

In unserem Land gibt es persönliche Freiheiten, dazu zählt die Freiheit, sich so zu kleiden, wie man will. Niemand wird gezwungen, sich an- oder auszuziehen. In der Frage der Kleidung gibt es keine Vorschriften, nur die Grenzen des guten Geschmacks, die aber auch nicht von allen eingehalten werden. Und auch nicht eingehalten werden müssen.

Was ich erwarte, ist Ehrlichkeit im Umgang mit dem Körper der Frau und mit der Verschleierung. Keine hanebüchenen Umdeutungen, keine romantisierenden Phrasen. Ich erwarte diese Ehrlichkeit von allen: von Frauen mit und ohne Kopftuch, von Männern und von Seiten der gutmeinenden Mehrheitsgesellschaft. Ich erwarte diese Ehrlichkeit von der Mehrheitsgesellschaft auch dann, wenn Eltern ihre kleinen Töchter verschleiern und verschleierte Grundschülerinnen nicht mehr neben Grundschülern sitzen wollen. Die Parteilichen für die Kopftuch-Emanzipation sollen mir dann bitte erklären, von welcher Emanzipation wir reden und wer bereichert wird.

Und eines möchte ich den Verteidigern und Verteidigerinnen der Verschleierung noch mitgeben: Es sollte ihnen klar sein, dass sie mit ihrer Verherrlichung des Schleiers den weiblichen Körper genauso zum Objekt und zur Projektionsfläche erklären wir die Islamisten.

Lale Akgün hielt ihren Vortrag auf einer Veranstaltung von Frauen für Freiheit am 27. Januar 2022

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Berthold Grabe
Berthold Grabe
2 Jahre zuvor

Das Kopftuch wird von manchen Frauen als Selbstbestimmungsmerkmal getragen, in Verruf ist es gekommen, weil es wieder modern wurde in Form politische reaktionärer Provokation!
Nach wie vor wird das Kopftuch immer noch häufig erzwungen, bzw. der Verzicht auf das Tragen nicht toleriert.
Deshalb eignet sich das Thema überhaupt nicht als Emanzipationsthema, weil es als Solches ebenso häufig diskriminiert wie befreit.
Hinzu kommt das Demokratie auf offenem Visier beruht. Anonymität ist mit den Konzepten der westlichen Gesellschaft unvereinbar.
Das spricht nicht gegen Kopftücher, aber gegen Vollverschleierungen.
Es kommt in diesem Kontext einer Selbstabwertung gleich.

DEWFan
DEWFan
2 Jahre zuvor

Genau. Und deswegen hinken auch Vergleiche wie "meine Oma hat auch Kopftuch getragen", das Kopftuch von Grace Kelly beim Cabrio-fahren oder das Kopftuch eines Piraten. Denn diese Kopftücher konnten und können jederzeit abgenommen werden und dienten bzw. dienen nicht dem Zweck die kleinste Haarsträhne zu verstecken.

In der muslimischen Welt gibt es auch ein loser getragenes Kopftuch welches den Pony frei lässt, bei uns im Westen dagegen dominiert die strengere Form mit zwei oder mehreren Tüchern durch die nicht mal die kleinste Locke zu sehen ist.

Manni
Manni
2 Jahre zuvor

"Die Frau an sich ist ja schon Vertreterin einer Minderheit"

Als Meinung darf man ja jeden beliebigen Käse veröffentlichen, und trotzdem bleibt es dabei: Frauen stellen in unserem Land die Mehrheit.

Manni
Manni
2 Jahre zuvor

Letztlich versöhnt die Autorin mich doch noch mit ihrem Plädoyer für die Werte unseren freiheitlichen Gesellschaft: "In unserem Land gibt es persönliche Freiheiten, dazu zählt die Freiheit, sich so zu kleiden, wie man will […] nur die Grenzen des guten Geschmacks, die aber auch nicht von allen eingehalten werden."

Eine Kleinigkeit wird bei der 'Kopftuchdiskussion' (allein der Begriff ist schon unsäglich verharmlosend) vorsätzlich unterschlagen. Es geht nämlich nicht um eine beliebige, vielfältige Kopfbedeckung, sondern um eines der wesentlichen Parteiabzeichen der Islamisten.
Und bei uns sind, aus gutem Grund, extremistische Parteiabzeichen von Rechts und Links und auch die Ok-kutten verboten.
Nicht verboten sind (bisher) uniformähnliche Kleidungsstücke wie Nikab oder Hijab. Wenn ich mir allerdings die Reaktionen auf einen Lehrer vorstelle, der in SS-Uniform vor dir Klasse tritt, (wie gesagt: ohne Abzeichen frei verkäuflich) dann verdienen Tschekisten, Bandidos oder Nikabträgerinnen die gleiche Reaktion: strikte Ablehnung.

Walter Stach
Walter Stach
2 Jahre zuvor

"Anonymität ist mit der westlichen Gesellschaft unvereinbar" , sagt Berthold Grabe.

Ein Plädoyer gegen die tagtäglich millionenfach praktizierte Anonymität in den a-sozialen Netzwerken?
Dem würde ich mich "vollumfänglich" anschließen.

Zum Kopftuch……
"Wir " haben hier bei den Ruhrbaronen darüber gefühlt schon hundertmal diskutiert. Erkenntnisgewinn gleich Null. Daran ändern auch der einleitende Kommentar und die bisherigen Beiträge im Blog nichts, weil es nichts Neues zu berichten, zu kommentieren gibt.

Ich habe allerdings heute zum ersten Male zur Kenntnis genommen, daß es den World Hijab Day mittlerweile weltweit in über 14o Ländern gibt. Ein Fakt, der jedoch an meiner Meinung zum "Tuch auf dem Kopf von Menschen" nichts ändert. Jede(r) soll, wie sie, wie er will. Das gilt für Frauen wie für Männer.

Berthold Grabe
Berthold Grabe
2 Jahre zuvor

@Walter Stach,

ich stimmen Ihnen im Prinzip zu, aber da es heutzutage wieder möglich ist, wegen seiner Gesinnung seinen Job zu verlieren durch Denunziation und Mobbing, habe ich Verständnis für den Bedarf an Anonymität.
Zur westlichen Gesellschaft gehört eben Beides, das offenen Visier und die Voraussetzung dafür.
Strafbare Äußerungen sind durch die Gerichte zu ahnden und nicht durch den moralisierenden Mob interessegeleiteter Organisationen.
Auch das jeder tragen soll was er will, ist im Prinzip richtig, aber man muss sich dann auch mit Ablehnung abfinden, die in diesem Falle nicht per se eine Diskriminierung ist, sondern auch eine Abwehr radikaler Symbole, solange keine rechtswidrigen Konsequenzen gezogen werden.
Was sich die AfD gefallen lassen muss, müssen sich auch Muslime gefallen lassen.
In beiden Fällen muss der gleiche Maßstab angewendet werden, orientiert der sich an das radikale Ende, muss das für alle gleich gelten.

Walter Stach
Walter Stach
2 Jahre zuvor

-7-
In diesem Zusammenhang verdient die neueste Entscheidung des BVerfG höchste Beachtung, der aufgrund einer Verfassungsbeschwerde von Renate Künast ergangen ist. Danach gibt es für die anonymen Aktivisten im Netz nicht mehr die Gewähr, daß ihre persönlichen Daten "bedingungslos", also in jedem Fall dem Zugriff Dritter entzogen sind -Verfassungschutz, der Polizei, der Staatsanwaltschaft, und……..?

Leider konnte ich mich bisher nicht mit der gesamte Begründung seitens des BVerfG befassen, so daß ich zum Inhalt der Entscheidungsbegründung -noch- keine Meinung äußern kann.

Da die Entscheidung des BVerfG auch für anonyme Blogger hier bei den Ruhrbaronen gilt, wenn diese sie z.B. gegen eine Person hetzen oder Hassparolen verbreiten, wäre es interessant, wenn
z.B. ein Verfassungsjurist (oder Strafrechtler oder…) dazu hier seinen Standpunkt vortragen würde.

Stefan Laurin,
kann ich darauf hoffen, daß "die Ruhrbarone" dieserhalb "am Ball bleiben"?

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