VON DER FURCHT, UNSCHULDIG ZU SEIN

schauspiel_dortmundAm Schauspiel Dortmund feiert  kommenden Freitag (12. April 2013) das Stück „MIGHTYSOCIETY – Die Restposten“ des Niederländers Eric de Vroedt seine Deutschsprachige Erstaufführung. Bei der Studio-Aufführung führt der Autor selbst Regie. Das Stück handelt von einer Heimsuchung: Die EU-Abgeordnete Henriette und der Unternehmer Raimund sind ein Paar mit gemeinsamem Haus (es könnte eines der neuen Häuser am Nordhang des Dortmunder Phoenix-Sees sein). Eines Abends sitzt plötzlich ein jüngeres Paar, das sie nie zuvor gesehen haben, in ihrem Wohnzimmer. Henriette und Raimund  wissen weder, wie die beiden hinein gekommen sind, noch, was sie wollen. Das jüngere Paar behauptet, aus Dortmund Wambel zu sein. Die zwei sind gekommen, um zu bleiben – nur warum? Stück für Stück kommen unangenehme  Wahrheiten ans Licht. Ricks Arbeitsplatz in Raimunds Kühlschrank-Imperium „Coolworks AG“ ist in Gefahr, weil Stellen auf die Philippinen ausgelagert werden. Und anscheinend wissen Rick und Steffie etwas über Raimunds  dunkle Machenschaften mit Müllverbrennungsanlagen. Und dann gibt’s da noch Bastian, ein junger Internet-Journalist und Sohn von Henriette, der für einen Dokumentarfilm über Raimund jedes Detail der immer schärfer werdenden Auseinandersetzung mitfilmt. Eric de Vroedts Stück ist ein Polit-Thriller mit Komödienelementen. Für Ruhrbarone hat Alexander Kerlin, Dramaturg der Theaterproduktion, zwei Tage  vor der Premiere noch einmal über das Stück nachgedacht.  

Plötzlich – Sie haben es nicht kommen sehen, Sie wissen nicht warum – stehen da 2 in Ihrem Flur oder Ihrer Küche. Vielleicht bitten diese 2 um etwas (ausgesprochen höflich), um eine unbedeutende Kleinigkeit, nur wenig mehr als Nichts: ein paar Eier, ein kleiner Gefallen, der Sie annähernd keine Mühe kosten wird; oder die 2 bitten um einen Blick in einen mitgebrachten Lebenslauf, um einen „kurzen Ratschlag, karrieretechnisch“. Dann wären sie schon zufrieden und würden auch sicher wieder gehen. Bitte keine Umstände.

Aus Ungeschick fallen die Eier zu Boden. Lachendes Einverständnis über die Tücken der Schwerkraft. Stille. Die Körper der 2 im Flur sind nur eine Winzigkeit zu wenig in Richtung Haustür orientiert. Die Körper sollten – das ist doch eigentlich Benimm-Grundschule – mit subtilen Gesten die Bereitschaft anzeigen, Ihren Privatraum bald verlassen zu wollen. Stattdessen werden kaum merklich verstohlene Blicke ins Wohnzimmer geworfen. In den Gesichtern der 2 steht echtes Lächeln. Man wolle nicht stören. Aber man setzt sich, man sei geschafft und habe etwas auf dem Herzen. Ihr Ehepartner tritt unwissend aus dem Garten hinzu. Die Bedrohlichkeit der Situation ist auf die Schnelle kaum zu vermitteln. Nicht, ohne „unhöflich“ zu werden. Draußen geht langsam die Sonne unter. Vermutlich bieten Sie den 2 als nächstes konsterniert einen Tee an. Bitte. Danke. Zucker?

Sie können davon ausgehen, dass diese 2 es nicht gut mit Ihnen meinen werden. In Michael Hanekes berühmtem Filmdrama FUNNY GAMES bleiben die fallen gelassenen Eier nicht die einzigen Körper, die im Laufe der folgenden Sommernacht gewaltsam zerplatzen. Es ist diese Gemengelage aus tadelloser Etikette, Gewaltbereitschaft und latentem Vorwurf (dessen Anlass sich weder für die Figuren noch für die Zuschauer ansatzweise erschließt), die Hanekes 2 Mörder einer Kleinfamilie schon unheimlich macht, lange bevor der erste Schuss fällt. Sie sind Rächer einer Schuld, die keiner kennt.

Eric de Vroedts Figuren Rick (Frank Genser) und Steffie (Caroline Tiefenbacher) aus MIGHTYSOCIETY sind offensichtlich Verwandte von Hanekes gnadenlosem Duo. Sie sind Besucher aus dem Nichts, und sie genießen still die Furcht, die das auslöst. Unter ihrer zur Schau getragenen Unschuld liegen die explosiven Überreste biographischer Schlachten – hundertfach geschlagen am „unsichtbaren Rand der Gesellschaft“ (wie eine bekannte Redensart lautet) –, die jederzeit zu detonieren drohen. Aller latenten Bedrohlichkeit zum Trotz bietet Hausherrin Henriette (Friederike Tiefenbacher) den 2 Tee an. Was in unserer zwischenmenschlichen Ordnung hält sie eigentlich davon ab, den ungeladenen Besuchern rechtzeitig einen Stuhl über den Kopf zu ziehen und sie an den Füßen vors Gartentor zu schleifen? Was ist das für eine Verpflichtung, die sagt: Wirf doch einen Blick auf ihren Lebenslauf, es wird dich wenig kosten!

Die Antwort lautet: Sie schulden diesen 2, die Sie nie gesehen haben, etwas! Und zwar exakt ab jenem Moment, in dem diese sich bittend oder fordernd an Sie richten. Das ist ein Befehl neuzeitlicher Moral. Schuld, das hat der Ethnologe David Graeber in seinem Buch SCHULDEN – DIE ERSTEN 5.000 JAHRE vielfältig gezeigt – ist eines der wichtigsten moralischen Regulative in den modernen westlichen Gesellschaften. Ein bisschen salopp ausgedrückt: Jede zwischenmenschliche Beziehung wird unbewusst als eine Art Wippe vorgestellt, die je nach Schuldverhältnissen in diese oder jene Richtung neigt. „Schulden sind ein Tausch, der nicht zu Ende gebracht wurde.“ (Graeber) Bis in die Mikrokontakte gilt, dass zwischen Menschen ständig Ungleichheiten entstehen, die ausgeglichen werden wollen. Beispiel: Sie geben mir eine Tasse Tee. Ich sage: „Merci!“ (von mercy = Gnade; ein Schuldner ist immer ein kleiner Krimineller). Sie sagen: „Schon gut.“ Das ist ein Weg, mir zu versichern, „dass Sie in Ihr Hauptbuch im Kopf keine Schuld eintragen“ (Graeber). Wenn Sie also gewillt sind, die minimalen moralischen Anforderungen des Sozialen zu meistern, kann es für Sie keine Option sein, dass dauerhaft 2 in der Welt herumlaufen, denen Sie etwas schuldig geblieben sind. Deshalb sehen Sie sich den Lebenslauf an. Schulden zu machen und zu gewähren, sowie Schulden zu erlassen, ist eine alltägliche Aktivität, die mich als Mitglied der Gesellschaft ausweist und ständig erneuert. Das gilt laut Graeber z.B. auch für Arbeitsverträge. Im Moment der Unterzeichnung gestehe ich eine Schuld ein, die ich in Form von Arbeit abtragen werde. Eine der wichtigsten Annahmen, die dem zugrunde liegt, ist, dass Schulden zumindest prinzipiell rückzahlbar sind – und sei es durch den Tod.

Rick und Steffie sind anders als Hanekes 2 jedoch keine Racheengel einer „kosmischen“ Schuld. Ich glaube nicht einmal, dass Sie von Raimund (Sebastian Kuschmann) und Henriette den Ausgleich irgendeiner konkreten weltlichen Schuld einfordern. Es verhält sich umgekehrt: Sie fordern ein, wieder in ein Verhältnis der Schuldigkeit eintreten zu dürfen, aus dem sie ausgeschlossen sind. Eric de Vroedts 2 sind nicht deshalb tragisch, weil sie (unwissend) schuldig geworden sind, sondern weil sie ihre Teilhabe am modernen Tauschhandel der Schuldigkeiten selbst verloren haben. Von dieser unmenschlichen Bedrohung handelt de Vroedts Stück: Vom Urteil, niemandem mehr etwas schuldig sein zu können. Von der Furcht, unschuldig zu sein. Und de Vroedts These ist, dass diese Bedrohung nun jenes Segment der Gesellschaft erreicht, das wir „untere Mittelschicht“ nennen. Dieses Segment ist dem Rest zunehmend nichts mehr schuldig. Ihre Expertise und Arbeitskraft wird nicht benötigt. Und diese „Unschuld“ wird bloß noch verwaltet (Sozialleistungen, Konsum).

Rick und Steffie müssen ein Verbrechen begehen (Hausfriedensbruch und mehr), um wieder in das Grundbuch der Schuld eingetragen zu werden. Alte Mittel, die noch auf einer verbindlichen Reziprozität von Schuld beruhten (Warnstreiks, Bürgerbegehren) perlen ab an der Glätte der supermodernen Unternehmensstruktur von Raimunds COOLWORKS AG, die ihre eigenen Versprechungen formuliert („Sei kein Aber! Sei Flexibel! Dann werden wir dich lieben!“). Bastian (Sebastian Graf), der Blogger mit Unrechtsbewusstsein, der die konkrete Schuld seines Stiefvaters fixieren will, ist im Stück vielleicht der einzige, der noch etwas von diesem Verlust spürt. Schulden sind, das dürfen wir nicht vergessen, nicht nur ein theologisches, sondern heute in erster Linie ein ökonomisches und rhetorisches Mittel, Hierarchien auszubilden. „Wer hat Schuld(en)?“ ist eine Frage nach der Macht. „Wer zahlt wem zurück?“ kann zur Frage nach Leben oder Tod avancieren. De Vroedts Stück führt verzweifelte Menschen vor, die ein Verbrechen begehen, das sie letztendlich bloß in Hierarchien zurückführen soll, an deren unterstem Ende sie stehen. Das ist, gelinde gesagt, bemerkenswert.

Alexander Kerlin

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