Warum Benedikt Kaiser vielen Linken so unangenehm ähnlich ist

Deutsche Botschaft in Sankt Petersburg, Peter Behrens, 1912 Foto: Unbekannt Lizenz: Gemeinfrei


Der rechte Publizist Benedikt Kaiser gilt vielen als ideologischer Gegner. Doch wer sich ernsthaft mit seinen Positionen auseinandersetzt, stößt auf eine unbequeme Erkenntnis: In zentralen Fragen von Demokratie, Kollektiv und Westen ist die Distanz zwischen rechts und links kleiner, als beide Seiten wahrhaben wollen.

Viele Intellektuelle empfinden die liberale Demokratie inzwischen als lästig – und als ein ebenso lästiges Produkt der Westbindung, die es zu überwinden gelte. Dass die Unterschiede zwischen rechts und links dabei mitunter geringer sind, als es scheint, zeigt ein Interview mit dem Autor und Mitarbeiter der AfD-Bundestagsfraktion Benedikt Kaiser im Blog Starke Meinungen.

Spätestens nach seinen Büchern Die Konvergenz der Krisen und Der Hegemonie entgegen gilt Benedikt Kaiser als einer der führenden rechten Intellektuellen Deutschlands. Vor 20 Jahren  begann seinen Werdegang bei der Neonazi-Truppe der Autonomen Nationalisten, heute ist er erfolgreich als Publizist tätig, arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Björn Höcke nahestehenden AfD-Bundestagsabgeordneten Robert Teske.

Wie andere Intellektuelle hat auch Benedikt Kaiser ein Problem mit der Wirklichkeit. Wenn er im Interview mit dem Blog Starke Meinungen eine „pronatalistische Familienpolitik“ fordert, verkennt er, dass in Deutschland die Zahl der Geburten seit dem Ersten Weltkrieg nahezu kontinuierlich zurückgegangen ist. Selbst während des Nationalsozialismus, der Mutterschaft ideologisch überhöhte und materiell privilegierte, kam es zu keinem nachhaltigen Geburtenanstieg. Der einzige nennenswerte statistische Ausschlag nach oben war der Babyboom der Nachkriegszeit – ausgelöst nicht durch Weltanschauung, sondern durch Frieden, Wohlstand und soziale Sicherheit. Er endete mit der Einführung der Pille.

Geburtenziffern in Deutschland: Daten: Statistischen Bundesamt Grafik: ChatGPT

Wenn Kaiser erklärt: „Wir brauchen eine grundlegende geistige Wende, eine grundlegende weltanschauliche Kehre – hin zu einem positiven Bewusstsein von Familie, Überlieferung, Volk, Staat, Europa. Und dann erst […] kann auch politisch geerntet werden“, beschreibt er eine seit Jahrzehnten bekannte Strategie: den Kampf um kulturelle Hegemonie. Der italienische Kommunist Antonio Gramsci hatte bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren argumentiert, dass politische Macht nur errungen werden könne, wenn zuvor kulturelle und gesellschaftliche Deutungshoheit hergestellt werde. Die ökologische Linke setzt seit Jahrzehnten auf diese Taktik; die Rechte hat sie vor einigen Jahren für sich entdeckt – und nutzt sie inzwischen ebenfalls mit Erfolg.

Überlieferung, Volk, Staat und Europa sind Begriffe, die Kaiser in dem Interview nicht weiter erläutert, die aber von Imagination bestimmt sind: Europa ist ein Kunstbegriff, der räumlich schwer zu fassen ist, das Verhältnis zum Staat in jedem Land ein anderes, das Volk eine Idee, die nichts mit der Realität zu tun hat, denn abgesehen von kleinen, isoliert lebenden indigenen Gemeinschaften bestehen „Völker“ aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Gut nachvollziehen lässt sich diese Entwicklung in Europa seit mehr als 5000 Jahren. Das Volk ist als Imagination das rechte Gegenstück zur linken multikulturellen Gesellschaft. Doch die Realität ist weder bunt noch schwarz-weiß. Sie ist grau in allen Schattierungen, ein Leben in einer großen Kontaktzone, in der Menschen, Kulturen, Religionen und Traditionen aufeinandertreffen. Das ist mal harmonisch und bereichernd, kann genauso zu gegenseitigem Voneinanderlernen führen, zur Assimilation und zum Nebeneinander führen wie zu brutalen Auseinandersetzungen und Abstoßbewegungen.

Und die Überlieferungen? Sind in der zumeist regional unterschiedlich und oft, vor allem weit zurückreichen, eher Mythos  als Geschichte. Wenn Kaiser sagt: „Die relative Hegemonie Preußens innerhalb Deutschlands war ab 1870/71 übrigens eine durchaus organische und daher legitime“, ignoriert er die zuvor stattgefundenen Deutschen Kriege gegen das Habsburger Kaiserreich, Bayern, die beiden Hessens, Württemberg und Hannover sowie weiterer Staaten. Die preußische Hegemonie war aufgezwungen und widersprach den langen Linien der deutschen Geschichte. Seit seiner Gründung durch die Krönung Otto I. 962 war das deutsche Reich ein Zusammenschluss von Fürstentümern, Königreichen, Stammesverbänden und anderen Herrschaften. Wenn etwas organisch aus der deutschen Geschichte hervorgegangen ist, ist es der Föderalismus der Bundesrepublik.

Bemerkenswert ist, wie anschlussfähig Kaisers Denken an das großer Teile der Linken ist. Die Gemeinsamkeiten der meisten Europäer liegen in einer Ideenwelt, die Kaiser ebenso ablehnt wie viele Anhänger postmoderner und antiimperialistischer Theorien: dem Westen. Er gründet in der in Griechenland entwickelten Idee des Individuums, im römischen Recht und den römischen Institutionen, im Christentum, im Judentum und in der Aufklärung.

Kaiser stellt zu Recht fest, dass die kurze Phase einer unipolaren Weltordnung, in der die USA nach dem Ende des Kalten Krieges als globaler Hegemon erschienen – ohne diese Rolle jemals vollständig auszufüllen –, durch eine multipolare Ordnung abgelöst wurde. „Mein Ideal wäre ein starkes Deutschland in einem starken Europa – in Äquidistanz zu Moskau und Washington, zu Peking und anderen Hauptstädten“, sagt Kaiser. Vom „starken Deutschland“ abgesehen, könnten diesen Satz auch viele Linke unterschreiben.

Doch Kaiser verkennt die machtpolitische Realität. Die Welt ist nicht multipolar, sondern bipolar. Global existieren nur zwei Hegemone: USA und China. Nur diese beiden Staaten verfügen über eigene Technosphären, leistungsfähige und innovative Volkswirtschaften, weltweit führende Forschungseinrichtungen und schlagkräftige Armeen.

Russland ist heute mehr denn je ein „Obervolta mit Atomraketen“, wie Helmut Schmidt einst die Sowjetunion nannte: 130 Millionen Einwohner, überwiegend arm, eine Wirtschaft, deren Basis nahezu ausschließlich der Export von Rohstoffen ist, und eine Armee, der es seit fast vier Jahren nicht gelungen ist, die Ukraine zu besiegen. Russland ist längst Teil der chinesischen Technosphäre – ein Schwellenland mit Atomwaffen, dessen größte Stärke die militärische und politische Schwäche Europas ist.

Kaiser gibt sich damit einer Illusion hin, die viele Linke teilen. Sie hat mit der Realität wenig zu tun. Eine Abkehr vom Westen, zu dem auch Kanada, Südkorea, Israel, Japan und Australien gehören, würde nicht zu europäischer Souveränität führen, sondern zwangsläufig zu einem Wechsel von der amerikanischen in die chinesische Technosphäre. Europa geriete damit unter den Einfluss eines zunehmend von China abhängigen Russlands.

Mit großen Teilen der Linken ist er sich in der Ablehnung des Individuums einig. Er setzt auf das „Wir“ und nicht auf das „Ich“. Im Kern kann dem sogar die SPD zustimmen, die mit in der Bundestagswahl 2013 auf den Slogan „Das Wir entscheidet“ setzte. Da auch die Zeiten vorbei sind, in denen Linke das von ihnen bevorzugte Kollektiv in der Arbeiterklasse sahen, sondern auf Identitäten wie Ethnie, Religion und Kultur setzen, ist man in diesen Fragen näher beieinander, als sich viele Linke eingestehen wollen.

Harald Welzer Foto: Martin Kraft Lizenz: CC BY-SA 3.0

Und auch in der Ablehnung der liberalen Demokratie ist man gar nicht weit voneinander entfernt. Kaiser ist der Ansicht, dass Demokratie nicht automatisch eine liberale Demokratie sein muss. Doch zumindest dem ökologisch gesonnenen Teil der Linken ist die Mischung aus Volkssouveränität und individuellen Freiheitsrechten ebenfalls suspekt: „Man braucht daher auch keine Mehrheiten“, schrieb Harald Welzer schon 2013 in seinem Buch Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, „um Gesellschaften zu verändern; andere kulturelle Modelle und Praktiken diffundieren dann in die Gesamtgesellschaft, wenn sie von Minderheiten in allen relevanten gesellschaftlichen Schichten getragen werden. Drei bis fünf Prozent der Bevölkerung reichen unter dieser Voraussetzung, um einen tiefgreifenden und nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel in Gang zu setzen.“

Philip Manow beschreibt in Unter Beobachtung: Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde die Folgen einer Politik, wie sie Welzer skizzierte, als ein „dominant gewordenes Konzept der liberalen Demokratie, in der das über Wahlen Veränderliche keine besonders große Rolle mehr spielt, vielmehr selbst zum eigentlichen Ausgangspunkt eines Szenarios einer Selbstgefährdung der Demokratie geworden ist, deren elektorale Dimension man folglich konstitutionell möglichst klein zu halten hat: Die aus der Konstitutionalisierung der Demokratie zu erklärenden Konflikte begründen die weitere konstitutionelle Einhegung und Einengung der Politik. Das aber intensiviert nur den politischen Konflikt.“ Kaiser zieht aus dieser Feststellung der Degeneration der liberalen Demokratie den Schluss, dass die liberale Demokratie am Ende sei und ihre Alternative ein illiberaler Staat sein, der „keineswegs gleichzusetzen wäre mit einem nichtdemokratischen Staat.“ Doch die tatsächlich angeschlagene liberale Demokratie ließe sich auch wiederherstellen, indem zum Beispiel die Macht von NGOs, Gerichten und Behörden zugunsten von Parlamenten beschnitten werden würde. Welcher liberal gesonnene Mensch, dem das Ich wichtiger als das Kollektiv ist, will in Welzers oder Kaisers Gesellschaft leben? Die Alternative zu Cholera ist nicht die Pest.

Kaiser ist durch seine Ähnlichkeit ein extrem unangenehmer Gegner für viele Linke. Setzen sie sich ernsthaft mit ihm auseinander und widerstehen dem reflexhaften „Nazis raus“, geraten sie zwangsläufig in die Lage, auch sich selbst kritisieren zu müssen. Aus auf den ersten Blick unterschiedlichen Denkschulen kommend, ist man sich näher, als es beiden Seiten lieb sein kann.

Eine glaubhafte Gegenposition zu Kaiser kann daher nur formulieren, wer auf Distanz zu postmodernen, antisemitischen und radikalökologischen Strömungen der Linken, also zu ihrem heutigen Mainstream, geht. Nur wer den Westen, das Individuum und den Kapitalismus nicht als Übel, sondern als historische Errungenschaften begreift, kann diese Auseinandersetzung führen. Dem Rest bleibt entweder der intellektuelle Rückzug – oder die Querfront.

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