Wenn Baden-Württemberg das Ruhrgebiet der Zukunft wird, ist das auch die Schuld von Boris Palmer

Boris Palmer Foto: Stadt Tübingen

Mit seinen gut 90.000 Einwohnern liegt Tübingen irgendwo zwischen Marl (84.000) und Bottrop (117.000). Aber während man die Namen ihrer  Stadtoberhäupter Werner Arndt (SPD) und Bernd Tischler (SPD) schon in den Nachbarstädten nicht kennt, hat die Universitätsstadt am Neckar mit Boris Palmer (Parteilos) einen der prominentesten Oberbürgermeister Deutschlands. Palmer nimmt an bundesweiten Debatten teil, provoziert oft und verliert immer mal wieder die Kontrolle über sich. Er ist jedoch allemal ein Politiker, der über den Tellerrand hinausblicken kann und das auch gerne tut. In einem Gastbeitrag in der Welt mit dem Titel „Autokrise, Freibadrandale, Bildungsmisere – Deutschland hat den Zenit überschritten“ sieht Palmer in dem wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands einen der entscheidenden Gründe, der die Menschen so stark verunsichert, dass sie AfD wählen. In seinem Heimatbundesland Baden-Württemberg würde die AfD zurzeit nach Umfragen 19 Prozent der Stimmen bekommen. In vielen Wahlkreisen hätte sie zudem die Chance, stärkste Partei zu werden.

Palmer schreibt: „Wenn ich über die Dörfer in Baden-Württemberg fahre, stehen dort verfallende Gasthäuser an den Hauptstraßen wie Mahnmale zur Erinnerung an eine bessere Zeit. Die hiesige Schlüsselindustrie, der Fahrzeugbau, steht vor dem Verbot seines 125-Jahre-Dauerrenners, des Verbrennungsmotors, und Batterien sind hierzulande bisher nicht konkurrenzfähig herzustellen. Elektroautos made in Germany sind ein Ladenhüter. Wenn man den Trend im Automobilbau zehn Jahre weiter rechnet, ist Baden-Württemberg ein neues Ruhrgebiet.“ Der Gedanke, Baden-Württemberg könne das Ruhrgebiet der Zukunft werden, ist Lesern dieses Blogs geläufig und wurde hier erstmals 2019 veröffentlicht.

Tübingens OB stellt auch fest: „Der Cocktail aus Bürokratieverstrickung, Digitalisierungsrückstand, Energiekostenexplosion, Fachkräftemangel, Nachfrageausfall und politischer Nonchalance ist zu giftig geworden.“ Sicher, auch damit macht Palmer einen Punkt.

Interessant ist allerdings auch, was Palmer nicht schreibt: Die Grünen, deren Mitglied Palmer bis Mai war, ihre oftmals staatlich bestens finanzierten NGO-Beiboote und die Umweltbewegung, die ab den 70er-Jahren an Bedeutung gewann, sind an der Entwicklung nicht unschuldig. Gemeinsam hetzte man gegen jede neue Technologie. Ob Computer, Kernkraft oder Gentechnik: Mit dem Schüren von Ängsten stiegen die Grünen und ihre NGO-Freunde in den vergangenen Jahrzehnten zu der Macht auf, welche die Debatten bestimmte. Es dauerte erstaunlich lange, bis die Folgen dieser Politik sichtbar wurden. Deutschland hatte Glück: China kaufte seit seiner Aufnahme in die Welthandelsorganisation Ende 2001 in Deutschland Industriegüter und Autos und Russland sorgte mit billigem Gas dafür, dass man von der Energiewende träumen konnte. Doch jede Glückssträhne geht einmal zu Ende: Die USA und China haben Deutschland in vielen Bereichen technologisch abgehängt und ihr Vorsprung wird immer größer.  Energie wird nach einer Schätzung des Bundeswirtschaftsministeriums mindestens bis in die 40er-Jahre hinein teuer bleiben. Und klagefreudige NGOs können dank Gesetzen, die im grünen Geist beschlossen wurden, den Bau von Stromleitungen, Kraftwerken, LNG-Terminals oder Windrädern blockieren oder hinauszögern. Palmer machte seine politische Karriere die längste Zeit auf dem Ticket der Grünen. Er trug ihre Politik mit, er verdankte ihr seinen politischen Aufstieg. Wenn er jetzt ihre  Folgen beklagt, wäre es nur angemessen, wenn Palmer darauf hingewiesen hätte, dass es vor allem die Politik, die auch er vertreten hat, war, deren Folgen nun dafür sorgen, dass Deutschland seinen „Zenit“ überschritten hat. Politiker wie Palmer tragen daran eine Mitschuld.

Mehr zu dem Thema:

„Hallo Stuttgart, ich komme aus der Zukunft“

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