
Julia Ruhs ist eine ziemlich normale Frau Anfang dreißig. Sie ist in Baden-Württemberg in einer, wie sie selbst sagt, „stinknormalen Familie“ aufgewachsen und hatte eine glückliche Kindheit. Nach einem normalen journalistischen Werdegang hat sie es in nur drei Jahren von einer Volontärin beim Bayerischen Rundfunk zur Autorin einer eigenen Focus Online-Kolumne und zur Moderatorin einer eigenen Politiksendung im Öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) geschafft. Ihr Buch Links-grüne Meinungsmacht. Die Spaltung unseres Landes, das ich hier kurz vorstellen möchte, hat das Zeug zum Bestseller. Weil Julia Ruhs eine ganz normale Meinung vertritt.
Was ist an einer ganz normalen Meinung von einer ganz normalen jungen Frau so besonders, dass es ihr solche Aufmerksamkeit zukommen lässt und ihr so viel frühen Ruhm beschert? Ein Widerspruch macht sie besonders: Julia Ruhs hat eine ganz normale Meinung aus der Mitte der Gesellschaft, aber diese Meinung ist in journalistischen Kreisen alles andere als normal. Für Journalisten beim ÖRR ist es eine Besonderheit, eine solche Meinung aus der gesellschaftlichen Mitte zu haben. Julia Ruhs ist als junge Journalistin beim ÖRR mit einer Einstellung, die nicht links oder grün ist, eine Ausnahme.
Auch linke Mainstream-Medien wie der Spiegel können nicht verstehen, wie jemand mit einer glücklichen Kindheit konservativ sein kann. Der Spiegel hat Julia Ruhs porträtiert und sie ganz selbstverständlich als „umstritten“ und „Überzeugungstäterin“ bezeichnet. Stefan Niggemeier von Übermedien hat den Spiegel-Artikel aufs Korn genommen. Sehr passend bringt das darin enthaltene Bild von Julia Ruhs mit der Unterschrift: „Trotz glücklicher Kindheit heute konservativ“ die Einstellung und die Kernaussagen des Spiegel-Artikels auf den Punkt. Denn so liest sich der Text: Wie kann man als junger Mensch nur konservativ sein und auch noch so viel Erfolg haben mit einer so normalen Meinung? Wann ist Julia Ruhs falsch abgebogen?
Schon die von Niggemeier gewählte Überschrift ist herrlich: „Spiegel enthüllt: Rechte Meinungsmacherin traut sich nicht einmal, selbst Nachtisch zu bestellen“ (). In dem Spiegel-Artikel versucht die Autorin der vermeintlichen Abweichlerin auf die Spur zu kommen und sucht Gründe für ihr seltsames „Rechtssein“. Wie Niggemeier so schön schreibt: „In einem dreiseitigen Porträt versucht der Spiegel herauszufinden, wie es dazu kommen konnte, dass die ARD-Journalistin Julia Ruhs jung und konservativ ist. Der Text spart nicht an Küchenpsychologie… Die Prominenz von Julia Ruhs beruht auf gerade einmal zwei Auftritten: auf einem Kommentar im ARD-Mittagsmagazin im März 2021, in dem sie sich gegen das Gendern aussprach – sie postete ihn mit dem Hashtag #gendergaga auf Twitter – und auf einem Kommentar im Oktober 2023 in den Tagesthemen, in dem sie gegen „illegale Einwanderung“ polemisierte… Andererseits ist es auch verblüffend, wie sehr Leute wie Julia Ruhs immer noch als Kämpferinnen gegen den „Zeitgeist“ dargestellt werden – als wehte der Wind nicht ohnehin längst von rechts.“
Und ich frage mich, wie ein Mensch aus der Mitte der Gesellschaft „umstritten“ sein kann. Julia Ruhs ist nicht in der Gesellschaft umstritten, sondern bei den Medien, die ihren gesellschaftlichen Kompass komplett verloren haben. Und genau darum geht es auch in Julia Ruhs’ Buch.
Das Buch hat sicherlich auch ohne Werbung meinerseits gute Bestseller-Chancen. Ich möchte es trotzdem jedem, der auch den Eindruck hat, dass der Mainstream-Journalismus heutzutage völlig an der Bevölkerung vorbeigeht, ans Herz legen. Das Buch ist sehr kurzweilig geschrieben und voller Zitate, die Beispiele dafür sind, wie schwer sich die Bevölkerung mittlerweile mit den herkömmlichen Medien und besonders dem ÖRR tut. Im Spiegel wird ausgerechnet das kritisiert und so dargestellt, als ob Julia Ruhs die Zitate als Vorwand benutzt, um ihre eigene Meinung wiederzugeben. Dabei sind sie so wichtig und durchaus repräsentativ für Menschen, die an den herkömmlichen Medien Zweifel haben.
Beim Lesen des kleinen Buches merke ich, dass Julia Ruhs jung ist, und ich nehme ihr ab, dass sie ehrlich ist und schlicht ihre Eindrücke schildert. Ihre Schlussfolgerungen sind keine philosophischen Abhandlungen, sondern zeigen naheliegende, gut nachvollziehbare gesellschaftliche Zusammenhänge auf. Vieles davon ist mir genauso auch schon aufgefallen. So schreibt sie: „Weil die Falschen das Richtige sagen, wird das Gesagte nicht automatisch falsch.“ Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, wenn es um das Geschlechterthema geht. Nur weil die AfD damit Wahlkampf macht, dass es nur zwei Geschlechter gibt, sind es trotzdem nur zwei biologische Geschlechter. Dass viele dann von bestimmten Meinungen (beim Geschlechterthema sogar von der objektiven Wahrheit) abrücken und sie zumindest nicht mehr öffentlich äußern, spricht Julia Ruhs an. So kommt es dazu, dass bestimmte Ansichten nur noch der AfD überlassen werden. Nur sie kann „selbstbewusst das aussprechen, was die Mehrheit denkt.“ Politik und Journalismus überlassen der rechtsextremen Partei hier das Feld, und das ist das Problem.
Die Einschränkungen der Meinungsfreiheit, die in Deutschland eher moralischer, nicht aber strafrechtlicher Natur sind, kann sie gut darstellen und mit Beispielen belegen. Diese gesellschaftliche Ächtung einer „falschen Meinung“ ist nicht zu unterschätzen. Auch hier kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, wie unangenehm Cancel Culture ist. Die Autorin kann gut erklären, warum besonders im Osten diese gesellschaftliche Meinungszensur beklagt wird. Im Osten gab es diese Situation schon einmal in ähnlicher Form. Auch ich kann mich daran erinnern, dass es in der DDR zwei Wahrheiten gab: die, die ich zuhause, und die, die ich in der Schule erzählte. Viele Ostdeutsche fühlen sich heute an DDR-Zeiten erinnert und, was die freie Meinungsäußerung betrifft, ziemlich unfrei. Natürlich kommt es darauf an, welche Meinung man hat. Wähler der Grünen z. B. fühlen sich am wenigsten eingeschränkt in ihrer Meinungsfreiheit, weil sie eben die „moralisch richtige Meinung“ vertreten und weil diese Meinung eben auch in den meisten Medien, besonders den öffentlich-rechtlichen, so propagiert wird. Das führt sogar dazu, dass man mit Menschen, weil sie eine vermeintlich falsche Meinung haben, z. B. aus der Jungen Union, nicht mal in Kontakt kommen möchte, wie die Autorin im Unterkapitel „Die sind rechts! Schnell weg“ eindrücklich schildert.
Julia Ruhs erklärt, auch indem sie auf Bernhard Schlink verweist, dass ein sehr eng geführter gesellschaftlicher und politischer Mainstream zu einer Verschiebung der Mitte in den links-grünen Bereich geführt hat. „… die Mitte hat sich kräftig verschoben. Linke haben sie für sich vereinnahmt. Und plötzlich stehe ich mit denselben Ansichten von früher rechts. Für manche sogar weit rechts. Oder, wie es manche nennen, im ‚Niemandsland‘. Total absurd. Doch genau darin liegt die Gefahr: Wenn alles rechts ist, was einmal Mitte war, dann gibt es keine echte Mitte mehr. Und ohne sie verliert die Gesellschaft in meinen Augen wirklich ihr Gleichgewicht.“
Womit sie recht hat, denn durch dieses Ungleichgewicht erstarken vor allem die extremistischen Ränder der Gesellschaft. Eine nicht unerhebliche Mitschuld an dieser Linksverschiebung der gesellschaftlichen Mitte sieht Julia Ruhs im Journalismus. So wie sie die Mehrheit der Journalisten beschreibt, ist es eine durch ihren akademischen Background geprägte elitäre Kaste, die die Wirklichkeit nicht mehr richtig abbildet. Der Mainstream-Journalismus und besonders auch der ÖRR können viele Menschen gar nicht mehr abholen. Sie fühlen sich manipuliert und bevormundet. Ein nicht geringer Teil der Bevölkerung wendet sich daher von der Medienlandschaft mit links-grüner Ausrichtung ab und konsumiert alternative Medien, die nicht immer unproblematisch sind, da sie auch Fake News verbreiten und zur Radikalisierung der Menschen beitragen.
Die Ursache für die mediale Verschiebung nach links ist auch in der moralischen Überlegenheit zu finden, die linke und grüne Journalisten für sich beanspruchen. Um diesem moralischen Anspruch und der vermeintlichen politischen Correctness gerecht zu werden, wird es auch in den Mainstream-Medien mit der Wahrheit nicht mehr so genau genommen. Der gute Zweck rechtfertigt dies. Auch ein Austausch mit Menschen, die eine vermeintlich falsche, weil weniger anständige Meinung haben, ist weder gewünscht noch in den Augen der politisch korrekten Journalisten auch nur irgendwie akzeptabel. Denn man ist ja schließlich moralisch überlegen, da braucht es keine weiteren Argumente. Diese Einstellung, die auch von einer gewissen Überheblichkeit zeugt, überträgt sich letztendlich auch in beträchtlichem Maße auf die Politiker. Weil sich Politiker stark daran orientieren, was über sie berichtet wird, machen sie vor allem Politik für die Journalisten und nicht mehr für das Volk, von dem sie gewählt werden wollen. Die Wahlergebnisse und aktuelle Umfragen geben der Autorin recht.
Durch diese von der Mehrheit der Bevölkerung abweichenden Meinungen der Medienschaffenden und dadurch begünstigte politische Entscheidungen konnte es zu einer zunehmenden Verstärkung der extremen Ränder kommen. Die gesellschaftliche Mitte droht immer mehr zu schrumpfen. Eine nicht unerhebliche Rolle spielt hierbei auch die Reaktanz, die von den Politikern und Journalisten komplett unterschätzt wird. Diese Abwehrreaktion auf die Bedrohung von Handlungs- oder Entscheidungsfreiheit führt oft dazu, dass Menschen das Gegenteil dessen tun, was von ihnen verlangt wird. Zu viel Bevormundung von links, zu viel Eingriff in die persönliche Freiheit weckt Widerspruch, erzeugt Gegenreaktionen, die nicht immer rational sein müssen. Der Trotzige, der Ketzer, der Protestwähler kommt nicht aus dem Nichts daher. „Reaktanz tritt vor allem bei Verboten auf. Je wichtiger die bedrohte Freiheit, desto heftiger die Reaktion. Aber auch moralischer Druck oder der Versuch, jemanden gedanklich in eine bestimmte Richtung zu schubsen, können Reaktanz auslösen… Ich glaube: Linke und woke Menschen unterschätzen massiv die Macht der Reaktanz. Der Erfolg rechtspopulistischer Parteien liegt in meinen Augen nicht daran, dass die Medien und linke Parteien zu wenig Haltung zeigen. Sondern zu viel.“
Aber der Journalismus liebt eben einfach linke Positionen. Das hängt laut Julia Ruhs mit einer gewissen akademischen Verkopfung zusammen. Während man bei Konservativen eher lebensnahen Pragmatismus findet, neigen linke Journalisten dazu, vom „Thron der Erkenntnis“ aus zu agieren. Auch der Herdentrieb im Journalismus, dass man den Kollegen gefallen will und zu feige ist, anzuecken, spielt bei der von Ruhs beschriebenen Entwicklung eine große Rolle. Was diese Art Herdentrieb betrifft, konnte die Autorin am Schluss des Buches gut aufzeigen, dass er auch gegen objektive Wahrheiten wirkt und die Hochgebildeten besonders dafür empfänglich sind. Durch diese Gruppendynamik wird der Mainstream-Journalismus immer linker, und so konnte eine junge Frau mit einer normalen Meinung unerwartet zu plötzlichem Ruhm gelangen.
Das Buch von Julia Ruhs ist freundlich und klar geschrieben, sehr einfach zu lesen und überhaupt nicht verkopft. Was mir ein wenig fehlt, ist ein Happy End, ein Ausblick, ein Hoffnungsschimmer, ein Lösungsansatz. Was könnte denn heraushelfen aus der sehr gut beschriebenen „links-grünen Meinungsmacht“? Das Buch bleibt eine Bestandsaufnahme. Aber vielleicht ist es ein Anfang. Allein, dass Julia Ruhs im ÖRR bewusst ausgesucht wurde, bestimmte Themen zu bedienen und Meinungen auszusprechen, die im ÖRR selten zu hören sind, ist ein gutes Zeichen. Und wir brauchen sie, diese Ketzer mit ihren normalen Meinungen aus der Mitte der Gesellschaft.

Typisches Merkmal der Berliner Republik ist die Medien-Nomenklatura, wie Jürgen Leinemann 1998 im Spiegel geschrieben hat, wobei er dies als rhetorische Frage verpackt hat. Der Text ist auch heute immer noch sehr lesenswert.
Link hierzu: https://www.spiegel.de/politik/das-deutschere-deutschland-a-45521649-0002-0001-0000-000008001840?context=issue
(Das deutschere Deutschland in 38/1998)