Europameisterschaft: Fußballflucht quer durchs Revier – Ein Protokoll

Wenn mich später jemand fragt, wo ich das Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft erlebt habe, kann ich umfassend Auskunft geben. Ich habe im Bus gesessen und in der Bahn. Ich habe versucht, diesem Spiel zu entgehen, im öffentlichen Nahverkehr.

20:48 Uhr. Der Bus ist pünktlich. Die UEFA ist es nicht. Als der SB 20 den Busbahnhof verlässt, fängt das Viertelfinale in Warschau gerade an. Die Verbindung zwischen Recklinghausen und Herne ist die einzige Strecke, mit der die Vestische Straßenbahnen AG Gewinn erzielt. Mögen die Straßen menschenleer sein, der Gelenkbus ist es nicht. Er muss schon nach hundert Metern einen Umweg nehmen, der Wall ist gesperrt für das Public Viewing. Busse haben zum Glück kein Autoradio. Unter den Fahrgästen dominiert die U20. Männer mit Migrationshintergrund, MMH. Gibt es die Abkürzung schon? Spätestens jetzt. Neulich hörte ich im WDR-Fernsehen erstmals das Fachkürzel MILF. Ich sitze also im Gelenkbus mit Menschen, die sich wohl auch deshalb nicht für die EM interessieren, weil ihre Herkunfts-Nationalmannschaft erst gar nicht dabei ist.

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OCCUPY SCHLARAFFENLAND: GUMMIBOOT STATT STRAHLENTOD

kernie_2Unser Schicksal ist besiegelt: Die Menschheit wird untergehen. An ihrer Gier ersticken und die Welt zu Grunde richten. Brennende Bohrinseln und bettelnde Bad Banks, Katastrophen-Kraftwerke und Staatsbrankrott. In unserem System wütet der Terror grenzenloser Habsucht. Hört auf nur zuzuschauen! Es reicht! Occupy every-fucking-thing! Wir stürmten ein Schlaraffenland, eroberten Minigolfplätze und Softeisspender, Bäche voller Bier und märchenhafte Pommes-Buden. Wir stürmten Kernies Wunderland in Kalkar: ein stillgelegtes Atomkraftwerk, ein Erlebnispark, Hotelkomplex, Kongresszentrum und Säuferparadies. Wir sagen Euch: Das Leben auf Flatrate endet im Supergau. Alternativlos. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

– Der Text ist im aktuellen Ruhrbarone-Magazin „GRENZEN“ erschienen. –

 

18.03 Uhr: Erste Vorboten der drohenden Katastrophe.

„Zwei Bier, bitte.“ Der Typ hinterm Tresen stellt zwei Grolsch aufs Holz und dreht sich zum nächsten Säufer. Joswigs Mund bleibt offen. Er dreht sich zu Schlange. „Alter, wir haben hier ne Bierflatrate.“

Schlange schürzt seinen Schnäuzer: „Willkommen in der Hölle.“

Kernies Vergnügungspark ist seit zwei Minuten geschlossen. Schlange und sein rotgelockter Freund suchten Zuflucht auf einem künstlichen Sandstrand vor dem Atomkraftwerk, fanden eine kreisrunde Holztheke unter einem bunten Zirkusschirm, sitzen an einem der Bierstände vor den Hotel- und Kongresskomplexen des Wunderlandes. Miesester Tiki-Bar-Style. Blechern dröhnt aus grauen Sirenen „Country Roads“ – der Dance-Mix.

„Alter, wir haben noch acht Stunden vor uns, und ich könnt jetzt schon alles kaputtkloppen.“ Schlange schwenkt ungeduldig sein Bier.

Wie Stalagmiten stapeln sich leere Plastikbecher vom Tresen den gelben, roten und orangefarbenen Zeltbahnen entgegen. Die anderen Typen unter dem Schirm scheinen seit Mittag das blonde Nass zu

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Ein Leben als Exhi

Dies ist die Geschichte von Alfred Esser. Seit er denken kann, zeigt er seinen Penis Frauen gerne aus einiger Entfernung, erigiert und am Schaft rasiert. Pervers, finden die meisten. Normal, fand Esser eines Tages und gründete einen Selbsthilfeverein für Exhibitionisten. „Es geht um Anerkennung“, sagt er. Von unserem Gastautor Ralf Grauel.

– Der Text ist im Ruhrbarone-Magazin#2 erschienen. Mit unseren Printprodukten versuchen wir langen Lesegeschichten, Foto- und Grafikstrecken den Raum zu geben, den sie verdienen. Aktuell ist unsere vierte Ausgabe zum Oberthema GRENZEN auf dem Markt. Reinschauen lohnt sich! –

Alfred Esser steht im Gebüsch und onaniert. Zwei Meter von ihm entfernt hockt die Fotografin und fummelt an der Kamera herum. Esser ist Rechtshänder, sein Arm pumpt hektisch. Ständig rutscht die Hose herunter, mit der linken Hand hält er sie fest, die rechte reibt. Er wollte sich nur von einer Frau fotografieren lassen. Jetzt wechselt sie den Film, guckt nicht mal hin und er wichst einfach weiter.

Ein Feldweg neben einer Autobahn mitten im Ruhrgebiet. Der Himmel ist blau, vom Feld her weht ein kalter Wind. Das Laub schimmelt, mittendrin steht Alfred Esser und ist ganz aufgekratzt. Doch aus der Erektion wird trotzdem nichts. „Lampenfieber”, meint er später. Er habe es noch nie vor der Kamera gemacht oder vorher mit der betreffenden Frau geredet. Esser steht vor seinem Auto. Ich sage, „ich mach mal so” und winke ihm aus einem halben Meter zu. Esser versteht. Der Fotografin streckt er die Hand hin und sagt, es hätte ihm sehr gut gefallen, schließlich zeige er sich nicht

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RUHRBARONE #4 – GRENZEN jetzt im Handel!

Die Welt schreit nach Freiheit, was wir brauchen sind Grenzen. Die US-Immobilienblase, Deep Water Horizon, Fukushima und das endlose Euro-Debakel. Ein Leben auf Flatrate endet im Supergau. Nicht nur die Maja sehen für 2012 die letzte Grenze erreicht, auch wir RUHRBARONE sind an unsere gegangen: an die Grenzen des guten Geschmacks (mit Surströmming), an die Grenzen des Machbaren (mit Marty McFly), an die Grenzen des Überflusses (mit Kernie und Co.). Wir haben sie gesucht – die körperlichen und seelischen – fanden Angstneurosen, Querschnitter, Parkinson und Gender-Hopping.

Und jetzt können wir endlich sagen: DAS NEUE MAGAZIN IST RAUS! 172 Seiten geballtes Lesevergnügen, abgefahrene Fotostrecken, irre Illustrationen.

Unsere Titelgeschichte erzählt von dem Leben mit einem grenzüberschreitenden Ehemann, einem durchgeknallten Arschloch, das letztendlich im Drogenwahn versucht, die Autorin zu erstechen. Ralf Grauel berichtet vom Versuch, den Schrebergarten seiner Eltern zu verkaufen. Bestsellerautorin Juleska Vonhagen porträtiert einen Menschen, der seit seiner Kindheit in einer Angststörung gefangen ist. Olga Kapustina definiert die Grenze zur letzten Diktatur Europas.

Die Stories in diesem Mag sind so unterschiedlich wie die Autoren, Fotografen und Grafiker, die sie erzählen, so unterschiedlich wie die Meinungen zum Thema Grenzen und Freiheit. Ich danke euch allen für das Herzblut, das wir gemeinsam vergossen haben. Ihr wart großartig!

Was mir die vierte Ausgabe deutlich gemacht hat: Wir sind Ruhrbarone – wir sind nicht frei, wir haben Ideale und ein verdammtes Ziel vor Augen. Wir werden das beste Magazin des Ruhrgebiets machen, ach was, das beste Magazin Deutschlands! Und auf dem Weg dorthin treten wir jede Grenze ein.

Bastian Schlange

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CRACK – von der Liebe zu einer Frau

Stacey* war Lohnbuchhalterin in San Francisco, ich war dort Fahrradkurier. Der Dispatcher hatte mich zu einer falschen Adresse geschickt, dort saß sie zufällig hinterm Tresen, weil sie für eine kranke Kollegin eingesprungen war, und strahlte mich an. „Schicksal“, sagten wir später immer, wenn Freunde uns fragten, wie wir uns kennengelernt hätten. Ein Beitrag von Ralf Grauel.

Illustration: David Latz, nonstopnerds

(diese und andere stories auf echtem papier im aktuellen ruhrbarone-magazin: rb#3 – männerwelten. einfach bestellen.)

Zu unserem ersten Date trafen wir uns an einem Sonntagabend in Berkeley, dort war sie geboren und aufgewachsen, dort wohnten auch noch ihre Mutter und ihre dreizehnjährige Tochter. Als wir uns kennenlernten war ich 24 Jahre alt, sie war 26. Am Montag nach unserem Date holte ich sie aus ihrem Büro im Financial District ab und nahm sie mit in mein Hotel. Wir gingen in mein Zimmer, zwölf Quadratmeter groß, draußen unter dem Fenster gab einen rot blinkenden Neonschriftzug, der erst um zwei Uhr nachts ausgeschaltet wurde, Stacey blieb über Nacht, holte am nächste Tag Kleidung nach und zog sofort bei mir ein. Ich fand das romantisch.

Das Hotel lag in der Ellis Street, Ecke Mason Street. Gegenüber von meinem Hostel war das Hilton, auf meiner Straßenseite aber begann das Downtown-Ghetto von San Francisco, Tenderloin genannt. Ein paar Schritte die Straße runter lag die Glide Memorial Church, dort standen ab 16.00 Uhr die Obdachlosen der Stadt für eine warme Mahlzeit und ein Bett an, die Schlange ging um den ganzen Block. Der Park gegenüber der Kirche war dann schon verseucht mit Dealern und mit Crackheads.

Es dauerte zwei Wochen, bis ich merkte, dass sie Crack-süchtig war. Wiederum eine Woche später verprügelte sie aus Eifersucht eine Frau, die ebenfalls in dem Hostel wohnte und wir mussten ausziehen. Ich besorgte uns ein kleines kaputtes Motorboot, das am Pier 39 im Hafen von San Francisco lag, dort wohnten wir die nächsten anderthalb Jahre. Nachts konnten wir Alcatraz und die Bay Bridge sehen. „Wenn wir uns hier streiten“, dachte ich, „landen meine Klamotten im Wasser.“ Es kam schlimmer.

Stacey war eine auffällig schöne schwarze Frau. Wenn wir im Bus irgendwo hinfuhren und uns in die letzte Reihe setzten, gab es oft böse Blicke von „homeboys“, die sich demonstrativ uns gegenüber setzten und mich, den „white boy“, oder sie anstarrten. Wenn ich darauf reagierte, zog mich Stacey aus dem Bus, schimpfte mich aus, weil ich wohl die Waffe im Hosenbund einer der Jungs nicht gesehen hatte. Ich lachte, sie solle mich mit dem Ghettokram in Ruhe lassen.

Stacey war impulsiv, lebendig und sie war sehr süchtig. Unter der Woche ging sie ins Büro, trug teure Kostüme, sie hatte sogar eines von Chanel. Alle zwei Wochen, wenn sie ihren Paycheck hatte, kam sie Freitags nach Hause, zog sich, noch bevor ich von der Arbeit kam, um. Sie hatte eine bestimmte Kappe, die sie aufsetzte und bestimmte Kleidungsstücke, die sie anzog, bevor sie in irgendein Crackhaus in irgendeinen Ghetto ging, und ihr Geld und später unsere Ersparnisse verrauchte. Meistens kam sie am Sonntag nach Hause, manchmal aber auch erst Dienstag oder Mittwoch. Ihre Kleidung war dann völlig verdreckt, sie stank, war ausgezehrt und sah furchtbar traurig aus und verloren. Stacey hat diese Kleidungsstücke nie weggeschmissen. Sie hat sie ein paar Tage später gewaschen und zu den anderen Sachen gelegt.

Natürlich haben wir immer wieder versucht, gegen ihre Sucht anzukämpfen. Noch bevor wir auf das Boot zogen, habe ich ihr gesagt, dass sie sich entscheiden soll. Die Drogen oder ich. Sie hat mir nach jedem Exzess versprochen, aufzuhören. Sie ging auch irgendwann zu Cocaine Anonymous. Die Selbsthilfegruppen fanden mehrmals in der Woche statt, sie kam dann abends spät nach Hause, mit dem Bus, müde und abgekämpft. Ein Auto hatten wir nicht, wir hatten ja nie Geld. Einmal war sie acht Wochen am Stück sauber. Der Absturz danach war umso schlimmer, ihre Schuld umso größer.

Anfangs war ich froh wenn sie wieder nach Hause kam, dann war ich traurig, dann wütend. Natürlich verstärken solche Dramen auch die Liebe, man verwechselt das ständige Leid mit Leidenschaft. Aber wie bei einem fallenden Börsenkurs geht dieses Auf und Ab der Gefühle kontinuierlich nach unten. Irgendwann fühlt man nichts mehr. Danach geht es ins Negative, mit Gefühlen, die man nicht empfinden möchte, schon gar nicht für einen Menschen, den man eigentlich liebt: Abscheu, Verachtung, Hass.

Es wäre falsch zu sagen, Staceys Sucht habe alles zerstört. Richtig ist: Die Sucht verhinderte, dass irgendetwas auch nur entstand. Sucht zehrt alles aus. Geist, Körper, Seele, die Liebe. Aus der Hoffnung, die so wichtig ist, damit ein Süchtiger heilt, aus den vielen Versprechen, die man macht, werden beim Süchtigen Lügen, mit denen er sein kaputtes Leben tarnt. Bei dem Partner eines Süchtigen aber vertrocknet alles. Pläne und Zuversicht verdorren, übrig bleibt Zynismus.

Wenn man mit jemanden zusammenlebt, der süchtig ist, kann man nicht planen, träumen, nichts entwickeln. Man kann auch nicht streiten oder, wenn man sauer ist, kurz mal um den Block laufen, wie man das in einer normalen Beziehung machen würde. All das geht nicht, weil man bei jeder Unwägbarkeit Angst hat, dass der andere konsumiert. Also geht man auf Vollkontakt, passt ständig auf. Außerdem, und das fiel mir erst Jahre später auf, hat immer der andere Schuld, der Süchtige, egal was passiert. Dieses Ungleichgewicht hält niemand aus.
Anfangs log ich noch für sie, vor Freunden, vor ihrer Familie, um ihr den Weg zurück ins normale Leben nicht zu versperren. Der Freundeskreis schrumpft. Sie wollte mit mir nach Deutschland fliehen. Aber da gibt es doch auch Drogen, antwortete ich. In Wirklichkeit glaubte ich nicht mehr, dass sie es schaffen würde.

Jede Droge macht anders süchtig. Crack produziert eine fatale körperliche Abhängigkeit. Ich wusste das, weil ich es selbst ausprobiert hatte. Als ich herausfand, dass sie Crack rauchte – ein Mitbewohner hatte mich drauf aufmerksam gemacht, kurz darauf kam ich früher von der Arbeit, fand sie high im Zimmer – stellte ich sie zur Rede. Wir stritten, ich sagte, sie müsse sich zwischen mir und der Droge entscheiden. Sie sagte, es sei nicht so schlimm, ich wüsste doch gar nicht, worüber ich rede. Wir gingen in den Park, sie besorgte die Droge und gingen wieder aufs Zimmer.

Crack wird aus Kokain hergestellt, das mit Backpulver vermischt und aufgebacken wird, so dass es zu kleinen kristallinen Bröckchen verklumpt. Wenn man das in der Pfeife raucht, knistert es, und es stinkt nach Plastik. Ich war sofort high, redete in einem fort, fühlte mich großartig, interessiert und inspiriert, als hätte jemand in meinen Kopf das Licht angeknipst. Stacey saß still auf der Bettkante, sah aus wie eine Süchtige die sich einen Schuss gesetzt hatte, wach, traurig.

Fünf oder zehn Minuten später verschwand das Hochgefühl, wurde zu einem Krampf, erst im Bauch dann kriecht es den Rücken hoch, krallt sich im Hinterkopf fest, ein Ziehen im Stammhirn, eine mächtige, körperliche Mischung aus Gier und Angst, die sich nur durch mehr Crack beenden lässt.

Ich hatte zweihundert Dollar in der Tasche, in dieser Nacht gaben wir alles Geld aus, das ich besaß. Als es im Park nichts mehr gab, fuhren wir mit dem Bart (Bay Area Rapid Transit) nach Oakland gingen dort in ein Housing Project besorgten uns mehr, saßen bei einem anderen Süchtigen im Haus, rauchten und suchten, als wir nichts mehr hatten, den Teppich nach kleinen Klümpchen ab.

Am nächsten Tag erinnerte ich mich an jeden Moment dieser Nacht. Die Gier, die Trostlosigkeit, der Stumpfsinn und diese unglaublich starke, körperliche Macht, mit der diese Substanz über meine Persönlichkeit verfügen konnte. Ich stellte Stacey vor die Wahl und natürlich schwor sie, aufzuhören.

Wenn ihr Verlangen Tage oder Wochen später mächtiger wurde, und sie merkte, dass sie konsumieren musste, auch als wir schon auf dem Boot wohnten, flehte sie mich an, zu Hause rauchen zu dürfen, damit sie nicht an diese schlimmen Orte musste, in diese verseuchten Crackhäuser voller Huren, Kranker und Aussätziger. Ich konnte das nicht. Ich wollte nicht dabei sein, wenn sie zerstört, was ich liebte. Sie zu sehen, wenn sie high war, war ein Anblick ohne Hoffnung, ohne Licht, der traurigste Anblick, den es gibt.

Als ich sie nach einem Jahr das erste Mal verließ, flehte sie mich an, zurückzukommen, also ging ich zurück, bis zum nächsten Rückfall. So ging das hin und her. Sie verlor Ihre Jobs, fing sich, erlebte einen Rückfall, verlor den nächsten Job und ich die Hoffnung. Als ihr Flehen nichts mehr half, drohte sie, meinen Freunden zu schaden, wenn ich nicht zurückkehren würde. Sie würde Leute kennen, die für sehr wenig Geld, bösen Dinge tun würden. Das musste ich ernst nehmen.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits heimlich Geld beiseite geschafft, ich hatte mir eine Ausrüstung gekauft, Zelt und Rucksack, um die Stadt für eine Weile zu verlassen und sie in dem Glauben zu lassen, ich wäre nach Hause geflogen. Tatsächlich aber reichte mein Geld für ein Ticket nach Deutschland noch nicht.

An einem Wochenende, wir hatten ein Auto gemietet, um zu einer Familienfeier zu fahren und uns auf dem Weh dorthin fürchterlich gestritten, ließ ich sie mit dem Auto stehen, fuhr mit der Bahn nach Hause und packte meine Sachen. Ich rief ihre Mutter an und erzählte ihr, dass ihre Tochter süchtig sei, und sagte ihr, Stacey würde bald ihre Hilfe brauchen. Dann fuhr ich für zwei Wochen in die Berge und zog anschließend in eine andere Gegend der Stadt und arbeitete so lange, bis ich das Geld für die Heimreise zusammen hatte.

Später, als ich in Deutschland gemeldet war, bekam ich Post von einer Inkassokanzlei aus London. Der Mietwagen, mit dem ich Stacey damals zurückgelassen hatte, wurde nie abgegeben, sondern er wurde erst Wochen später am Rande des Freeway zwischen Oakland und Berkeley gefunden, mit zerschlagenen Scheiben, von Kugeln durchlöchert, mit dem Auto soll vorher ein Drive-by-Shooting begangen worden sein. Ich rief bei der Kanzlei an, worauf die sich nie wieder bei mir meldete. Das war für mich das Ende der Geschichte.

Stacey hatte wohl den Wagen verkauft und sich mit dem Geld über die ersten Wochen gerettet. Meinen Freunden hat sie nie etwas getan. Ihre Mutter reagierte, wie sie schlimmer nicht hätte reagieren können, sie verstieß ihre Tochter. Stacey blieb auf unserem Boot wohnen, verlor ihren Job, fing irgendwann an, ihren Körper für Drogen zu verkaufen. Das erzählen mir Freunde, die auch auf dem Pier wohnten.

Ein, zwei Jahre später kam sie langsam zu sich. Sie lernte einen Zahnarzt kennen, und bekam mit ihm einen Sohn. Mit diesem Sohn lebt sie heute in Walnut Creek, allein. Ich weiß das, weil ich sie neulich im Internet gefunden habe. Ich glaube, sie raucht immer noch.

*Name geändert

MELODY BAR – die Erinnerungen eines Seemanns

Die Nacht auf der Karibikinsel ist schwül, die Mädchen sind hübsch und die Drinks hochprozentig. Als der Matrose mit dem Akkordeon wieder zu sich kommt, ist sein Schiff ohne ihn ausgelaufen. Was nun? Horst Hahn erlebt in den nächsten Monaten, wie anstrengend das Schattenleben auf Aruba ist. Ein Beitrag von Stefan Krücken.

Illustration: Salle, New Hope Tattoo

(diese und andere stories auf echtem papier im aktuellen ruhrbarone-magazin: rb#3 – männerwelten. einfach bestellen.)

Neben einer gut sortierten Pornosammlung ist die Qualität der Mahlzeiten wichtig während einer langen Reise auf See. Je schlechter das Essen, desto schlechter ist die Laune der Mannschaft, das ist die Regel. Auf meiner ersten Fahrt als Leichtmatrose, es ging auf einem Frachter von Bremen nach Hongkong, hatten wir noch nicht den Suezkanal erreicht, als eine Meuterei drohte. Was unser „Smutje“, ein stämmiger, etwas dösiger Kerl namens „Fidus“ zusammenrührte, stellte unsere Geschmacksknospen vor unlösbare Probleme. Selbst die simpelsten Reisgerichte rochen säuerlich und wenn die Tür zu seiner Kombüse offen stand, erinnerten die Dünste, die heraus waberten, an einen ungelüfteten Schweinestall.

An wenig luxuriöse Lebensbedingungen waren wir gewöhnt. Eine Rattenplage setzte unserer Moral zu, und die Kakerlaken krabbelten in Scharen durch die Unterkünfte. Zum Zeitvertreib veranstalteten wir Rennen, in dem wir die Schaben mit Feuerzeugen über Glasplatten laufen ließen. „Fidus‘“ Fraß gab uns den Rest. Im Namen der Matrosen beschwerte sich der Bootsmann bei der Schiffsführung. Nach einem Probeessen – Fidus servierte eine Erbsensuppe, die gegen die Biowaffenkonvention der Vereinten Nationen verstieß – entband man den Smutje von seinen Aufgaben. Wie sich herausstellte, war er ein gelernter Mechaniker, dessen kulinarische Qualifikation darin bestand, dass er in der Kantine einer Werft Kessel gewartet hatte. Wie so oft hatte die Reederei Kosten gespart, und wie so oft auf Kosten der Seeleute. In Hongkong, das versprach uns der Kapitän, sollte ein echter Koch gemustert werden.

Die Wahl fiel auf Shang, einen klein gewachsenen, leisen Chinesen, der samt seiner Familie und drei kleinen Kindern an Bord kam. Gleich seine erste Mahlzeit begeisterte uns: Ein wunderbares Curry, perfekt zubereiteter Reis, Gemüse, dazu dieses weiße, zarte Fleisch.

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„Die mit den fettesten Karren haben die dreckigsten Schwänze“

Über das Leben als Nutte am Straßenstrich.
Ein Gespräch mit Eva X., die in Dortmund hinter dem Hornbach arbeitete.

(diese und andere stories auf echtem papier im aktuellen ruhrbarone-magazin: rb#3 – männerwelten. einfach bestellen.)

Das Objekt besteht aus drei Etagen: unten die Bar, oben die Betten.
Die Bar ist sauber, etwas spartanisch eingerichtet und ca. 70 qm groß. Ein Tresen, vier kleine Tische mit Cocktail-Sesseln drumherum, alles dunkelbraun furniert. Drei Arcade-Spielautomaten, angestaubte Plastikblumen, vier Überwachungskameras mit Schwenkköpfen. Kein Rotlicht. Keine Bilder an den Wänden. Schnuckelig.
Auf den oberen zwei Etagen befinden sich insgesamt zehn Apartments, in die man diskret durch einen kleinen Flur gegenüber des Tresens gelangt.
Unten an der Bar riecht es wider Erwarten nach nichts: keine schweren Parfums, welche die Damen wie Skandale hinter sich herziehen, kein Sex-Geruch. Es ist noch nicht einmal verqualmt.
Die Musik läuft auf Zimmerlautstärke.
Drei Bulgarinnen bespielen die Automaten. Wie hypnotisiert starren sie auf die bunt flatternden Bildchen und machen keinen Mucks. Ihre Umgebung scheint sie wenig zu beeindrucken.
Ein einzelner Gast sitzt an einem der kleinen Tische. Zwei Mädchen, die nicht älter als vierzehn aussehen, wärmen sich an der Heizung auf.
Weil ich nicht genau weiß, was mich hier heute Abend erwartet, bin ich so mit Adrenalin vollgepumpt, dass mir jedes Geräusch, jede Stimme wie ein lautes Scheppern vorkommt.
Ich bin im Club Escort, das Laufhaus, das zum Dortmunder Straßenstrich hinterm Hornbach gehört.
Nach drei Pinnchen Wodka stelle ich mich dem jungen Barkeeper als Clarissa vor und erzähle ihm, warum ich hier bin.
Ich will wissen, warum Prostituierte das machen, was sie machen.

Der Barkeeper – Anfang zwanzig, gelernter Restaurant-Fachmann – stellt sich mir als Andi vor und beugt sich über den Tresen.

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TROCKENFICK UND MÄNNERKÄSE – AUF DEM PFAD DER HERZENSKRIEGER

Männer, wo seid ihr? Einst waren wir Abenteurer, Entdecker, Krieger. Die Herrscher einer Welt, die wir geformt und uns untertan gemacht haben. Was hat der Fortschritt nur aus uns gemacht? Playstation, Polstermöbel und Penis-Pumpe. Wir sind weich geworden. Bücklinge der Emanzipation. Heldenmut gibt es nicht mehr, Aggressionen sind aufs Scheißhaus verbannt. Frauen haben den Thron der Gesellschaft bestiegen und uns zu ihren willigen Knechten gemacht. Männer, wir sagen: Nein! Wetzt eure Schwerter und folgt uns auf den Pfad des Kriegers. Nur Waschlappen ergeben sich ihrem Schicksal. Wir waren bei dem Männer-Tantra-Abend einer Herzenskrieger-Gruppe. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

(diese und andere stories auf echtem papier im aktuellen ruhrbarone-magazin: rb#3 – männerwelten. einfach bestellen.)

„Wenn irgendwas schief läuft, boxt du uns raus, oder?“ Joswig zieht an seiner Kippe. „Ich hab echt Schiss.“ Der Rotschopf schaut zu Schlange. Sein Freund nimmt die Pornobrille von der Nase und schüttelt den Kopf.

„Alter, ich kann nur besoffene Typen aus ner Kneipe schmeißen.“ Schlange streicht sich mit der Hand über seinen Schnäuzer. „Ansonsten keine Kampferfahrung: Zivi gemacht und auf die Fresse gekriegt. Hast du gedient?“

Joswig grinst. Chucks und Hippie-Tasche passen nicht zur Bundeswehr. „Och, ich hab mich blöd schreiben lassen. Durfte da ein Jahr in so ner Praxis antanzen und mit meiner Therapeutin Kaffee trinken.“

„Ja, das kannste.“ Schlange reicht Joswig eine Kippe. „Aber das wird gleich kein Kaffeekränzchen. Wir treffen auf echte Krieger. Also reiß dich gefälligst zusammen, du Lusche.“

Die sexuelle Selbstbestimmung, Emanzipation, das Frauenwahlrecht – wenn jemand in den vergangenen 50 Jahren gepunktet hat, dann die Frau. Sie hat sich als moderne Kriegerin bewiesen, sich Rechte erstritten und begonnen die Gesellschaft zu verändern. Frauen sind unabhängiger geworden, haben einen Schritt in die Zukunft gemacht und müssen nicht mehr um jeden Cent betteln. Die Machtverhältnisse sind verschoben. Mit dem Wandel kommen neue

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Der Traum von der Wiedergeburt der Kirche St. Nicholas

Homepage von St. Nicholas

Vor zehn Jahren griffen islamistische Terroristen die USA an. Durch die vier Anschläge kamen innerhalb weniger Stunden an die  3.000 Menschen ums Leben. 

Wir alle wissen, wo wir waren, als wir von den Terroranschlägen am 11. September 2001 erfuhren. Die Bilder der brennenden Zwillingstürme, das zerstörte Pentagons, die von den Terroristen zum Absturz gebrachte United-Airlines-Maschine, der Zusammenbruch des World Trade Centers, das alles hat sich in unser Gehirn eingebrannt. Heute erscheinen zu dem Thema sehr viele gute Berichte, Reportagen und Analysen und wir sollten sie lesen, um uns das Geschehene vor Augen zu halten, um uns daran zu erinnern, wem dieser Angriff galt: Dem Westen, der Demokratie, einer Lebensweise, in der jeder das Recht hat, sein Glück zu suchen, und in der jeder wählen kann, wie er leben möchte. Für all das, was der Westen ist, was er verkörpert, wird er von seinen Feinden gehasst. Von islamistischen Terroristen wie von vielen anderen. Denn sie alle wissen, sie haben der Kraft eines Menschen nichts entgegenzusetzen, der einmal erkannt hat, dass er sein eigener Herr sein kann.

Am 11. September wurden durch die Anschläge in New York nicht nur die Türme des World Trade Center zerstört, sondern zahlreiche

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Elend de luxe – Heime in den 70-er Jahren

Kinderheim Foto: Herrmann/Bonifatiuswerk

In Schulzeiten ärgerte mich mein Geburtstag, so kurz vor Silvester. Nicht, weil ich nie in den Genuss der üblichen Hausaufgabenbefreiung kam – weil ich sportlich untalentiert war, aber für diese Siegerurkunde bei den Bundesjugendspielen immer ein paar Zentimeter weiter springen und ein paar Sekunden schneller laufen sollte als mein Banknachbar, knapp 14 Tage jünger als ich. Als Versager baut man sich seine Ausreden zurecht.

Als gestern der Runde Tisch Heimerziehung seine Ergebnisse vorstellte, freute ich mich fast. Wäre ich nur zwei Jahre früher ins Heim gekommen, könnte ich mich jetzt in die Schlange stellen, um die jämmerliche Rente oder Entschädigung zu kassieren. Aber der 31.12.1975 ist Stichtag für Ansprüche aus Misshandlungen in staatlicher und kirchlicher Obhut. Ganz ehrlich, ich fühle mich nicht benachteiligt. Ich kam 1977 ins Heim, ich wurde nicht geschlagen, in Keller gesperrt, vom Bauern in der Nachbarschaft als Zwangsarbeiter missbraucht, und einen Erzieherschwanz habe ich auch nie in der Hand gehabt. Was man Kindern in den 70-er Jahren in Heimen antat, war nicht böse oder individuellem Fehlverhalten des Personals geschuldet, war kaum sichtbar und tat nicht weh. Es war systembedingt, zwangsläufig, Ergebnis  ordentlicher Verwaltungsakte.

Unser Heim, eine städtische Einrichtung am Rande des Ruhrgebiets,  hatte nichts zu tun mit den pädagogischen Strafanstalten der 50-er und 60-er Jahre, deren Insassen vor allem eines vorgeworfen werden konnte: Sie hatten sich zur falschen Zeit die falschen Eltern ausgesucht.  Auch wenn solche Einrichtungen nicht im düsteren Gewölbe des gesellschaftlich Verdrängten existieren, sondern immer auch den Common Sense vertreten, waren sie besonders perfide. Kein Kind war freiwillig dort, war aber dem Staat oder seinen subsidiären Einrichtungen schutzlos ausgeliefert. Wie man seit den Horrorgeschichten aus dem Dortmunder Vinzenzheim nicht mehr leugnen kann, war es damit auch vollkommen recht- und würdelos.

Ich ertrage die Erzählungen kaum. Vor zwei Jahren, nachts im Winter auf einer Heimfahrt, lief im Radio der Bericht eines ehemaligen Heimkindes. Das Mädchen bot als Zwölfjährige dem Heimpfarrer an, er könne doch sie missbrauchen, wenn er im Gegenzug dafür von ihrem fünfjährigen Bruder abließe. Ich kam an dem Abend eine halbe Stunde später nach Hause.

Das moderne, demokratische Heim der 70-er Jahre war dagegen ein lichtdurchfluteter Freizeitpark. Im schmalen Bücherschrank neben dem prächtigen Aquarium (Hobby des Sozialpädagogen) standen Werke wie „Studien zur politischen Ökonomie“ und „Fürsorgeerziehung im Kapitalismus“. Die 68-er mussten also hier schon durchgegangen sein. Als ich das erste Mal ein Buch ausleihen wollte, musste der Erzieher erst eine Viertelstunde nach dem Schlüssel für den Schrank suchen.

Der Röttgershof war ein reines Jungenwohnheim, die nie mehr als 20 Bewohner waren zwischen 15 und 19 Jahre alt, hatten die übliche Karriere hinter sich. Man kann die Elemente beliebig zusammensetzen. Desaströses Elternhaus, runtergekommenes Kinderheim, Pflegefamilie, kurzzeitige Rückkehr zu den Eltern, Jugendknast, Psychiatrie, Sonderschule, Bahnhofstrich, BTM, abgebrochene Ausbildung. Wie es sich für solche Einrichtungen gehörte, war das Heim am Rande der Stadt versteckt, nur mühselig zu erreichen. Nebenbei betrieb man dort eine Jugendbildungsstätte, die für uns aber  im Mittelpunkt stand. Die Gäste bekamen alles, das bessere Essen, wenn es eng wurde, auch einmal unseren Fernsehraum und jeden Wunsch erfüllt. Die Seminarteilnehmer brachten Auslastung, Belegzahlen, Erfolge, die man im Jugendamt wohlig schnurrend zur Kenntnis nahm.

Das Elend des Heims war luxuriös. Wir hatten ein Fotolabor mit zehn Leitz Focomaten, mein Zimmer wurde zweimal die Woche gereinigt, alle drei Monate kam sogar der Fensterputzer, die Wäsche musste nur noch sauber, gebügelt und notfalls geflickt aus dem Keller geholt werden. Wenn wir mal Lust hatten auf ein Zappa-Konzert in der Westfalenhalle, organisierte ein Erzieher Eintrittskarten und Bulli. Nebenbei fand er Zappa auch klasse und konnte sich den Auftritt bei freiem Eintritt während der Arbeitszeit angucken. Nach 22 Uhr bekam er dafür sogar noch Nachtzuschlag.

Die Rundumversorgung führte dazu, dass der Laden reibungslos lief, die später Entlassenen aber unfähig waren, mehr als eine Dose Ravioli zu erwärmen. Mein Vorschlag, einen Kochkurs einzurichten, scheiterte im Ansatz. Wozu kochen, wenn es doch dafür Personal gab? Die Frauen in der Küche, auf der untersten Lohnstufe des öffentlichen Dienstes angesiedelt, sahen aus wie Beschäftigte in der LPG Schweinemast und benahmen sich angemessen. Sie bekamen täglich eine außertarifliche Leistung. Sie durften herabsehen auf die männlichen Jugendlichen und sie entsprechend behandeln. Mittags gab es fünf Mal die Woche Bratkartoffeln, zubereitet in einer quadratmetergroßen Industriepfanne. Ließ mal dieses Mahl nur einige Minuten stehen, setzen sich Öllachen auf dem Teller ab, man hätte BP im Golf von Mexiko spielen können. Maden in den seltener gereichten Nudeln gab es nicht, die wurden beim Kochen mit der Kelle abgeschöpft.

Kaffee stand nicht im Bedarfsplan. Eine große elektrische Thermoskanne, sieben Tage rund um die Uhr im Betrieb, nahm die Reste der Gäste auf. Am Wochenende wurde sie gereinigt. Schüttetest du Milch in den Kaffee, verfärbte sich er sich nicht goldbraun, sondern trüb grau. Viele der Jungs schütteten regelmäßig Maaloxan in sich hinein. Andere Sachen, die auch nicht auf dem Plan standen, wurden von den Küchenfrauen in prallen Plastiktüten nach Hause geschleppt. Es gehörte zu den Pflichtübungen, in unregelmäßigen Abständen nachts in die Küche einzubrechen.

Ansonsten kümmerte man sich um die Bewohner so liebevoll, wie es der Dienstvertrag vorsah. Nachdem ich etwa ein Jahr interveniert hatte, bekam jedes Geburtstagskind einen Marmorkuchen, in Folie verschweißt, vermutlich aus der Metro, immer genau den gleichen Kuchen. Die Geburtstage wurden manchmal vergessen, dann musstest du um das Gebäck betteln. Gesungen hat niemand, gratuliert eher aus Versehen.

Man war besorgt. Einmal kam mittags ein Anruf eines Religionslehrers, mein Zimmernachbar Georg habe einen Suizid angekündigt, ob man mal nachschauen könne. Man schaute und teilte dem Anrufer mit, Georg schliefe. Am Abend erschien der Lehrer persönlich, Georg schlief immer noch, war aber mittlerweile blau angelaufen. Ihm wurde der Magen ausgepumpt, über die Angelegenheit nie wieder gesprochen.

Auch mich traf die fürsorgliche Betreuung. Regelmäßig erhielt mein Amtsvormund, den ich nie persönlich zu Gesicht bekam, Entwicklungsberichte. „Martins Grob- und Feinmotorik ist normal ausgeprägt“ stand da drin, „er hält sein Zimmer und seine persönlichen Sachen in Ordnung.“ Da fühlt man sich in seiner Persönlichkeit hinreichend gewürdigt. Mein angestrebtes Abitur wurde in die Erfolgsstatistik aufgenommen, obwohl das Heim weniger dazu beigetragen hat als der Fahrer des Linienbusses, der mich morgens meist pünktlich zur Schule brachte.

Versuche, der Institution zu entkommen, wurden nicht verhindert, sondern ungläubig zur Kenntnis  genommen. Der Pflegesatz betrug rund 2000 Mark pro Monat. Mein pragmatischer Vorschlag: „Gebt mir die Hälfte, und ich ziehe morgen aus!“, passte nicht ins Konzept. Es ging nicht um die Selbständigkeit der Betreuten, sondern um die Existenz der Einrichtung. Die lebte nicht für die Wünsche der Jugendlichen, sondern von einer guten Belegungsquote. Als das Heim schließlich ein Jahr vor meinem Abitur dicht gemacht wurde, erfuhren wir das gerüchteweise aus dem Erzieherbüro, ansonsten aus der Tageszeitung.

Auch der Versuch, der Armut zu entkommen, war schon lange vor Hartz IV verdächtig. Als ich einmal einen Ferienjob annahm, um für das Leben nach dem Heim etwas beiseite zu legen, wollte das Jugendamt den Erlös nahezu komplett kassieren. 50 Mark hätten mir zugestanden, für die Busfahrkarte, ein toller Überschuss, da ich morgens mit dem Fahrrad zur Zeche fuhr, in deren Eisenlager ich schuftete, na ja, tätig war. Die Erzieher waren in diesem Fall top und sorgten dafür, dass ich der Arbeit bezahlt nachgehen durfte.

Meine anschließende Lohnsteuerrückzahlung habe ich jedoch nie gesehen. Die brachte der Postbote. Was ich erst mit einem Nachforschungsauftrag beweisen musste. Die Mitarbeiterin der Verwaltung, die zuvor schon durch hübsche Pelzjacken aufgefallen war, kam dann irgendwann nicht mehr zur Arbeit. Das Geld bekam ich trotzdem nicht, auch vor Gericht musste ich nicht aussagen. Offensichtlich hatte man sich skandalvermeidend gütlich getrennt, die Frau hatte sich ja nicht wirklich was zu Schulden kommen lassen. Dafür erhielt mein Kumpel Thorsten fortan kleine Geldsendungen seines schwulen väterlichen Freundes, ohne dass die Umschläge aufgerissen waren.

Den anderen Jungs wurde Eigenverantwortung systematisch abtrainiert. Wer Glück hatte, bekam eine Lehrstelle als Anstreicher oder Bäcker, meist bei einem Handwerker, der mit der Stadt auch ansonsten gute Geschäfte machte. Wer die Lehre abschloss, galt als König oder Schleimer. Den kurzfristig Denkenden erschloss sich nicht der Sinn des regelmäßigen Frühaufstehens. Wer liegen blieb, wurde dreimal geweckt und anschließend vom Erzieher zur Arbeit gefahren. Wer sich auch dem verweigerte, hatte fünfzig Mark für die Monatskarte weniger, aber ansonsten ein bequemes Leben.

Niemand von uns erwartet neine Entschädigung, es ist ja nichts passiert. Da sind einfach zwei Systeme aufeinander gestoßen. Hier die Sozialverwaltung, die einen reibungslosen Ablauf liebt, da Heranwachsende, die anerkannt werden wollen, respektiert oder geliebt. Das passt halt nicht.

Nach dem Heim hat man sich eingerichtet oder versucht klarzukommen mit dem Gefühl, nie dazu zu gehören.  Man sieht sich kaum. Thorsten hat den Job verloren und trinkt. Er schlägt seine Freundin nicht mehr, seit sie ausgezogen ist. Frank hat den Wechsel von Sozialhilfe auf Hartz IV in einem niedersächsischen Kurort verkraftet, wo er sich ein bisschen was dazu verdient und jedes zweite Wochenende seine Töchter sieht. Peter traf ich mal völlig desorientiert an einem Samstag in der Fußgängerzone, unansprechbar. Am Montag darauf erfuhr ich dann, dass er zu diesem Zeitpunkt schon seine Freundin erwürgt hatte, als sie ihn verlassen wollte. Jahre nach der Haft wurde er in Thailand getötet. Udo hatte im Heim den Sozialpädagogensprech gelernt, pendelte jahrelang erfolgreich zwischen Drogen-, Bewährungs- und Obdachlosenhilfe, ehe er an einer Überdosis starb.

Neulich bei einem putzigen Heimkindertreffen unterhielten wir uns entspannt über dies und das, auch über Bücher. Jugenderinnerungen von Frank Goosen oder Sven Regener versteht keiner so recht. Markus fehlte. Er hatte wegen irgendeiner Streitigkeit ein Haus angezündet, anschließend gesessen und schämte sich wohl. Da ich etwas später kam, verpasste ich Stefan. Man berichtete mir von ihm: „Arme Sau, der ist nach ´nem Unfall im Gesicht total entstellt. Hat aber Schwein gehabt, er sieht es nicht. Er ist ja auch blind seitdem.“  Man versucht halt, irgendwie zurecht zu kommen.

*Namen der Beteiligten geändert