Der Nibelungenstream

Foto: Charlene Markow

Das Theater als Autor. Anlässlich der 24stündigen Nibelungenmarathon-Lesung im Rottstr5Theater vom 21. bis zum 22. Mai richtete der Dramaturg Carsten Marc Pfeffer einen Blogstream ein. Im Ergebnis entstand ein Gemeinschaftstext der Beteiligten. Eine spannende Chronologie, die anhand von Erlebnisberichten den Marathon Revue passieren lässt. Am 23. Mai ging der Rough-Mix online. Doch der Text wuchs weiter. Bis zum 31. Mai wurde der Blogstream mit nachgereichten Beiträgen ergänzt. Hier der Gesamttext.

Mit Beiträgen von Hans Dreher, Carsten Marc Pfeffer, Honke Rambow, Rasmus Rehn, Lydia Schindler, Chantal Stauder, Werner Streletz, Markus Tillmann.

 

 

Auftritt: die Kaffeemaschine

um 11.30 Uhr schreibt Chantal Stauder:

 

Ankunft in der Rottstraße. Hans, Felix, Oli, Arne und Charleen kümmerten sich bereits um die Bühne. Carsten begann sofort nach seinem Eintreffen, fleißig Brötchen zu schmieren. Käse und Mett. Kann man machen. Aus der Garderobe schleppte jemand eine Kaffeemaschine hervor. Großer Jubel. Noch ahnte die silberne Retterin der Nacht nicht, was ihr bevorstand. Sie sollte (wie die Crew der Rottstraße) den ganzen Tag und die ganze Nacht im Dauerbetrieb bleiben.

 

„Wo soll die Kaffeemaschine hin?“

„Zur Madonna.“

„Alles klar. “

„Auf `nen Tisch?“

„Nein, auf den Boden.“

„Alles klar…“

 

Hagen von Rott klickt sich durch

um 12 Uhr schreibt Carsten Marc Pfeffer:

 

Durchbloggen. Foto: Charlene Markow

Es ist jetzt Punkt 12. Es kann beginnen: 24 Stunden die Nibelungen als Nonstop-Lesung. Wieder so eine Wahnsinnstat im Rahmen des Bochumer-Ring-Projektes, der Großbaustelle des Rottstr5Theaters im Jahre 2011. „Viele Geschichten gibt es über die sagenumwobenen Nibelungen zu erzählen“, so hatte ich im Pressetext geschrieben eher verharmlosend gegenüber der irrsinnigen Textflut, die in den folgenden 24 Stunden über uns hereinbrechen wird. Das bisher gesichtete Material füllt zwei Billy-Bücherregale von Ikea. Wer soll das aushalten? Was wird dieses Kompendium mit uns machen? Wir werden sehen. Zumindest für das leibliche Wohl ist gesorgt. Dank der Kooperation mit der Literarischen Gesellschaft konnten wir ein kleines kostenfreies Burgunnen-Buffet anrichten, und so schmierte ich im Vorfeld gefühlte 1000 Käse- und Mettbrötchen, richtete appetitliche Obstkörbe an und schnitzte zu dekorativen Zwecken aus gewaltigen Eisbrocken sagenhafte Phantasiefiguren. Eine Sisyphusarbeit bei den hochsommerlichen Temperaturen. Nicht gerade Theaterwetter, dachte ich. Zweifelhaft, ob überhaupt Publikum erscheinen würde. Doch es gibt Projekte, bei denen kommt es nicht unbedingt auf Resonanz an, sondern darauf, dass man sie durchzieht. Und so schnitze ich weiter Zwerge, Elfen und Drachen in das schmelzende Eis. Doch nicht nur ich war fleißig. Während die Dramaturgie in der Brötchenküche beschäftigt war, richteten die leitenden Regisseure die Bühne ein. Arne Nobel zitierte Baudrillard und probte den Aufstand der Zeichen: einmal Heimtrainer samt Discokugel, zweimal Sofa und natürlich die orangeangestrahlte Madonna-Statue, der zu Füßen ein jungfräuliches Rugby-Ei liegt. Dazu ein paar Flaggen diverser Nationen, zerfetzt versteht sich. Im Grunde ist die Formel ganz einfach: Wer die Postmoderne inszeniert, sollte gleichsam die Chuzpe aufbringen, sie beenden zu wollen. Dann klappt es auch mit dem Bühnenbild. Natürlich darf der Spaßfaktor dabei nicht vergessen werden. Und so spannte Hans Dreher über die linke Bühnenseite eine gewaltige Leinwand, auf die alsbald via Beamer die Xbox projiziert wurde. Mit „The Elder Scrolls IV: Oblivion“ hatte der Regisseur ein gewaltiges Nibelungen-Panorama gefunden: digitale Finsterlinge, die sich durch ein mystisch aufgeladenes Mittelalter metzeln. Schon programmierte er die Avatare: Gunther, Siegfried und natürlich Hagen von Rott. Oliver Thomas kümmerte sich derweil um die Einlassmusik. „In The Light“ von Led Zepplin? „Nee, lieber Manowar“, insistierte Nobel: „The Crown and the Ring!” – Also gut. Dann kann es ja losgehen.

 

Alles zum halben Preis

um 12.10 Uhr schreibt Lydia Schindler:

 

Rasmus (mein guter Freund, mein liebster Arbeitskollege und Kommilitone, mein privater Psychologe – heute in der Rolle meines Lesepartners) und ich wanderten den Südring hinunter. Sexshop. Leerstehend. Plakat: “Alles zum halben Preis“.

Wir können uns den platten, spätpubertären Witz über gebrauchte Ware nicht verkneifen – biegen nach links – und finden bald darauf die „ Rottstrasse 5.“

Die Lesung ist bereits im vollen Gange, uns kommt von der Bühne eine kräftige, tiefe Stimme entgegen, die einen Kontrast bildet zum fröhlichen „Hey, kommt nur herein“ , dass irgendwoher aus den Zuschauerreihen klingt.

 

Hand aufs Herz

um 13 Uhr schreibt Werner Streletz:

 

Im vergangenen Herbst gehörte ich zu den Organisatoren der siebentägigen Nonstop-Lesung „Tugend und Laster“ der Literarischen Gesellschaft im Kunstmuseum; und brachte dabei E.A. Poes Geschichte um das Haus Usher zu Gehör (zur Stunde des Morgengrauens übrigens). 168 Stunden ununterbrochener  Marathon mit beinahe stündlich wechselnden Vorlesern, immer neuen Themen, Autoren und Stilen. Dagegen scheinen 24 Stunden Nibelungen eine eher leichte Übung zu bedeuten. Und so muss ich schmunzeln, als Arne Nobel nach dem ersten Schwung an Texten fragt: „Ist eine Stunde schon vorbei?“ Das ist sie noch nicht und so schiebt er einige allgemeine Sätze über das Themenkonzept an der Rottstraße und einen Nibelungen-Monolog nach. – 24 Stunden sind zwar keine 169 Stunden, doch einen vollen Tag sitzt man ebenfalls nicht so nebenbei ab.

Ambition trifft Reclam. Foto: Charlene Markow

Auch im vergangenen Jahr beim siebentägigen Nonstop hieß es Durststrecken zu überwinden. Zumal zu Zeiten zwischen Nacht und Tag. Wenn dem Vorlesenden über Stunden nur zwei Zuhörer gegenüber saßen. Und diese zum Organisationsteam gehörten. Doch nie wäre jemand auf die Idee verfallen, nun eine überlange Zigarettenpause einzulegen oder ein Nickerchen dazwischen zu schalten. Zumal die Möglichkeit bestand, dass die Livestream-Kamera diese unentschuldbare Unterbrechung in alle Welt hinausposaunen würde. Doch dessen ungeachtet war damals klar: Nicht die Zahl der Zuhörer ist wichtig – obwohl ein großes Auditorium natürlich wünschenswert ist. Die Lesung selbst ist das Ziel, das Ergebnis, das Kunstwerk. Sie gilt es möglichst pannenfrei zu verwirklichen. Als literarischer Dauerton gegen die oberflächliche akustische Umweltverschmutzung, der wir ansonsten täglich ausgesetzt sind. Als Vorbild für diese Haltung wären jene Aktionskünstler zu nennen, die ihre Projekte verwirklichen, ohne dass eine Außenwelt davon (zunächst) Kenntnis nimmt. Auch diese Künstler könnten sich Nachlässigkeiten erlauben, die niemandem auffallen würden. Doch – Hand aufs Herz – sie würden sich dabei nur selbst betrügen. Darum gilt auch an der Rottstraße: Es muss gelesen werden! Auch wenn nur eine überschaubare Zuhörerzahl im Gewölbe sitzt. Die Nibelungen – in unterschiedlichster literarischer Umkleidung – ziehen trotzdem weiter, ob von ihnen in Form traditioneller Balladen berichtet wird oder in der riskanten Montagetechnik von Heiner Müller in dessen verstörendem Theaterwerk „Germania Tod in Berlin“.

 

Braun, Beck, Brentano, Brecht…

um 13 Uhr schreibt Lydia Schindler:

 

Lydia und Rasmus lesen Müller. Foto: Charlene Markow

Wir beginnen zu lesen. Als erstes Heiner Müller. Germania 3. Warum? Weil es beißt. Es folgen die Gedichte. Wir lesen; ich bemerke, dass man uns aufmerksam zuhört und denke, dass das nur Höflichkeit ist. Doch ich  korrigiere  mich selbst nach höchstens 5 Sekunden. Bemerke, dass die Silhouetten vor uns grundsätzlich Gedichten lauschen – egal aus welchem Mund sie fallen.

Ich lese, dann liest Rasmus (Ich verliere mich in seinen Texten – was mich erstaunt – ich dachte nicht, dass das geht. Sich verlieren, wenn man irgendwo vorne steht.)

Ich fühle mich pudelwohl – was dazu führt, dass meine „andächtige Stimmung“ bald kippt. Man bringt mich zum lachen – und ich ein Zettelchaos auf den Lesertisch.

 

Witz und Enthusiasmus

um 14 Uhr schreibt Chantal Stauder:

 

Die Literarische Gesellschaft wurde durch drei engagierte junge Menschen vertreten, die nicht nur Blankverse mitgebracht hatten (Der Begriff der „Blankverse“ boten sehr viel später noch den Anlass für Arne Nobel darüber zu witzeln, dass er es geschafft habe, während der gesamten Veranstaltung nicht blank zu ziehen). Trotz ihrer ambitioniert vorgetragenen Beiträge und der Dauer, die sie zu überbrücken hatten, verlor ihr Ausdruck zu keiner Zeit an Witz und Enthusiasmus. Sehr sympathisch.

 

Tempus fugit

um 14 Uhr irgendwas schreibt Lydia Schindler:

 

Ich erstaune, wie die Zeit vergeht und schreibe der Welt da draußen eine SMS:

„Ist toll hier, komme wohl doch etwas später zu dir.“

Abschluss. Wir lesen noch einmal Heiner Müller. Was passiert? Rasmus haut mir ein Grinsen ins Gesicht, leider auch die Stuhllehne in den Rücken. Als Soldat kaut er an einem Knochen und hat dabei wohlmöglich einen Kameraden. Ich beginne zu brechen. Danach betreten Brunhild und Hagen den Raum.

 

Eintrag ins Gästebuch

um 15 Uhr schreibt Rasmus Rehn:

 

Hallo,

ich und Lydia haben am Samstag von 13:00 bis 14:45 Uhr im kleinen aber feinen
Theater an der Rottstraße Gedichte des 18. und 19. Jahrhunderts und ein paar
Auszüge aus Heiner Müllers grotesken Germania-Stücken vorgetragen.

Der 24stündige Nibelungenmarathon war eine gelungene Veranstaltung, in der
nicht nur das Heldenepos selbst, sondern auch viele weniger bekannte
Bearbeitungen des Stoffes rezitiert wurden, – ein wahhaftes „Nibelungenmahl“,
wie Benn sagen würde.

Es hat sehr viel Spaß gemacht. Vielleicht gibt es ja demnächst eine
Fortsetzung….?

 

Kopien leergelesen

um 15.05 Uhr schreibt Lydia Schindler:

 

Unsere Kopien sind leer gelesen. Mittlerweile würde ich mich in meinem Zettelwust auch nicht mehr zurechtfinden. Was bleibt? Neben einem übrig gebliebenem Brötchen mit Mett und Zwiebeln? Lust. Auf mehr lesen. Auf eine Wiederholung – Beim Hinausgehen schnappe ich mir ein Theaterprogramm.

 

Erinnerungen an Steckel

um 15.30 Uhr schreibt Werner Streletz:


Andreas Bittl und Felix Lampert bereiten sich auf die Show vor. Foto: Charlene Markow

Ich erinnere mich an die eindringliche Deutung des urdeutschen Stoffs durch den damaligen Intendanten des Schauspielhauses, Frank-Patrick Steckel. Eine Inszenierung, die mir lange in Erinnerung geblieben ist, und die seinerzeit zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden war. Lang, lang ist’s her. Sowohl die Inszenierung als auch eine Einladung des Bochumer Schauspielhauses zum Premium-Treffen in der Hauptstadt an der Spree. Tja…

 

Joggen in Stretch

um 16 Uhr schreibt Honke Rambow:

 

Ich hole meinen Anzug aus dem Schrank, „Abendgarderobe“ ist die Ansage, es ist also der schwarze Anzug, den ich echt lange nicht mehr getragen habe. Er stammt aus einer Zeit, als man dachte, dass Stretch-Materialien eine gute Idee für Anzüge seien. Eine Scheiß-Idee war das. Ein Anzug soll dem Mann Halt geben, eine Art moderne Rüstung sein, schützen vor den Wirrnissen des Business oder was auch immer. Stretch-Materialien tun das nicht, sie fühlen sich an, als würde man Joggen gehen. Da hilft es nicht, dass er teuer war. Nichtmal vernünftig in Form bügeln lässt er sich.

 

Zwei Päckchen Zigaretten

um 17 Uhr schreibt Honke Rambow:

 

Auf dem Weg von Essen nach Bochum fühle ich mich, als würde ich zu einer Blues-Brothers-Convention fahren. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze schmale Krawatte, schwarze (kaputte) Stoffschuhe als gezielter, ästhetischer Bruch. Na ja, eigentlich sind sie nur bequemer und man weiß ja nicht, was kommt.

Zwei Päckchen Zigaretten zur Sicherheit am Bahnhof. Es kann ja länger werden heute und irgendjemand findet sich immer im Rottstr5Theater, der zwischendurch schnorrt. Im Zweifelsfall Arne Nobel. Noch etwas essen? Nein, es gibt ja ein Burgunden-Buffet.

 

Wunderbar wahnsinnige Apotheose

um 17.30 Uhr schreibt Honke Rambow:

 

Irgendwie beginnt schon hier, meine Erinnerung zu verwischen. Nietzsche wird gelesen. Der Fall Wagner. Großartiger Text. Wunderbar wahnsinnige Apotheose im letzten Abschnitt.

 

Die weibliche Form von Recken

um 18 Uhr schreibt Honke Rambow:

 

Immer mehr Rottstr5ler treffen ein. Rumstehen in „Abendgarderobe“ im Hinterhof. Das sieht großartig aus. Die tapferen Recken sammeln sich. Es sind großartige Frauen dabei, aber es gibt keine weibliche Form von „Recken“.

 

Vorschläge zur (weiblichen) Güte

um 18.02 Uhr schreibt Markus Tillmann:

 

Donke Honke. Hier einige Vorschläge zur (weiblichen) Güte: Röckinnen? Reckabellas? Ragnaröckinnen? Oder mit Nietzsche gesprochen: „Definition des Germanen: Gehorsam und lange Beine.“ Weitere Vorschläge zur weiblichen Form von “Recken“ werden noch angenommen. Walküren aller Welt vereinigt euch!

 

Ein Best-of quasi

um 18.05 Uhr schreibt Chantal Stauder:

 

Markus Tillmann hatte eine wunderbare Compilation aus Nietzsches Ausführungen über Richard Wagner zusammengestellt. Ein Best-of quasi. Dabei stellte sich heraus, wie sehr auch Nietzsche bisweilen an der Welt, der Kunst und sich gezweifelt und wie sehr er bei all dem stets mit sich und seinem Urteil gehadert hatte. Für den aufmerksamen Zuhörer war es ein Lehrstück sondergleichen. Eines, das sehr viel über Nietzsche, Wagner und die Welt zu vermitteln vermochte.

 

Nietzsche-vs.-Wagner (Exorzismus-Remix)

um 18:10 schreibt Markus Tillmann:

 

Markus Tillmann gibt Wagner die Sporen. Foto: Charlene Markow

Die Geister, die ich rief… Warum nicht die Gelegenheit nutzen, einige hartnäckige Gespenster der deutschen Geschichte mit einer Nietzsche-contra-Wagner-Textcompilation auszutreiben, gerade dann, wenn hier und jetzt die Nibelungen verhandelt werden sollen? Es ist ja stadtbekannt, dass Friedrich Nietzsche zunächst Richard Wagner glorifizierte, alsbald aber mit ihm, diesem „dékadent“, der „uns die Gesundheit verdirbt“, abrechnete. Also los geht´s! Lese Ausschnitte aus „Der Fall Wagner“, „Nietzsche contra Wagner“ und „Ecce Homo“. „Ich habe Lust, ein wenig die Fenster aufzumachen. Luft! Mehr Luft!“, poltert Nietzsche, denn: „Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rührt, – er hat die Musik krank gemacht -“ Und wenig später schreibt Nietzsche: „Meine Einwände gegen die Musik Wagner`s sind physiologische Einwände: wozu dieselben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden? Ästhetik ist ja angewandte Physiologie. – Meine ‚Tatsache´, mein `petit fait vrai´ ist, dass ich nicht mehr leicht athme, wenn dies Musik erst auf mich wirkt; dass alsbald mein Fuss gegen sie böse wird und revoltiert: er hat das Bedürfniss nach Takt, Tanz, Marsch […]. Protestiert aber nicht auch mein Magen? mein Herz? mein Blutlauf? betrübt sich nicht mein Eingeweide? Werde ich nicht unversehens heiser dabei…“ Und auch das Theater bzw. das Theaterpublikum bekommt sein Fett weg: „Wir kennen die Massen, wir kennen das Theater. Das Beste, was darin sitzt, deutsche Jünglinge, gehörnte Siegfriede und andre Wagnerianer, bedarf des Erhabenen, des Tiefen, des Überwältigenden.“ Und ich beende meine Lesung mit einem Auszug aus dem Ecce Homo, in dem Nietzsche seinen Zarathustra sagen lässt „- und wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen. Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische.“

 

Hard Candy

um 18.34 schreibt Chantal Stauder:

 

Chantal und Linda an der Grenze zur Postdramatik. Foto: Charlene Markow

Ziemlich kurzfristig hatte ich der Rottstraße noch einen Text für die Nibelungenlesung angeboten und konnte eine Freundin dazu verpflichten, dieses Machwerk mit mir zu lesen. Eine ziemlich provokative Textcollage, die nibelungentauglich aufbereitet wurde. Vier Monologe: Gunter, Brunhild, Siegfried und Kriemhild. Ein nicht ganz unproblematischer Text allerdings. Der Grundstock bestand aus bitterbösen, schwarzhumorigen Textauszügen von Dirk Bernemanns Romantrilogie „Ich hab die Unschuld kotzen sehen“. Thematisch harter Stoff. Zusätzlich haben wir vereinzelt Fragmente aus dem Werk Heinrich Heines eingebaut und versucht, dem Text mit Passagen aus den Tagebüchern von Anaïs Nin und Sylvia Plath auch Tiefgründigeres beizugeben. Einen Tag vor der eigentlichen Lesung hatte ich mich also mit besagter Freundin für eine Leseprobe getroffen. Das Treffen artete allerdings in ein Streichduett aus. Ein Satz nach dem anderen flog raus. Was übrig blieb, gerierte sich trotz aller Änderungen nicht weniger hart als sich die ursprüngliche Fassung dargeboten hatte.

 

Trockener Humor

um 19 Uhr schreibt Honke Rambow:

 

Werner Streletz liest mit Carsten Pfeffer und Charlene Markow sein Stück „Volkers Lied“. Es gibt einen schönen, sehr trockenen Humor in dem Text. Pfeffer bringt das am besten rüber. Pfeffer-Humor.

 

Work in progress

um 19.15 Uhr schreibt Chantal Stauder:

 

Werner Streletz stellt sein Auftragswerk vor und rudert gleich zu Beginn zurück. Es sei lediglich ein Blick in die Werkstatt. Work in progress also. Nach einer Einführung las er mit Unterstützung von Carsten und Charleen. Timing, Pausen und Betonung – alles stimmte. So gelang es, den besonderen Witz und die Komik des Textes zur Geltung zu bringen. Nobel und Dreher lachten viel und waren vom Stück begeistert. Aber auch vom Publikum gab es für die Streletz`sche Version der Nibelungen viel Applaus.

 

Von Alzei bis Punk

um 20 Uhr schreibt Werner Streletz:

 

Lesen mit dem Autor: Markow, Streletz, Pfeffer (v.r.n.l.). Foto: Oliver Thomas

Ich bin vor einiger Zeit von Arne Nobel angesprochen worden, ob ich für den Nibelungen-Zyklus ein Stück schreiben wolle. Ich sagte zu, zumal mich die Aussicht reizte, so ganz nebenbei noch einmal tief in diese uralte Geschichte hineinzusteigen, die mir nur noch in ihren groben Abläufen gegenwärtig war: der Rest versunken in den Tiefen meiner Vergangenheit. Da ich darum bat, erst im Herbst die Uraufführung meines Stücks einzuplanen, ging ich davon aus, dass bis dahin all die naheliegenden Nibelungen-Themen wie Siegfrieds Tod und Kriemhilds Rache abgefrühstückt sein würden. Ich wollte mein Theaterspiel also von einer Nebenfigur aufzäumen. Ähnlich, wie es Tom Stoppard beim Hamlet-Stoff mit Rosenkranz und Güldenstern erfolgreich probiert hat. Ein Freund gab mir den Tipp, in meinem Nibelungen-Versuch doch Volker, den Spielmann, ins Zentrum zu stellen. Dieser Recke und Musikalartist würde im ganzen Nibelungenlied dabei sein und erst mit den anderen beim großen Massaker auf Etzels Burg sein Ende finden. Die Figur Volker gefiel mir nicht zuletzt deshalb, weil dadurch möglich sein würde, mein Stück mit vielerlei Melodien zu garnieren: vom Minnegesang bis zum Punk. Als die beiden anderen Figuren wählte ich – ein Tipp des profunden Bochumer Nibelungen-Kenners und -Übersetzers Prof. Siegfried Grosse –    Hagen und Brünhild: beide keine strahlenden Helden, sondern (zumindest bei mir) eher gebrochene Charaktere. Das alles erzählte ich also den Zuschauern in der Rottstraße, bevor wir zu dritt zum Blatt griffen.

Mein Text ist zu etwa zwei Dritteln fertig. Rottstraßen-Dramaturg Carsten Pfeffer las den Hagen und Charlene Markow die Rolle der Brünhild. Ich hatte mir den Volker reserviert. Obwohl wir den Text zuvor kein einziges Mal gemeinsam geprobt hatten, klappte die Rezitation prima. Charlene und Carsten konnten dem Text jene Anschaulichkeit verleihen, die dem Publikum ermöglichte, sich das Geschehen um das Bühnen-Trio zwischen Glücksverheißung und Doppelmord vorzustellen. So jedenfalls meine Empfindung. Dann war der ausgeschriebene Text zu Ende. Sehr herzlicher Beifall. Was den Autor selbstredend freute. Die erste Feuerprobe war gelungen. Dann erläuterte ich anhand schon vorhandener Textfragmente, wie das Stück weitergehen und enden würde. Danach wiederum viel Beifall. Meine Zuversicht, dass sich Ähnliches auch nach der Uraufführung im Herbst ereignen könnte, wuchs beständig. Arne Nobel lobte aus dem Publikum: „Geiles Teil!“ Obwohl das nicht gerade mein Sprachgebrauch ist, wusste ich, was er meinte. Schönes Gefühl. – Arne ist übrigens als Hagen gesetzt.

Mein Stück soll heißen: Volkers Lied (der Nibelungen). Die Möglichkeit, einen Teil des Titels in Klammern zu setzen, hat mir vor gefühlten 1000 Jahren bei einigen Songs von Elvis Presley gut gefallen: Any Way You Want Me (That’s How I Will Be). Als ein Beispiel.

In meinem Stück reißen zum Schluss nacheinander alle Saiten der Gitarre von Volker – ein Ende in Etappen also. Nach der Dreier-Lesung kam Andreas Bittl zu mir (er soll den Volker spielen). Andreas schlug vor, man könne die Saiten ja auch mit einer kleinen Zange durchschneiden. So sei der Effekt auf ebenso sichere wie praktische Weise zu erreichen. Ich stimmte sofort zu. Wir haben ja nicht vor, ein prüde realistisches Spiel auf die (nichtvorhandene) Bühne zu stellen. Die Vorbereitungen für die Uraufführung hatten unversehens begonnen. Weiteres im Herbst – hier in diesem Theater.

 

Der Pressereferent auf der Bühne

um 20.30 Uhr schreibt Honke Rambow:

 

Der Hebbel-Marathon beginnt. Foto: Charlene Markow

Wir starten mit Hebbels Nibelungen. Die Erinnerung wird immer schwammiger. Ich habe durch die Nacht hindurch sicher viel getrunken, aber nicht so viel, dass der Alkohol daran schuld sein könnte. Es ist etwas anderes. Es ist die Bühne. Ich gehöre da ja eigentlich nicht hin. Ich bin Zuschauer, Kritiker, Pressereferent. Ich bin selten auf Bühnen. Es ist für mich immer noch ein sakraler Ort, den ich nur in Ausnahmefällen und nach ausdrücklicher Genehmigung durch einen Eingeweihten betrete. Selbst in der Rottstr5. Selbst hier, wo die Bühne auf einem Niveau mit dem Zuschauerraum ist.

Im Vorspiel „Der gehörnte Siegfried“ wird mir das Lesen der Regieanweisungen von Arne und Hans übertragen. Das passt wohl zum Pressereferenten des Theaters.

 

Das Fassbinder-Gefühl

um 21 Uhr schreibt Carsten Marc Pfeffer

 

Das Spiel nimmt jetzt an Fahrt auf. Es entspannt sich jene lässig-angestrengte Atmosphäre, die ich an unserem Theater so liebe. Das Fassbinder-Gefühl. Auf der Bühne sitzen an die zwanzig Mimen und performen Hebbel. Das ganze gestaltet sich als Gelage. Nur die absurdesten Ideen setzen sich durch. Fällt das Wort „Recken“, werden Fußballchöre angestimmt. Ein unglaublich ausgeschlafener Andreas Bittl schnallt sich das Akkordeon um. Notenblätter werden ausgeteilt. „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“, erschallt es nun, jedes Mal nachdem Siegfried am Hofe Gunthers besonders bescheuert agierte. Der Bierkonsum steigt rapide. Neues Publikum ist erschienen. Ich notiere in ihren Blicken diese Mischung aus Abscheu und Begeisterung. Irgendetwas rät ihnen zur Flucht, doch können sie ihren Blick nicht lösen. Jetzt die Regieanweisung: Getümmel. – Nichts leichter als das. Flaschen zerspringen auf dem Steinfußboden. Das Ende der Ästhetik ist erreicht, dabei haben wir gerade erst begonnen.

 

Aus Honke wird Kriemhild

um 21.15 Uhr schreibt Honke Rambow:

 

Aus Honke wird Kriemhild. Foto: Charlene Markow

Wir spielen Diktatoren-Quartett um die Rollen in „Siegfrieds Tod“. Mit Marcos habe ich ganz wörtlich die Arschkarte gezogen. 8 Mrd. Privatvermögen ist zwar ganz gut, reicht aber nicht. 2.200 Tote sind auf gar keinen Fall einen Stich wert. Als eine der letzten Rollen fällt Kriemhild an mich. Na gut. Ich sehe zu, wie die RECKEN Politik betreiben und füge mich. Kriemhild ist außen vor. Kriemhild ist ein Spielball der Tragödie. Kriemhild hat Angst, aber sie kann nichts tun. Und Kriemhild ist mit einem Arschloch verheiratet.

 

Buzzword des Abends

um 21.30 Uhr schreibt Chantal Stauder:

 

„…die tapferen Recken.“ Gegröle und zwanzig erhobene Bierflaschen. Aha. Hebbel hatte begonnen und das Buzzword des Abends war offensichtlich auch gefunden: Recken. Hans Dreher hatte zuvor geschätzt, die „Recken“ würden Hebbels Version der Nibelungen in knapp drei Stunden über die Bühne gebracht haben. Mit seiner Schätzung lag er jedoch dezent daneben. Es sollte geschlagene neun Stunden dauern, bis der letzte Satz gesprochen war. Schon nach drei Stunden lagen bei vielen die Nerven blank. Allerdings sorgten Aufreibung und Überspanntheit auch für unvergesslich stille und schrille Glanzmomente des Abends. Immer wieder bäumte sich das Engagement der Beteiligten zu erschütternden Höchstleistungen auf. Man mobilisierte Restreserven. Allen voran Honke Rambow als Kriemhild, der sich stark mit seiner Rolle zu identifizieren schien. Eine herrlich irritierende Show, die in erster Linie von Rambows unvergleichlichem Einsatz lebte.

 

The Elder Scrolls (Immersion)

um 3 Uhr schreibt Hans Dreher:

 

Ein nächtlicher Gast betet die Kaffeemaschine an. Foto: Charlene Markow

Das Konsolenspiel – ich bin mir nicht einmal so sicher, dass der Name des Spiels was zur Sache tut: Es ist der dritte (oder so) Teil einer locker zusammenhängenden Reihe; es ist eins von ganz, ganz vielen Spielen, die dem mal mehr, mal weniger abgewandelten Vorbild der Tolkien‘schen Fantasy verschuldet ist.

Ich suchte ein Spiel, das – hinter dem Lesungstisch auf eine Leinwand projiziert – eine plakative und einfache optische Untermalung unserer Nibelungen-Lesung sein könnte, und eins, das einem über die eventuell einsamen Nachtstunden unseres Marathons hinweghelfen würde.

So sehr dieses Spiel ein typischer Vertreter seiner Gattung ist, hat es Eigenschaften, die es aus der grauen Masse hervorstechen lassen: Die weitläufigen, abwechslungsreichen Landschaften, durch die man schon aus Selbstzweck laufen will: um zu sehen, was sich auf dem nächsten Hügel befindet, wie sich das virtuelle Wasser im Mondlicht spiegelt oder wie sich die Stadt im Südosten – erbaut auf Stelzen im einem Sumpfgebiet, von der im Nordwesten unterscheidet: Wikingerarchitektur und Schneedecke.

Herausragend ist das Spiel durch die Vielfalt der Figurengestaltung. Sanft führt das Spiel den User durch eine Art Haupthandlung, die, wie so oft in diesem Genre, damit zu tun hat, dass man die Welt retten muss. Man weiß ums Klischee, aber auch oder gerade im Spiel sollte man keine Angst vor Pathos haben. Auch nicht vor Heldentum. Weniger sanft empfand ich die Versuchungen, die einen davon abhielten: Es ist ein Spiel, dass einem ermöglicht, eine Karriere als Arenakämpfer einzuschlagen, als Meisterdieb, als Alchimist, als – auch das ist möglich – Hausbauer und –ausstatter. Man kann sich in dem verlieren, was uns am Theater so gespenstisch bekannt ist: Aus den Taten eine Persönlichkeit herzuleiten, und aus einer Persönlichkeit wiederum Taten. Und dabei gerne mal die eigentliche Aufgabe vergessen.

Die Immersion ist ein Begriff, zu der Wikipedia, um quick and dirty zu recherchieren, Folgendes zu sagen hat:

Die I. ist ein Bewusstseinszustand, bei dem der Betroffene auf Grund einer fesselnden und anspruchsvollen (künstlichen) Umgebung eine Verminderung der Wahrnehmung seiner eigenen Person erlebt. Damit beschreibt der Begriff „Immersion“ – ähnlich der filmischen Immersion – im Kontext der virtuellen Realität das Eintauchen in eine künstliche Welt.

Das – jeder kennt es – vermag ein gutes Buch, eine gute Inszenierung, ein guter Film zu leisten. Ein Konsolen- oder Computerspiel kann es besonders gut, weil der Grad an aktiver Teilnahme größer ist. Unterhaltungssoftware ist eine inzwischen schwindelerregend große Branche, und – wie immer im sehr groben Durchschnitt der Massenunterhaltung –  das Niveau ist meist sehr erschreckend. Aber es gibt diese Ausnahmespiele, dich durch Schönheit, durch Klugheit oder auch durch Handlungsfreiheit bestechen.

Und wenn um drei Uhr morgens der junge Kollege an der Spielkonsole gerade eine kleine Armee von Feinden niederstreckt, während man selber die Ermordung Siegfrieds bei Hebel vorliest, kann man zumindest über den Zufall schmunzeln.

 

Dem Irrsinn verfallen

um 3.30 Uhr schreibt Carsten Marc Pfeffer:

 

Das Stück zieht sich auf eine ganz enervierende Weise. Foto: Charlene Markow

War zwischendurch kurz zu Hause, das verschwitzte Hemd gegen ein T-Shirt wechseln. Als ich zurückkomme, sind es nicht mehr ganz so viele Schauspieler, die Hebbel performen. (Zwischendurch saßen ja an die zwanzig Leute auf der Bühne.) Dafür hat der Irrsinn die Übriggebliebenen umso fester umfasst. Ich zähle vierzehn leere Bierkästen. Die Bühne ist ein Scherbenmeer. Wir hatten um 20.30Uhr begonnen, nun geht es auf 4Uhr zu. Wir stecken mitten in Kriemhilds Rache. Das Stück zieht sich auf eine ganz enervierende Weise. Gottlob ist noch Whisky da. Honke hat sich jetzt komplett in Kriemhild verwandelt. Doch ihre Rache trifft nicht Hagen, sondern den armen Felix Lampert, der Probleme mit dem Wort „Nixen“ hat. Honke lässt uns die Szene vierzehn Mal von vorne beginnen. Er selbst steht am Mikro, ringt um die großen Passagen. Seine Krawatte hat er mittlerweile abgenommen, in seinen Augen flammt der Wahnsinn. Jetzt diffamiert er Lampert als Soapdarsteller, Dreher will intervenieren und muss zur Strafe zwanzig Liegestützen machen. Kriemhilds Rache kann fürchterlich sein.

 

Schweiß trifft auf Reclam

irgendwann später schreibt Honke Rombow:

 

Mir wird bewusst, dass Kriemhild sich rächen wird. Ich müsste eigentlich weg. Ich müsste nach Dortmund fahren. Ich will mich rächen. Ich bleibe. Kriemhild harrt aus, weil ihre Zeit kommen wird. Ich bin auf der Bühne und weiß nicht mehr, wie man von ihr runter kommt. Wir lesen schnell, wir lesen langsam, wir lesen im Dialekt, wir sprechen ins Mikrofon, wir streiten uns darüber, wie man das Wort „Nixen“ fühlt, Kriemhild wird sich rächen, Kriemhild füttert ihr Eichkätzchen, immer noch gulbt es aus dem Zuschauerraum, die RECKEN werden weniger, aber sie bleiben standhaft, ein Pilgrim zieht vorüber, die standhaften RECKEN werden Kriemhild bei ihrer Rache zur Seite stehen, wir streiten über GZSZ und Chio Tortilla Chips, Kriemhild hat Hunger, Kriemhild gehen die Zigaretten aus, ich habe auch Hunger, die Mettbrötchen sind weg, das Burgunden-Buffet besteht nur noch aus Physalis. Ich bin nicht müde, aber ich kann dem Faselasiaten Etzel nicht mehr folgen, egal, Hauptsache er etzelmetzelt Hagen irgendwann hin. Rumolt chort herein, Stehmann oder Schleef, schon wieder Streit, nein, nicht Schleef, wir sind nicht nackt, also Stehmann. Schweiß tropft aus den Reclam-Heftchen. Irgend jemand bietet mir die Rolle der Kriemhild an der Burg an. Felix sagt „Weltexperimentiermaschine“: minutenlanges Lachen. Ligetis Musica Ricercata geht immer. Der Whiskey ist ekelhaft. Kaffee, Cola, Bier, Cola, Bier, Kaffee. Arne trinkt wie immer Blut. Arne ist Hagen. Niemand hat sich ausgezogen. Kriemhild rächt sich. Kriemhild stirbt. Es gibt Fotos. Ich werde mich später daran erinnern. 6.30 Uhr. Ich fahre zurück nach Essen.

 

Loslabern

um 10.30 Uhr schreibt Chantal Stauder:

 

Ein wenig habe ich schon ein schlechtes Gewissen. Immerhin hatte ich mich gegen 1 Uhr für eine Runde Schlaf abgemeldet und war nicht zurückgekehrt. Wobei ich mir doch fest vorgenommen hatte, nach einer Stunde Ruhe auch noch den Rest der Nacht durchzustehen. Unmöglich. Seit dem frühen Vormittag hielt ich mich im Tonnengewölbe der Rottstraße auf. Las, lauschte, lernte, lachte. Zu viel Beton für heute. Also kehrte ich am nächsten Morgen zurück und erwartete niemanden mehr im Theater anzutreffen. Ich war mir sicher, dass die Crew die Nacht nicht überstanden hatte. Doch als ich die Klinke herunterdrückte und die schwere Tür aufstieß, hörte ich Arne Nobels munteres Gequassel. Er saß auf der Bühne und telefonierte (ich dachte zunächst, er schauspielert) anscheinend mit einem Mitarbeiter des ADAC. Erzählte dem Menschen auf der anderen Seite der Leitung eine Geschichte nach der anderen:

 

„Ach ja, an dem Abend habe ich XY nach einer Premiere nach Hause gefahren.“

„…“

„Naja, ich würde auch gerne mal wieder nach Holland ans Meer fahren. Die Seele baumeln lassen, Sie verstehen?“

 

Cowboys brauchen keinen Schlaf. Foto: Charlene Markow

Auch Publikum war noch vorhanden. Vier tapfere Zuhörer begrüßten mich flüsternd, woraus ich schloss, dass sie wach und im Besitz grundlegender Kommunikationsfähigkeiten waren. Während Hans Dreher und Felix Lampert sichtlich auf dem Zahnfleisch gingen, war Nobel über seinen toten Punkt hinaus und so richtig in Stimmung. Die Losung lautete Loslabern. Die Anekdoten sprudelten nur so aus ihm heraus. Mubarak, Hotel Eden, die Achse des Bösen, Kreativquartier – all das passte in einen einzigen Satz. Aber auch Dreher und Lampert ließen sich von dem Klamauk anstecken und legten nach. Schöner hätte der Marathon nicht enden können. Als die letzten fünf Minuten vor der bedeutendsten Deadline des Tages näher rückten, brachte sich Dreher mit einem Stück Kreide in eine halbaufrechte Position, um den 23 Strichen an der blauen Theaterwand endlich den letzten, entscheidenden Strich hinzuzufügen. Nobel redete immer noch. Geschafft. 24 Stunden. Die schwankende Zwiespältigkeit steht den Recken in fetten Lettern ins Gesicht geschrieben: Nie wieder. Immer wieder.

 

Intensiv-Fazit

um 12 Uhr schreibt Werner Streletz:

 

Heute morgen war’s noch ganz nett im Theater. Ich war gegen 11 Uhr dort. Keine Lesung mehr, sondern es wurde ein Art Fazit gezogen unter der wie immer intensiv-impulsiven Leitung von Arne.

 

Es ist vollbracht! Was bleibt?

um 12.10 Uhr schreibt Markus Tillmann

 

Das Gefühl, einem ganz besonderen Erlebnis beigewohnt zu haben: Orte der Sehnsucht, des Verlangens und des Begehrens; ein Betonboden, der immer wieder die Welt bedeutet und oftmals hartes Spielen verlangt; Achterbahnfahrt der Emotionen; erweiterter Theaterraum; Verschaltung von Kunst und Leben; Entgrenzung und Vereinnahmung; Wirrniss und kristalline Klarheit; Irritation und Glücksempfinden… Oder mit Gisbert von Knyphausen gesprochen: „Es sind so viele Piraten hier & sie entern deine Seele.“


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