
Güner Yasemin Balcı ist Autorin, Filmemacherin und die Integrationsbeauftragte des Berliner Bezirks Neukölln. Am Freitag las sie in Herne in der Volkshochschule aus ihrem Buch Heimatland.
Mit einer Lesung Güner Balcıs aus ihrem neuen Buch Heimatland startete der Herner Caritasverband seine neue Gesprächsreihe „Sicht im Schacht“. Balcı ist Autorin, Filmemacherin und die Integrationsbeauftragte des Berliner Bezirks Neukölln. Sie streitet mit Islamisten und Antisemiten, setzt sich als Old-School-Feministin für Frauenrechte ein und hält nichts von dem postmodernen Stuss, die Burka als Zeichen der Selbstermächtigung von Frauen umzudeuten.
Heimatland, sagt Balcı, sei ein sehr persönliches Buch geworden, eines, in dem sie auch viel aus ihrem Privatleben erzählt. Das Buch sei eine Liebeserklärung an ihr Land, weil sie finde, dass man in Zeiten des extremen Rechtsrucks sich die Begriffe zurückholen und sich ganz klar zu unserer Verfassung bekennen müsse.
„Mein Heimatland“, liest sie aus ihrem Buch vor, „sind tanzende Schneeflocken im Scheinwerferlicht einer stürmischen Winternacht. Spaziergänge im Dunkeln mit zu vielen Kindern auf einem Schlitten. Hermannplatz, Hasenheide und Wärme. Die Hände meiner runden Tanten, die nach Zwiebeln riechen. Blubbernde Kessel mit rot-schwarzem Tee. Knarzende Treppenaufgänge in Altbauwohnungen. Der würzige Duft von roter Bohnensuppe. Der Anblick meiner tanzenden Mutter. Wettspringen vom Beckenrand im Columbia-Bad. Die rauen Hände meines Vaters.“
Doch die Demokratiefeinde, das sind für Balcı nicht nur die Rechten, es sind auch die Islamisten. Neukölln sei ein Ort, an dem globale Konflikte wie im Brennglas wahrgenommen werden können, erklärt sie. Vieles, was das Land bewege, habe dort einen Echoraum mit Tiefenwirkung. „Nirgendwo sonst in der Republik gibt es eine so langjährige, unaufgeregte Tradition, sich den öffentlichen Debatten über eine Einwanderungsgesellschaft zu stellen. Hier gibt es kriminelle Clans, die das Land ausrauben, das sie als Flüchtlinge einst aufgenommen hat. Hier gibt es Muslime, die sich offen gegen den Hamas-Terror stellen, obwohl es ihre persönliche Sicherheit dramatisch gefährdet. Hier gibt es Hanukka-Feiern im Rathaus, während auf der Sonnenallee Halbstarke zur nächsten Intifada aufrufen. Ich begegne Migranten, die gegen Antisemitismus kämpfen, und kenne Prediger, die jeden Freitag ihren giftigen Hass verbreiten.“
Aufgewachsen ist sie im Rollbergviertel, ihrem „Dorf“, wie sie es nennt, im Neukölln der 70er- und 80er-Jahre. „Das Rollbergviertel war einst eine klassische Arbeitersiedlung gewesen, mit großen Mietskasernen, die nach und nach abgerissen und durch moderne Neubauten ersetzt worden waren. Als wir in eins davon einzogen, war die Sanierung des Gebiets schon weit fortgeschritten und eine Wohnsiedlung mit achteckigen Betonplätzen entstanden.
‚In den 1920er-Jahren soll es hier sehr schön gewesen sein‘, erzählte uns später Frau Wenzel, die hier geboren war. Gründerzeitbauten hätten sich von der Karl-Marx-Straße bis zur Sonnenallee erstreckt. Bis auf ein Haus waren sie alle abgerissen worden.“ Die Sozialbauten mit ihrem praktischen Grundriss, die neu aus dem Boden wuchsen und mit ihren großen Innenhöfen vielen Menschen Platz boten, erklärt sie in ihrem Buch, sollten sich nur ein Jahrzehnt später als Brandbeschleuniger zahlreicher sozialer Probleme erweisen.
Doch für ihre Eltern, die aus einem Bergdorf in Anatolien nach Deutschland zogen, war eine dieser Wohnungen mit Heizung und Bad so etwas wie das große Los. Aufgewachsen in einer Region, in der Kinder an Grippe starben, weil der nächste Arzt drei Tagessmärsche entfernt war, erfüllten sich hier ihre Wünsche. Ihr Vater, den sie in ihrem Buch liebevoll beschreibt, arbeitete in einer Fabrik. Das Leben der Eltern wurde von dem Wunsch bestimmt, die Kinder sollten es einmal besser haben: Deren Bildung war ihnen wichtig, ihr Erfolg in der Schule ihr Stolz. Besuchten sie Elternabende, beschreibt es Balcı, betraten sie die Schule mit Ehrfurcht.
Das Neukölln Balcıs Kindheit war noch kein Ghetto. Es gab die Kinder, die – wie sie – aus Arbeiterfamilien kamen, wenig Geld hatten, über den Zaun ins Columbiabad kletterten, wenn sie sich den Eintritt nicht leisten konnten, aber ob ihre Eltern Deutsche, Türken, Griechen oder Italiener waren, spielte ebenso wenig eine Rolle wie die Religion. Mädchen und Jungs spielten und stritten miteinander. Die Grenze verlief eher zwischen den Klassen. Die „Riminikinder“, die in den Ferien nach Italien fuhren, deren Eltern Akademiker waren, kletterten nicht über den Freibadzaun, sondern gingen in das neue und teure Spaßbad. Aber sie alle besuchten dieselbe Grundschule.
Das Leben in Neukölln änderte sich, als Ende der 80er-Jahre Flüchtlinge aus dem Libanon nach Berlin kamen. Untergebracht wurden sie in einem Abbruchhaus. Die Kinder mussten nicht in die Schule, die Eltern durften nicht arbeiten. Die großen Gangster, die man heute aus der Presse kennt, sind damals in diesem Haus aufgewachsen. „Wenn ich nachmittags von der Schule kam, hing Arafat Abou-Chaker auf dem Spielplatz rum. Und wenn man ihn gefragt hat, was er so macht, hat er gesagt: ‚Nichts.‘“ Weil diese Jungs den ganzen Tag nichts zu tun hatten, erklärt Balcı, hätten sie vornehmlich ihre Schwestern drangsaliert und zu Hause eingesperrt.
„Die Mädels durften oft nicht nach draußen, die Jungs schon. Und dann veränderte sich was im Viertel.“ Es sei spürbar gewesen, dass die Zeit der Gruppen von Kindern und Jugendlichen, die durchmischt waren, zu Ende ging. Es sei nicht mehr möglich gewesen, zusammen ins Schwimmbad zu gehen. Ihre Eltern ließen sich von der veränderten Atmosphäre nicht beeindrucken: „Wenn Nachbarn meiner Mutter erzählten, dass ich mit Jungs gesichtet worden sei und einen zu kurzen Rock getragen hätte, hielt sie immer sehr gut dagegen. Teilweise hat sie diese Typen dann auch übelst beleidigt.“
Für ihre Arbeit als Integrationsbeauftragte braucht sie Partner. Aber die müssen bestimmte Kriterien erfüllen: „Mir ist sogar egal, ob sie gut Deutsch sprechen können. Für mich ist wichtig, dass sie alle meinen Lackmustest verstehen: Wie sieht es aus mit Frauenrechten, also mit Gleichberechtigung der Geschlechter? Wie sieht es aus mit ihrem Verhältnis zur Queerfeindlichkeit und Homophobie? Und wie stehen sie zu jüdischem Leben in Deutschland?“
Balcı lehnt jeden Kulturrelativismus ab: „Wenn gesagt wird, man muss alles vom Anderen akzeptieren, weil das ja seins ist – wenn der die kleinen Mädchen zwingt, dass sie sich komplett verschleiern müssen und sie nicht mehr Fahrrad fahren dürfen, dann sei das halt Religionsfreiheit. Ich sehe ganz klar eine Grenze überschritten.“
In Teilen Neuköllns gebe es Milieus, in denen neun von zehn Mädchen zwangsverheiratet würden. Aber es gebe auch Onkel, die sich gegen ihre Familie stellen, um den Ehrenmord an ihrer Nichte zu verhindern.
Später – die Lesung ist vorbei und die Diskussion mit dem Publikum hat begonnen – meldet sich eine Frau zu Wort. Sie wohne seit neun Jahren in Herne, und wenn sie über die Bahnhofstraße gehe, höre sie oft kein Deutsch mehr und habe das Gefühl, in Ostanatolien zu sein. Viele Frauen liefen tief verschleiert herum. „Ich finde es schade, weil es ist nicht schön, sich im eigenen Land fremd zu fühlen.“
Balcı bedankt sich für die Wortmeldung: „Ich finde das mutig, und ich finde es gut, dass wir offen reden. Wir müssen offen miteinander reden. Und dass nicht gleich wieder jemand kommt und sagt, das ist Diskriminierung oder Rassismus. Das ist erst mal eine Feststellung. Ich finde es auch wichtig, dass Menschen artikulieren, wenn sie sich fremd fühlen im eigenen Land.“
Balcı ist überzeugt, dass sich alle mehr aufeinander einlassen müssen – und mehr miteinander leben müssen: „Und dass wir – so blöd es klingen mag – eine Durchmischung brauchen, eine soziokulturelle Durchmischung, in allen Milieus. Dass das wichtig ist für eine Einwanderungsgesellschaft. Um auch diesen Pluralismus wachsen zu lassen und um gemeinsam daran zu wachsen.“ Es sei nicht gut, wenn homogene Milieus entstehen: „Völlig egal, ob es das Bildungsbürgertum ist, das sich in den Prenzlauer Berg zurückzieht und seine Kinder auf die besten Schulen der Stadt schickt – oder die Abgehängten zusammen in Neukölln in der High-Deck-Siedlung leben.“
Die Kunst sei es, diese Welten irgendwann einmal zusammenzubringen.
