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Michael Rothbergs verkürzter Blick auf die Geschichte

Marienburg: Mittelalterliche Ordensburg des Deutschen Ordens im heutigen Polen Foto: DerHexer Lizenz: CC BY-SA 3.0

In einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ zeigt der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg, dass er bei zwei Themen erhebliche Wissenslücken hat: Antisemitismus und Kolonialismus. Das ist ungünstig, wenn man als Experte für Antisemitismus und Kolonialismus wahrgenommen werden möchte.

Michael Rothbergs 2009 veröffentlichtes Buch „Multidirektionale Erinnerung“ erschien Ende Februar in deutscher Übersetzung. Rothberg und sein Konzept der „Multidirektionale Erinnerung“ wurden im vergangenen Sommer im Rahmen der Debatte um den Auftritt des Historikers und Philosophen Achille Mbembe als Eröffnungsredner, der schließlich wegen Corona abgesagten Ruhrtriennale von jenen zitiert, die Mbembe vor dem Vorwurf der Holocaustrelativierung in Schutz nahmen. Mbembe hatte unter anderem die globale Isolierung Israels gefordert und aktiv daran mitgewirkt, dass die israelische Psychologin Shifra Sagy 2018 von einer Konferenz in Südafrika, wo Mbembe forscht und lehrt, ausgeladen wurde, weil sie Israelin war. Mbembe warf Israel immer wieder vor, ein Apartheidregime errichtet zu haben und schrieb in seinem Buch Politik der Feindschaft „Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Größenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen dieses Trennungswahns.“

Rothberg war in der Debatte Mbembe beigesprungen und sprach sich in Geschichte der Gegenwart dafür aus,  die Debatte über historische Schuld und Verantwortung auszudehnen: „Wo der Historikerstreit 1.0 ein Versuch Noltes und andere Konservativer war, die Verantwortung für den Völkermord der Nationalsozialisten zu relativieren, so stellte der Historikerstreit 2.0 den Versuch von Kritikern Mbembes dar, die Verantwortung dafür zwar zu übernehmen, sie aber gezielt dazu einzusetzen, um weitere Verantwortlichkeiten und ihre ethischen und politischen Implikationen zu vermeiden. Insbesondere die Verteidigung der Einzigartigkeit des Holocaust und die Überwachung der Grenzen dessen, was seltsam genug als „Israelkritik“ bezeichnet wird, tragen dazu bei, die Verantwortung für andere deutsche Gräueltaten wie den Völkermord an den Herero und Nama und allgemeiner die Beteiligung am Kolonialismus zu verdrängen und von der deutschen Verstrickung in die Enteignung der Palästinenser abzulenken.“

Im Interview mit der Zeit sagt Rothberg, dass die Nürnberger Gesetze sich an der US-Rassengesetzgebung orientierten und über diese hinausgingen. Die Definition „des Juden“ im Nazirecht sei enger gewesen als „die Definition Schwarzer Menschen in den Vereinigten Staaten mit ihrer „One-Drop-Regel“ – der zufolge ein Tropfen schwarzen Bluts jemanden zum Schwarzen machte.“

Auch fordert Rothberg, dem Konzept der Multidirektionale Erinnerung“ folgend, „relational über die Geschichten des Kolonialismus und des Nationalsozialismus nachzudenken“ wobei im Interview deutlich wird, dass er damit eine Auseinandersetzung mit den Geschehnissen und Verbrechen in den Kolonien des Deutschen Kaiserreichs meint. Von 1879 hatte Deutschland Kolonien im Pazifik, Asien und Afrika, die im Laufe des ersten Weltkriegs verloren gingen und im Rahmen des Versailler Vertrags abgetreten werden mussten. Es war nach der Fläche das nach Großbritannien und Frankreich drittgrößte Kolonialreich. In den Kolonien beging Deutschland genozidale Massenmorde und beutete die Bevölkerung brutal aus. Besonders bekannt sind die Verbrechen an den Herero und Nama im Rahmen von Kolonialkriegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts im heutigen Namibia, damals Deutsch-Südwest.

Rothbergs Vergleich der Nürnberger Gesetze mit den Rassegesetzen der USA führt gleich mehrfach in die Irre. Zum einen erkennt Rothberg nicht, was den Antisemitismus vom Rassismus unterscheidet. Steffen Klävers hat es in seinem „Decolonizing Auschwitz?“ dargelegt:

„Der Nationalsozialismus unterscheidet sich daher fundamental von allen anderen bisherigen Ereignissen von staatlich oder durch staatliche VertreterInnen verübtem Massenmord und Massengewalt – allerdings nicht hinsichtlich der Anzahl der Opfer oder in der Technik des Tötens, sondern vor allem dadurch, dass er keinen konkreten Feind kannte. Der Feind im Nationalsozialismus ist primär das jüdische Leben, alles jüdische Leben, die Idee des Jüdischen selbst, sollte vernichtet, also zu nichts gemacht werden, ohne Ausnahme. Doch es gab keine konkrete Bedrohung, die vom Judentum ausging: Keinen territorialen Konflikt, keine Aufstände, keine jüdische Gewalt irgendeiner Art. Und mit keiner anderen Gruppe wurde eine spirituelle Erlösung des eigenen ‚Volkes‘ assoziiert.“

Rothberg überschätzt zudem die Bedeutung der Nürnberger Gesetze. Sie waren nur ein Zwischenschritt in der nationalsozialistischen Politik, deren Ziel die Vernichtung aller Juden weltweit. Die Shoa wurde zu keinem Zeitpunkt in eine juristische Form gegossen. Für den nationalsozialistischen Staat war Recht nicht etwas Absolutes, dem sich auch die Politik unterzuordnen hatte. Letztendliche Quelle des Rechts war der Führer der, so Carl Schmitt, „als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft.“ Hitlers Wille war Recht, die niedergeschriebenen Gesetze hatten eine niedere Bedeutung. Dass sich die Nürnberger Gesetze am amerikanischen Recht orientierten hatte, wie die Historikerin Hedwig Richter in ihrem Buch „Demokratie – Eine deutsche Affäre“ schreibt, eher Gründe, die in der Außendarstellung des nationalsozialistischen Staates lagen, der 1935 noch darauf angewiesen war, sich nicht vollkommen aus der zivilisierten Staatengemeinschaft ausgeschlossen zu werden: „Die Verfasser der sogenannten Nürnberger Rassegesetze ließen sich bei dem «Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre» auch von amerikanischen Rechtstechniken inspirieren, mit denen die «common law jurisprudence» eheliche Verbindungen zwischen Weißen und Nichtweißen für hinfällig erklärte. Zwar brauchten die NS-Machthaber für ihre Agenda keinen externen Antrieb, aber für die deutschen Juristen boten die amerikanischen Regulierungen eine wichtige Argumentationshilfe und eine wohl nicht unwesentliche moralische Rechtfertigung.“

Die USA spielten jedoch tatsächlich für die NSDAP und Hitler auch für deren Rassepolitik eine große Rolle, allerdings nicht so, wie Rothberg es darstellt. Für Adolf Hitler waren die Amerikaner rassisch überlegen, was sich nicht in erster Linie auf die Juden bezog. Im 2. Buch schrieb er: „Dem alten Europa gegenüber, das durch Kriege und Auswanderung unendlich viel seines besten Blutes verloren hat, tritt das Amerikanertum als junges, rassisch ausgesuchtes Volk gegenüber. So wenig man nun die Leistung von 1000 verkommenen Levantinern in Europa, sagen wir auf Kreta, gleichsetzen kann mit der Leistung von 1000 rassisch noch viel wert- volleren Deutschen oder Engländern, so wenig kann man aber auch die Leistung von 1000 rassisch bedenklichen Europäern gleichsetzen der Leistungsfähigkeit von 1000 rassisch hochwertigen Amerikanern.“ Hitler hielt nicht viel von der rassischen Qualität der Deutschen, er bewunderte Madison Grant, dessen Buch „Der Untergang der großen Rasse“ 1925 auf Deutsch erschienen war. „Grants Buch gilt allgemein als Beitrag zum gegen die schwarzen Bevölkerungsteile gerichteten Rassismus in den Vereinigten Staaten, aber der bemerkenswerteste Aspekt war die von ihm vorgenommene klare Schichtung der weißen Rasse, wobei er wenig schmeichelhafte Worte für die deutschen Einwanderer übrig hatte. Laut Grant waren 1914 von insgesamt 70 Millionen Deutschen nur etwa neun bis zehn Millionen wirklich nordisch. Diese Schätzung stieß in Deutschland insbesondere auf der Rechten auf heftigen Widerspruch, aber Hitler akzeptierte Grants Analyse. Auf der Grundlage von Grants Buch, erklärte Hitler, habe »die amerikanische Union die Einwanderungsquote festgesetzt«, die »Menschen aus den skandinavischen Ländern, aus England und Irland« bevorzuge; Einwanderer aus Deutschland würden »erst in dritter Linie« berücksichtigt, »da es bereits rassisch minderwertig ist«, schreibt Brendan Simms in „Hitler: Eine globale Biographie“. Der Nationalsozialismus war rassistisch und antisemitisch, aber wie Klävers ausführt, gibt es zwischen Rassismus und Antisemitismus schon ideologisch große Unterschiede. In der Praxis sind sie noch offensichtlicher: Kein Kolonialstaat und auch kein Staat, der einer Praxis der Apartheid folgte, wollte jemals die unterdrückte und als rassisch minderwertige angesehen Bevölkerungsgruppe ausrotten. Ziel war immer ihre Ausbeutung. Der Nationalsozialismus hingegen war für das Ziel, die Juden auszurotten, sogar bereit, massive Nachteile in Kauf zu nehmen und ließ beispielsweise Züge Juden in die Vernichtungslager zu einem Zeitpunkt transportieren statt Munition, Soldaten und Waffen an die Front zu schaffen. Das Ziel der Vernichtung der Juden war wichtiger als der Totale Krieg.

Zustimmen muss man Rothberg bei seiner Forderung, sich auch in Deutschland intensiver der Kolonialgeschichte zu beschäftigen. Selbst in der Forschung gibt es noch Defizite. Zentrale Quellen wie die Tagebücher von Lothar von Trotha, der als Oberbefehlshaber für die Verbrechen im Krieg gegen die Hereros verantwortlich war, sind nach Recherchen von Bartholomäus Grill immer noch nicht vollständig ausgewertet, weil die Familie sie nicht für die Forschung freigegeben hat. Allerdings ist es auch nicht so, dass die Geschehnisse nicht von Historikern aufgeklärt wurden. Die zentralen Aspekte sind klar, aber es mangelt an Detailtiefe. Selbst das von vielen als Standardwerk über den Genozid an den Hereros gesehene Buch „Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust.“ von Jürgen Zimmerer ist nicht mehr als eine Aufsatzsammlung voller Wiederholungen, die auf einer eher überschaubare Zahl von Primärquellen beruht.

Doch die Deutschland prägende Kolonialgeschichte ist nicht die relativ kurze und wenig prägende Phase der Eroberung und Ausbeutung von Territorien in Übersee. Als Landmacht war die für Deutschland und seine Vorgängergebilde in ihren unterschiedlichen Existenzformen wichtigere Form der Eroberung die auf dem europäischen Kontinent. Es glich in dieser Beziehung dem Russische Reich, das nur wenige Eroberungen wie Alaska jenseits der eurasischen Landmasse machte und dessen Expansion sich auch vor allem gen Osten richtete.

Hitler schrieb schon in „Mein Kampf“, dass er keine Kolonien Übersee haben wolle: „Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft.“ Für Deutschland lag seiner Ansicht nach „die einzige Möglichkeit zur Durchführung einer gesunden Bodenpolitik nur in der Erwerbung von neuem Lande in Europa selber. Kolonien können diesem Zwecke so lange nicht dienen, als sie nicht zur Besiedelung mit Europäern in größtem Maße geeignet erscheinen.“

Die Kolonial- und Eroberungspolitik, an die er anknüpfen wolle, war die Ostkolonisation, die mit dem Deutschen Orden begann, der sich nach eine kurzen, vorwiegend nicht militärischen Tätigkeit, während der Spätphase der Kreuzzüge ab dem 14. Jahrhundert nach Osten wandte, das Land der Prussen eroberte und lange Kriege mit Polen und Litauern führte und einen eigenen Staat errichtete. Wie prägend diese Zeit war, sieht man daran, dass das Eiserne Kreuz, der wohl wichtigste erst preußische und dann deutsche Orden seit dem 19. Jahrhundert, sich in der Form an das Balkenkreuz des Deutschen Orden anlehnt. Diese Traditionslinie setzt sich bis heute im Hoheitszeichen der Bundeswehr fort.

Auch der Großteil der Eroberungen Preußens lagen im Osten, wo es in mehreren Phasen Polen mit Russland und Österreich-Ungarn aufteilte. Der Vertrag von Brest-Litowsk, in dem das Deutsche Reich und die Mittelmächte im März 1918 Frieden mit Sowjetrussland schloss, die Sowjetunion wurde erst 1922 gegründet, brachte große Teile des ehemaligen Russischen Reichs unter deutsche Kontrolle.

Auch wenn die Forderung richtig ist, sich mit der deutschen Kolonialgeschichte zu beschäftigen, so macht das nur Sinn, wenn man sie als Teil der deutsche Expansionsgeschichte sieht, die sich allerdings vor allem nach Osten orientierte. Die Eroberungspolitik der Nazis stand in diese Jahrhunderte alten Linie und war keine Besonderheit. Hitler stand in einer historischen Tradition, die postmoderne Historiker und auch Rothberg mit ihrer Fixierung auf der kolonialen Eroberungen in Afrika, Asien, im pazifischen Raum und der beiden Amerikas vor allem durch europäischer Staaten seit der Neuzeit, übersehen.

Die Expansions- und Eroberungsgeschichte Deutschlands unterscheidet sich in dieser Frage von der Spaniens, Portugals, Großbritanniens und Frankreichs, den klassischen Kolonialmächten Europas.  Rothberg hat einen verkürzten Blick auf die Geschichte. Er übersieht, dass im Osten die Orte der meisten deutschen Verbrechen, auch der Shoah, lagen.

In Kürze wird Thomas Wessel an dieser Stelle das im Februar in deutscher Übersetzung erschienen Buch „Multidirektionale Erinnerung“ von Michael Rothberg ausführlich besprechen.

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Sophia
Sophia
3 Jahre zuvor

Ist die Erklärung von Steffen Klävers nicht unzureichend? Im Kolonialismus gab es doch auch überhaupt keine Bedrohung und keinen Feind.
Die Unterscheidung liegt doch eigentlich woanders.

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