Europawahl: Bajuwarischer Denksport

Laut ARD-Hochrechnung von 20:02 Uhr hat die CSU 7,2 Prozent der Wählerstimmen erreicht. Vorausgegangen war eine Zitterpartie – auch wegen einer Bauernschaft, die in Bayern teils neue Wege ging. Die CSU hatte in Sachen Gen-Technik nicht erkannt, wo die Glocken hängen.

Nun muß sie fleissig nachdenken, was ihr das Wahlergebnis sagen soll und wie repräsentativ es für andere Wahlen sein könnte. Sie hat laut aktueller Hochrechnung des ZDF von 21:30 Uhr 49,5% der bayrischen Wählerstimmen bekommen und will nun wieder von der absoluten Mehrheit auch irgendwann im Landtag träumen.

Die bisherige Hochrechnung geht von einer bundesweiten Wahlbeteiligung von 42,5 Prozent aus, 2004 waren es 43 Prozent. Diese insgesamt geringe Wahlbeteiligung sowie das dazu relativ gute Wahlergebnis für die CSU in Bayern hat es ihr ermöglicht, die 5%-Hürde deutlich zu überspringen.

Update: Die Euro-Glaskugel

Wie sieht das Europaparlament aus? Wir hatten die Gerüchte zum Ausgang der Wahl gesammelt und Twitter getestet.

Zunächst haben wir, wie ihr von unten aus lesen könnt, alles gesammelt, was über Twitter kam. Und dies dann mit den offiziellen Progonsen um 18:01 verglichen:

Prognose ARD: CDU CSU    38,5  SPD 21   Grüne 11,5  FDP 11      Linke 7,5   Sonstige

Prognose ZDF: CDU CSU  38   SPD 21,5   Grüne 12  FDP  10.5    Linke 7   Sonstige 11 keine über 3

Quelle: ARD/ZDF, Aktuelle Zahlen: Phoenix

Das Ergebnis des Abgleichs ist für Twitter verheerend: Alle Zahlen, die kursierten, waren Schrott – vor allem was die SPD betraf. Ob eine richtige Prognose dabei war? Wohl nur der ARD-Patzer gab einen Vorabblick. Bei diesem Mal konnte man mit Twitter also nicht viel anfangen.

—Twitter-Gerüchte-Sammlung – rücklaufend chronologisch —

17.51: Gerücht: Breaking News: CDU/CSU 38% , SPD 26%, Grüne 12% , FDP 9%, Linke 7% Erste Prognose der Wahlforscher .Quelle: Truck Driver

17.47: Panne bei der ARD?: ARD zeigt aus Versehen zu früh das Wahlergebnis? SPD bei 21,5%, CDU 44%? Ulrich Deppendorf düpiert… komischkomisch Quelle: Wahlkampfarena

17.25: Gerücht Parteizentralen: Trend Europawahl: cdu/csu 38,5%, spd 26%, grüne 12%, fdp 9%, Linkspartei 7%. Das sind die Vorabzahlen für die Parteizentralen. Quelle: Jan Fleischauer

17.23 Gerücht "German Trend": Germany first trends: CDU 36-39, SPD 24-26 Greens 11-12, FDP 10- 11, Left 7-8. Greens 3rd’s! Quelle: Offripper

16.56: Gerücht "Andere Quelle": Andere Prognose-Quelle sagt: Union 36-38 (CSU drin), SPD 25-26, FDP 10, Grüne 10, Linke 8 Quelle: mmjox

16.55: Gerücht ARD Prognose: ARD Prognose: CDU 38, SPD 26, FDP 9, Grüne 12, Linke 7, (CSU drin). Quelle: RRilke

16.40: Gerücht ARD Prognose: ARD Prognose: CDU 38, SPD 26, FDP 9, Grüne 12, Linke 7, (CSU drin).

16.38: Gerücht ARD Prognose: ARD Prognose zur EU-Wahl: FDP 9-10 %, SPD ca. 25%, Union unter 40%, Grüne 10% Linke um die 8% Zeit: 16.20 Quelle: frolueb

16.18: Bis jetzt halten alle dicht.

16.05: Piraten bei Twitterpoll auf 50 Prozent Quelle: Twitterpoll

16.00 Uhr: Go: Auf den Umfragezetteln des ZDF fehlt wohl die Piratenpartei. Quelle: jleinenbach/twitter

Wahlbeteiligung sehr niedrig Quelle: Welt

Um fünf nach sechs ist die Demokratie vorbei

Es ist kurz vor 6. Ich renne los. Durch den strömenden Regen. „Ich muss es schaffen“, denke ich.

Am Wahllokal angekommen, sagt man mir nüchtern. „Sie dürfen hier nicht wählen. Falscher Bezirk.“ Verdammt. Wieder raus. Weiter rennen. Es sind nur ein paar Straßen. Ich gebe alles. Der Regen benetzt meine Brillengläser. Ich kann kaum etwas sehen. Halte aber meine zerknüllte und tropfnasse Wahlbenachrichtigung fest in der Hand. Ich mache einen Satz über die Ampel und brülle: „Für Europa!“. Nur noch ein paar Meter. Ja da steht es: Evanglisches Gemeidehaus. Hier bin ich richtig. Ich stürme rein. Die Wahlhelfer gucken mich unbeeindruckt an: „Sie dürfen nicht mehr. Es ist fünf nach sechs.“ Ich pruste, putze meine Brille und sage: „Bitte, geben Sie mir den Zettel. Es sind doch nur fünf Minuten. Ich bin hergejoggt. War beim falschen Lokal.“ „Nein, das geht nicht. Da haben wir unsere Regeln.“ „Ach kommen Sie. FÜNF Minuten?! Wissen Sie überhaupt wozu das gut sein soll. Solche Regeln.“ Man weiß es offenbar nicht und sagt nur: „Wir diskutieren nicht.“ Wie schade. Das gehört doch zur Demokratie. Ach nein, ich vergaß: Um fünf nach sechs ist ja die Demokratie vorbei.

Europawahl: Liberales Aufatmen

1. Prognose FDP, 18:02: ARD 10,5%

1. Hochrechnung FDP, 18:16 Uhr, : ARD 10,8%, ZDF 10,6 %.

Hochrechnung von 19:16 Uhr: ARD 10,6%, ZDF 10,3%

Hochrechnung von 19:20 Uhr: ARD 10,8%, ZDF 10,3%

Hochrechnung von 20:02 Uhr: ARD 10,9%

Hochrechnung von 21:25 Uhr: ZDF 10,3%

 

 

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Der Terror aus dem Himmel und sein fragwürdiger Nutzen

Die Maschinen sehen aus wie Modellflugzeuge. Nur größer. Vor allem die Reaper ist fett. Sie hat die Spannweite eines Tennisplatzes. Unter den Tragflächen: Panzerbrechende Hellfire-Geschosse, Sidewinder-Raketen und zwei Paveway II Laserbomben. Die Reaper ist eine Drohne. Sie tötet.

Der Rotor klingt wie ein Sportflugzeug. Unter dem Rumpf hängt eine Extrem-Optik, feinjustiert aus der Creech Air Force Base irgendwo in der Nähe von Las Vegas. Damit kann der Operator aus 3000 Meter Höhe ein Nummern-Schild lesen oder einen Zug Taliban aufklären. Selbst als Waffenleitstand kann die Technik herhalten. Nur 1,2 Sekunden braucht der Befehl aus Vegas nach Pakistan, um die Bomben auszuklinken.

2002 ließ eine Predator zum ersten Mal Blut fließen, als die CIA im Jemen ein Geländewagen vernichtete. Derzeit donnern die Reaper und ihre kleine Schwester Predator  in Schwarmesstärke über Afghanistan und das angrenzende Pakistan. Die Drohnen der Firma General Atomics seien saubere Waffen, heißt es.

Es sei denn, der Operator verwechselt im Nebel eine betende muslimische Männergruppe mit einer Horde Gotteskrieger. Das bringt dann politische Probleme.

Für die USA sind die Todesroboter der letzte Schrei im Hindukusch-Krieg. Sie müssen keine eigenen Soldaten riskieren. Die Technik kostet nur rund 10 Mio US-Dollar. Irgendwer meinte, er habe vor ein paar Jahren Osama bin Laden auf einem Predator-Bild gesehen. Er hätte am liebsten eine Sidewinder abgeschossen. Aber das durfte er damals nicht, hieß es.

Heute dürfte er. Seit Januar haben die US-Streitkräfte ihre tödlichen Drohneneinsätze im Pakistanisch-Afghanischen Grenzgebiet hochgeschraubt, berichtet das Time Magazine. Duzende Angriffe. Tägliche Einsätze. Der Klang der Rotoren ist dort in Waziristan mittlerweile vertraut. Die Menschen hören die Killer aus der Höhe kommen. Sie sehen die Todesmaschinen. In ihren Dörfern, die an Mittelalter erinnern. Es müssen Szenen wie aus der Apokalypse sein. Ein Licht zuckt über die Häuser, bleibt hängen. Ein roter Punkt. Der Laser. Dann der Einschlag der Raketen. Das Stöhnen der Verletzten, das Blut der Toten.

Die USA behaupten bei den Drohneneinsätzen rund zwanzig „high-value al-Qaeda targets“ vernichtet zu haben. Pakistanische Medien sprechen von 687 Zivilisten. Von Kindern. Von Frauen. Von unbeteiligten Männern, die den Bomben aus dem Himmel zum Opfer fielen.

Regierungsvertreter der USA sagten dem Time Magazine, sie würden auf die Todesmaschinen setzen, weil sie einen Deal mit der pakistanischen Regierung hätten. Keine Fußsoldaten auf den Territorien der so genannten Stammesgebiete im Grenzland. Dafür dürfen sie Drohen schicken. Mehr als öffentliche Kritik haben sie angeblich nicht zu fürchten.

Ich glaube nicht, dass diese Taktik irgendeinen Nutzen hat. Sie ist Terror. Und Terror funktioniert nie. Jeder Tote wird einen ihm nahen Menschen motivieren, die Angriffe zu rächen.

Die Rächer werden zunächst in Pakistan kämpfen, sie werden gegen ihre eigene verlogene Regierung kämpfen. Sie werden heimlich kämpfen, verbissen und mit dem was sie haben. Sie werden in Afghanistan kämpfen. Sie werden da kämpfen, wo sie Nato-Soldaten und Menschen aus Nato-Staaten treffen können. Ihre Ohnmacht gegen den Terror wird zu einem immer heißeren Hass.

Vielleicht gelingt es, einen Taliban-Führer zu töten. Vielleicht aber wird dieser kurzfristige taktische Erfolg zu einem übertriebenem politischen Kurs erkauft. Denn die Terrorflüge mobilisieren gegen den Westen. Gegen seine Feigheit.

Warum sie ihren US-Freund verlassen hat, wird eine Pakistanische Frau in einem populären Witz gefragt. Weil er seine Rakete aus 10.000 Meter Höhe abfeuert, sagt sie.

Ohne einen politischen Erfolg in Afghanistan, wird es nie ein erfolgreiches Ende des Einsatzes geben. Die Patschtunen aus den Grenzgebieten in Afghanistan und Pakistan können nirgendwo hin. Sie müssen den Terror aushalten, bis die USA und der Westen abziehen. Irgendwann. Danach aber werden die, die an ihre Rache glauben, den Abzug als ihren Sieg feiern und alles wird schlimmer als zuvor.

Schon jetzt ist fast die gesamte vom Westen installierte Ordnung desavouiert. Die Politik gilt als heuchlerisch. Vielleicht sogar zu recht. Das US-Militär verdächtigt beispielsweise in internen Dokumenten den Bruder des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai der Zusammenarbeit mit Drogen-Baronen. Es heißt der Mann sei korrupt und nehme Bestechungen an, um den Handel mit Stoff unter seinem Bruder straffrei zu stellen.

Trotzdem kooperieren die USA und ihre Verbündeten mit den Karzais.

Warum und wozu? Zu wessen Nutzen?

Für die Freiheit?

Für uns?

Können wir diesen Krieg mit diesen Partnern gewinnen?

Die Reaper fliegen weiter. Sie töten Menschen. Täglich. Auch das bessert unsere Lage nicht wirklich.

Im vergangenen August bat das deutsche Bundesverteidigungsministerium in den USA darum, fünf Reaper für rund 200 Mio US-Dollar kaufen zu dürfen, samt vier Bodenkontrollstationen und dem dazu gehörenden Schnick-Schnack.

Journalistenpreise für jeden Schwachsinn

Gerade hat mir ein Kollege einen Link geschickt. Zu einem Journalistenpreis. Reporter sollen geehrt werden, die über "vorzeitigen Samenerguss" berichten. Kein Flax. Die zuständige PR-Agentur schreibt: Ejaculatio Praecox sei ein Problem, das man beseitigen könne. Wenn man aufkläre.

Wie sich das für Leute mit Praecox-Problemen gehört, ist die entsprechende Internet-Seite, auf der man sich für den Preis anmelden soll, schon im Beta-Status freigeschaltet worden – und funktioniert natürlich nicht wirklich. Immerhin findet sich da ein "Selbsttest" für Frühfertige. SIC!

Vielleicht ist das ganze ein Hoax. Vielleicht nicht.

Jedenfalls enthüllt der Unsinn den Wert der meisten Journalistenpreise. Statt echte Arbeit zu würdigen, werden Awards benutzt, schwarze PR zu abwegigen Themen in Medien zu drücken. Nach dem Motto: Schreib über unseren Stoff und vielleicht bekommst Du nachher Geld und Anerkennung.

Meiner Meinung nach sollen die Praecox-Jünger besser Werbung schalten. Das wäre ehrlicher.

Ruhrpilot

Das Navigationssystem aus dem  Ruhrgebiet

Arcandor: Krisengipfel soll Rettung bringen…Der Westen

Arcandor II: Metro-Chef gegen Eick…Spiegel

Arcandor III: Ohne  Staatsknete morgen insolvent…FAZ

Arcanor IV: Adieu Kartstadt-Quelle…FAZ

Opel: Fass ohne Boden…Welt

Geschäft: Politmarionette zu versteigern…Kueperpunk

Koch-Mehrin: Kein Geld für Attac…Exportabel

Wiefelspütz: An der Schwelle zum Bürgerkrieg…FIXMBR

Wiefelspütz II: Lieber Herr Wiefelspütz…Prospero

Immobilien: Wohnen im Revier…Pottblog

Festival: Bochum-Total Programm steht…Ruhr Nachrichten

Buch: Schumpeter Biografie…Weissgarnix

Stratmann: Vom Mondpalast in die Politik…Welt

Essen: Protest gegen Nazi-Shop…Der Westen

Ärger: Verliert Assauer Werbevertrag?…Ruhr Nachrichten

Protest: Demo vor WAZ-Zentrale…Medienmoral NRW

Jugend Kultur Zentren 2010 – Teil 6

In dieser Reihe wurden zunächst klassische Soziokulturelle Zentren vorgestellt. Mittlerweile geht es dem Autor weniger um die ehemaligen Hausbesetzer der 80er und Kulturbeamten von heute, sondern um lose Zusammenschlüsse von Menschen, die dabei eigenständige Formate entwickeln und Projekt orientiert auch einmal mit öffentlichen Institutionen zusammen arbeiten (so z.B.). Im Gespräch diesmal: Patrick Matzmohr und Oliver Grunau von u.a. Supercity und Elektronische Wiese.

 

Ruhrbarone ?: Ihr seid an zwei größeren Projekten aus Essen beteiligt, die sich mit elektronischer Musik beschäftigen. Wie kommt man zu so etwas?

Patrick Matzmohr: Die Idee zur Elektronischen Wiese gab es schon vor zehn Jahren, als ich auch schon DJ war und mich fragte, warum diese Musik keine Berücksichtigung findet beim Werdener Pfingst OpenAir. Und da kommt dann eins zum anderen, denn mir fiel auch auf, dass auf der „Made in Essen“-CD, die von der Sparkasse herausgebracht wird, ebenso nie etwas Elektronisches zu finden ist. Insofern war der Name „Supercity“ also eher ironisch gemeint. Der Name wurde das erste Mal sogar ganz einfach als Ortsangabe verwendet, auf einem Flyer für eine Veranstaltung mit Matthias Tanzmann im Baikonur. Einige Jahre später habe ich dann über Musikprojekte und Veranstaltungen den Oliver kennengelernt.

Oliver Grunau: Patrick hat damals mit Tim Krischak zusammen Musik produziert, der wiederum bei meiner Vinyl Lounge im Bahnhof Süd aufgelegt hat. Das war dann direkt eine sehr entspannte Zusammenarbeit, uns war aber recht bald klar dass wir noch mehr Leute aus diesem Bereich zusammen führen, Kräfte bündeln wollten. Und daraus wurde dann eben auch Supercity.

?: Wie organisiert man so eine Zusammenarbeit?

P.M.: Vor allem muss da erstmal etwas raus das man parat hat, veröffentlichen will. Das Supercity-Logo zum Beispiel war innerhalb einer Stunde fertig. Wie man das in Form gießt, das kommt erst später. Ich als Freiberufler schied aus, also hat Oliver für Supercity dann ein Kleinunternehmen gegründet. Und wir fragen einfach befreundete Läden, ob die unsere CD verkaufen wollen. Der Profit fließt dann in die nächste CD, vielleicht auch einmal in Shirts und Badges. Ähnlich bei der Elektronischen Wiese: Mittlerweile gibt es ein kleines Budget, von dem dann auch einmal ein Gast-DJ eingeladen wird, aber alles funktioniert vor allem durch freundschaftliche Kontakte und auch ohne Sponsoren oder klassische Medienpartner (Foto: Patrick Matzmohr).

O.G.: Supercity haben wir auch begonnen ohne einen Mehrjahresplan á la „ Da muss jetzt ein erfolgreiches Label dabei herauskommen“. Idee war eher: „Hier ist Essen, wir gucken uns um und machen dann einfach mal.“ Einen Stein ins Rollen bringen und gucken was passiert.

?: Man behält natürlich so auch die künstlerische Kontrolle. Dabei fällt dann aber schon auf, dass eine Vinyl-Lounge mit elektronischer Musik in einem Laden wie dem Bahnhof Süd natürlich erst einmal wie eine recht gewagte Kombination aussieht. Immerhin interessieren sich ja selbst Clubgänger außerhalb des Wochenendes nur bedingt für diese Musik, und die Klientel im Süd, zumindest bis zum Start der Reihe, doch wohl eher gar nicht.

O.G.: Ich musste da schon recht vorsichtig rangehen an die Sache damals. Der Inhaber meinte zwar: „Bring mal etwas frischen Wind hier rein, Olli. Mittwochs.“ Aber man musste schon signalisieren: „Kein Stress, keine Kasper.“ Eher Leute an den Plattenspielern, die den Lounge-Gedanken gut umgesetzt haben. Darauf haben die alteingesessenen Rockleute dann gut reagiert, vor allem aber wurde die Vinyl Lounge ein Anlaufpunkt für Musiker der Stadt. Wirtschaftlich brachte das konkret gar nicht viel, so dass die Reihe eines Sommers eingestellt werden sollte. Die Abschiedsparty war dann aber so ein Riesenerfolg, wir mussten einfach weitermachen und haben mit der Sandbar zusammen anschließend noch viele erfolgreiche Veranstaltungen gemacht. Es lief also doch. Und außerdem: Es interessieren sich wesentlich eher allgemein für Musik aufgeschlossene Leute für die Supercity-CD als der typische Partygänger.  Da geht über die Identifikation mit der Stadt natürlich dann auch so ein bisschen was zusätzlich bei den Leuten.

?: Inwiefern hat das alles denn dann einen (pop-)kulturellen Wert, gerade jenseits des kaum vorhandenen Profits?

P.M.: Das ist wie so ein Wecker, der gestellt ist und irgendwann losgeht. Die Uhrzeit kennen wir selbst nicht. Das funktioniert ja dann auch rückwirkend, dass Leute irgendwann bemerken: Ach, der DJ hat da ein Stück drauf? Und der produziert ja auch mit dem zusammen? Und wir denken uns ja auch Slogans aus wie „same city, different electronic music“ oder „du bist wir sind du“, damit die Leute Hinweise bekommen, dass in dieser Stadt auch anderes passiert als das Übliche.

?: Bei Köln in Teilen und vor allem in Berlin hat man ja immer ganz subjektiv das Gefühl, dass da selbst der Großneffe von Willy Millowitsch so ein bisschen auch von dem Gefühl getragen wird: Hey, hier ist eine Stadt mit einer weltweit beachteten Popkulturszene. Und das ist hier ja erst bedingt so. Da hat dann Katernberg mal einen großen Tag wenn Freakatronic im Shanghai spielt, oder Altenessen wenn Kreator Topact in Werden ist…

O.G.: Umso schöner, wenn das dann unkompliziert und ohne größeren Einfluss von außerhalb funktioniert. Und die Möglichkeiten, Essen als wichtige Stadt für elektronische Musik zu etablieren, die waren ja immer mal da, von Europas größter Disco, dem Pink Palace, über ganz andere Läden wie das Baikonur oder das Fink, wo eben immer auch Leute von hier Feder führend waren und sich präsentieren konnten. Und an Musikalischem gab es halt früher The Fair Sex oder The Eternal Afflict, und seitdem gab und gibt es immer wieder Leute von hier, die aber eben nicht allzu übermäßig wahrgenommen werden.

P.M.: Ich hatte mal mit Thomas Geier (früher Rote Liebe, jetzt u.a. bei der Band Festland) so eine Diskussion, bei der er diese gewisse Langeweile hier als eher attraktiv bezeichnet hat. Dass eben nicht alle rumlaufen als wäre eine Kamera hinter ihnen her. Und das ist ja wohl gut nachvollziehbar. Man hält sich hier auf, man kann da drin leben, so meint er das wohl. Ich hätte es gerne schon etwas aufregender, mit ein klein wenig mehr Glamour und so, aber das ist ja auch Geschmackssache. Und andererseits müssen sich die Leute auch erst einmal für die Themen und Leute hier interessieren, auch die Medien und Veranstalter.

?: Wobei es ja auch angenehm ist, wenn man eben nicht pausenlos Radio-, Video- oder TV-kompatible Popformate basteln zu meinen muss, nur weil irgendwelche Sender in der Nachbarschaft das direkt oder indirekt einfordern. Ihr hingegen habt jetzt eine neue CD mit interessanter, eigenständiger Musik aus Essen draußen und macht auch noch eine Party dazu…

O.G.: Ja, kommenden Mittwoch, 10. Juni im Essener Goethebunker. Da legen dann auch die Künstler von der CD fast alle auf oder machen einen LiveAct. Alles zugunsten der nächsten Veröffentlichung natürlich.

?: Besten Dank und viel Erfolg weiterhin!

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Dinge, für die die Finanzkrise leider zu spät kam

Die Finanzkrise ist Mist. Menschen müssen kurz arbeiten, oder gar nicht mehr. Länder gehen Pleite. Banken, Versicherungen und Konzerne sowieso. Dazu feiert Vater Staat ein Comeback, durch das selbst Martin Schulz (SPD) aus Würselen ein bisschen wie Barack Obama klingt. Die Finanzkrise hat aber auch guten Seiten: Wettbüros, die so tun, als wären sie Banken, finden wir jetzt doof. Genauso künstliche Palmeninseln vor Dubai, das fernöstliche Hochhauswettrüsten, den Rhein für Hochseedampfer ausbaggern. Doch für manche Dinge kommt die Finanzkrise zu spät. Heute: Die Siemens cookingLounge.

Abbilddungen: ruhrbarone

In der Bayern München Spielstätte von Fröttmaning direkt neben einer Mülldeponie, diesem Stadion am Ende der Welt, das seine Außenhaut wie ein Chamäleon verfärben kann und doch nur aussieht wie ein breit getretener Golfball, in diesem Stadion kann man nicht nur mit dem BMW vor die VIP-Lounge vorfahren und dann abgehalftetere und/ oder wechselwillige Fußballweltstars ansehen. Hier kann man jetzt auch Kochen lernen.

Ein Koch namens Stefan Ziemann betreibt mitsamt dem Münchner Weltkonzern Siemens hier eine Kochschule mit Hochleistungsküche und Logenfenster – was eine genauso beknackte Geschäftsidee ist wie hier eine Bibliothek, ein Kino oder ein Theater zu eröffnen. Doch statt den Ball flach zu halten, und die Stadionpanoramaküche zu den anderen Nieten wie die Rolltreppe ins Nichts (klick) zu legen, haut Siemens im aktuellen Magazin der Süddeutschen Zeitung kräftig auf die Sahne.

"Wenn die Fußballstars des FC Bayern München in die Allianz Arena einlaufen", schreiben die stilblühenden Konzerntexter, "verwandelt sich das Stadion in einen brodelnden Hexenkessel. Ein Kessel, in dem man nun auch kochen kann, denn für fußballbegeisterte Genießer hat Siemens im schönsten Stadion der Welt einen besonderen Ort geschaffen." Oink.

Ich wiederhole: Siemens hat den "fußballbegeisterten Genießer" entdeckt, für den es im "schönsten Stadion der Welt" (?) jetzt das Angebot gibt, "während rundum die Emotionen hochkochen", auf 160 Quadratmetern "Spitzengastronomie und Fußball" zu "genießen". Der fußballbegeisterte Genießer darf auch wählen, ob er während des Spiels mit einem Menu bekocht wird oder ob sich für ihn an das Fußballspiel "noch ein exklusiver Kochkurs" anschließt.

  Ich versuche es mir vorzustellen, bin schließlich auch fußballbegeistert und ein Genießer: Ich fahre  Samstags zum FC Bayern in die cookingLounge, treffe auf andere Genießer, stehe um den Herd von Herrn Ziemann. Während sich draußen die Spieler warm machen, gucke ich zu wie der putzt, schneidet und brutzelt. Setze mich zum Anpfiff auf die Freischwinger, plaudere mit Tischnachbarn, höre Stadionatmosphäre, sehe mal zum Stadion TV mal aufs Spielfeld. Es gibt einen leckeren Tropfen aus dem Rheingau, es duftet nach Basmatireis und Noilly Prat. Und für die Halbzeitpause hat Herr Ziemann was ganz besonderes in Petto: "Meine Empfehlung zur Halbzeitpause: Mit Vanilleschote gepiercter Seeteufel an Risotto und Frühlingszwiebeln".

Ich schätze mal, auch beim schrumpfenden, kriselnden Weltkonzern Siemens möchte man einige Geschäftsideen der letzten Jahre gerne ungeschehen machen: mit bundesdeutschen Handyschraubereien angefangen zu haben, blind auf die Einschienenbahn (klick) zu setzen, die geschmierten Pseudogewerkschaften. Auch die Kochschule im Fußballstadion dürfte bald dazu gehören. Das kommt dann bei der nächsten Wirtschaftskrise unter die Räder.

Ist die Piratenpartei die SPD von heute?

Viele meinen, die Piratenpartei sei eine Protestpartei ohne Substanz. Das war die SPD auch einmal. Immerhin sind die Sozialdemokraten heute keine Protestpartei mehr.

Der 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) von Ferdinand Lassalle war, wie die Piratenpartei heute, eine Protestgruppe mit einem minimalistischen Programm, ganz auf die Interessen einer gesellschaftlichen Gruppe zugeschnitten, die von den herrschenden Schichten nicht wahrgenommen wurde, und für die sich niemand einsetzte. Die Arbeiter. Es ging um das Wahlrecht und Unternehmen in Arbeiterhand. Die Forderungen waren selbst im eigenen politischen Umfeld der gerade entstehenden Arbeiterbewegung umstritten und stießen beispielsweise bei Karl Marx auf offene Ablehnung. Später wurde aus diesem kleinen Verein die SPD.

Lassalle selbst war eine schillernde Figur, die für Aufmerksamkeit sorgte, selbst von Bismarck empfangen wurde und ein Jahr nach Gründung des ADAVs bei einem Duell um die Gunst von Helene von Dönniges starb. Er versuchte, bei einem Shootout den Vater von Dönniges zu töten, der gegen eine Heirat der beiden war – und verlor.

Der ADAV wurde 1863 kaum ernster genommen als die Piratenpartei heute. Wenn die Piratenpartei heute als naive Protestpartei ohne klare Antworten zur Lösung der Probleme zwischen Netizens und Restgesellschaft beschrieben wird, erinnert das etwas an die damalige Kritik an Lassalle und seinem Programm.

Wie Christian Stöcker in seinem Spiegel-Online Beitrag "Die Generation C64 schlägt zurück" beschrieben hat, gibt es längst eine Gruppe, die sich selbst stark in der digitalen Welt verortet. Ihr Kommen hat sich über Jahrzehnte angekündigt: Sie wurde von Sherry Turkle in „Die Wunschmaschine“ (Org. 1984) ebenso beschrieben wie in „Leben im Netz“ (Org. 1995) und bekam von Matthias Horx 1984 (damals noch kein „Zukunftsforscher“ sondern Journalist) den Namen Chip Generation verpasst – unter dem Titel veröffentlichte Horx damals einen „Trip durch die Computerszene“. Und wie so häufig, wurde dieses Kommen von der Politik und ihren Beratern komplett ignoriert. Das Internet ist für sie vor allem eine Möglichkeit über Twitter, Facebook und Blogs billig PR zu verbreiten – als zumindest partieller Lebensraum von immer mehr Menschen, wird es nicht wahrgenommen.

Die Bewohner des Netzes sind in den vergangenen Monaten von der Politik nicht nur ignoriert – was den meisten von uns wahrscheinlich ziemlich egal gewesen wäre – sondern offen attackiert worden: Netzsperren, das absurde Verbot von „Killerspielen“ und die Ankündigung von Wiefelspütz, weitere Online-Inhalte zu sperren, wird von vielen als genau das empfunden: Ein Angriff auf ihre Art zu leben und das initiiert von Menschen, die schlicht nichts anderes als digitale Analphabeten sind. Nicht wenige der Netizens werden morgen vielleicht die Piraten wählen. Die romantische  Unabhängigkeitserklärung des Cyberspaces, von John Perry Barlow 1996 verfasst, scheint so aktuell wie nie.

Es gibt das Argument gegen die Piraten, dass es sich nicht lohnt eine kleine Partei zu wählen, sondern dass es sinnvoller ist, die Inhalte, die einem wichtig sind, in die großen Parteien einzubringen. Das Argument hat einen langen Bart und wurde schon immer von den Anhängern etablierter Parteien vorgebracht. Und es ist falsch. Es hat sich für die Arbeiter gelohnt, im 19. und 20. Jahrhundert die SPD zu wählen, um die eigenen Interessen voran zu treiben, und es war für die Ökos der 80er richtig, für die Grünen zu stimmen und nicht darauf zu setzen, dass SPD, CDU und FDP sich irgendwann einmal des Themas Umwelt annehmen. Wer glaubt, eine Partei von innen verändern zu können, ist wahlweise naiv oder dumm: Gerade bei den großen Parteien findet Politik auf Ortsvereinsebene, da, wo das Neumitglied sich engagieren kann, kaum statt. Ein Freund von mir bezeichnet die Treffen seines SPD-Ortsvereines als „Rentnerbespaßung“ und meidet sie längst. Bei der CDU sieht es kaum anders aus. Wer da etwas bewegen will, muss bereit sein, große Teile seiner Lebensenergie zu verschwenden – aus guten Gründen will das kaum jemand, weswegen die Parteien unter Mitgliederschwund und Überalterung leiden.

Die Wahl der Piratenpartei kann die Interessen der Netizens, der Generation C64, vorantreiben. Wenn morgen die Piratenpartei via Schweden in das Europaparlament einzieht und in Deutschland ein Ergebnis jenseits der 0,5 Prozent erreicht, sind die Forderungen einer Gruppe auf dem Tisch, um die sich die Altparteien bislang kaum gekümmert haben. Wenn dann Vertreter der Piratenpartei in Talkshows auf Figuren wie Wiefelspütz treffen, die nicht die geringste Ahnung haben, wovon sie überhaupt reden, werden die ihr blaues Wunder erleben: Die Spitze der Piratenpartei besteht aus IT-Fachleuten, Naturwissenschaftlern und Ingenieuren die wissen, wovon sie reden. In der Politik eher die Ausnahme als die Regel.

Klar, das Programm der Piratenpartei ist noch nicht dazu angetan, sie den Kanzler stellen zu lassen – aber es gibt im Europawahlprogramm klare Aussagen zur Verfassung der EU, zur Militärpolitik und zum öffentlichen Nahverkehr. Für nahezu alle Fragen rund um die Digitalisierung der Gesellschaft haben hingegen die Altparteien kaum Antworten – und die hat gerade erst begonnen.

Die Piratenpartei kann zu einem Muster für eine offene Kommunikation werden und sich, wenn genug Leute mitmachen, noch gut entwickeln. Parteien sind langfristige Projekte, deren großer Erfolg sich oft erst in Jahrzehnten einstellt. Die Piratenpartei ist ein spannendes Projekt – vielleicht floppt sie, vielleicht wird sie ein Erfolg. Aber eines ist heute schon klar: Wer morgen die Piraten wählt, wirft seine Stimme nicht weg. Nach all den Berichten  über diese Partei wird auch der kleinste Erfolg medial große Wirkungen haben und die anderen Parteien zwingen, sich zur Digitalisierung und zum Netz zu positionieren. Das wäre doch schon mal was – und die Europawahl ist dazu eine gute Gelegenheit: Wir wählen bei der Europawahl ein Parlament, das kein Initiativrecht hat und über weite Teile des EU-Haushaltes noch nicht einmal mitreden darf. Und in das die Parteien ihre zweite und dritte Garde schicken – also kann man mit seiner Stimme experimentieren. Viel zu verlieren haben wir dabei nicht.