Alle Nachrufe sind geschrieben. Weil auf dieser Seite an anderer Stelle immer wieder in Kommentaren gefragt wird, Fan welches Vereins ein ruhrbaron-Autor sei: ich konnte diesen Nachruf auf dem Borussia-Mönchengladbach-Fanblog seitenwahl.de besonders gut nachfühlen.
Vieles spricht dafür, dass der Fall Enke nur die Spitze eines Eisberges ist. Kürzlich hat Sebastian Deisler, ebenfalls ein Ex-Gladbacher, mit einer Buchveröffentlichung, bei der ihm Tagesspiegel-Autor Michael Rosentritt behilflich war, einen tiefen Einblick in seine Krankheitsgeschichte gegeben. Wer das gelesen hat, wird von Enkes Fall weniger überrascht gewesen sein. Deisler/Rosentritt vermittelten das Bild einer archaisch und extrem gestrig anmutenden verschwiemelten Männer-Macho-Gesellschaft, die, verbunden mit dem milliardenschweren Geschäfts- und Profitdenken des heutigen Profifussballs auch weniger zarte Gemüter schnell anwidern kann.
Es gibt Bereiche, in denen Modernisierungs- und Menschlichkeitsfortschritte erkennbar sind, allerdings auch diese nur, weil sie dem strikten Erfolgsdenken Folge leisten.
Da sind zum einen die schwarzen Fußballer, die sich mit wachsendem Selbstbewusstsein aufgrund starker sportlicher Leistungen dem Rassismus entgegenstellen. Namentlich sind da – in schöner Ruhrgebietsausgewogenheit – Gerald Asamoah und Patrick Owomoyela zu nennen, die auch ausserhalb des Platzes eine starke Position beziehen. Unsichtbar hinter diesen Stars bleiben jedoch die zahlreichen afrikanischen Fußballer, die in sklavenähnlichen Verhältnissen – meistens über die Drehscheibe Belgien – nach Europa gebracht werden, um auf diesem Kontinent der unbegrenzten Fußball-Möglichkeiten für sich und ihre zurückbleibenden Angehörigen das Glück zu finden. Weniger als 5% von ihnen sehen wir in den Stadien des Profifußballs. Die andern sehen wir so wenig, wie die Tausenden, die jedes Jahr im Atlantik und im Mittelmeer jämmerlich ersaufen.
Zum andern sind das die deutschen Fußball-Frauen, die, wie in anderen Branchen auch, eine signifikant stärkere Leistung als die Männer liefern, nämlich als Serien-Welt- und Europameisterinnen, und dafür wie üblich entschieden schlechter bezahlt werden. Immerhin habe beide, die Schwarzen, wie die Frauen offizielle Unterstützung durch den DFB und seinen Präsidenten. Das ist noch nicht lange so.
Ein großer Schritt nach vorn war ausserdem das SZ-Interview von Philipp Lahm. Mit einer glasklaren Problemanalyse hat er sich bei seinen Bossen unbeliebt gemacht, deren Sprüche („wird er noch bedauern“) wenige Tage später durch Enkes Selbstmord eine Kodierung bekamen, die sicher nicht beabsichtigt war, und ihre Artikulierer hoffentlich ein wenig beschämt.
Dann ist da noch der Bereich der Homophobie im Fußball, dessen widerliche Ausprägungen in verschwitzten Umkleidekabinen Deisler zu schildern wusste. Auch da will DFB-Präsident Zwanziger ran, aber bisher ist er – zumindest in der Öffentlichkeit – nicht so richtig vorwärts gekommen. Jürgen Klopp ventilierte kürzlich in einem Interview auf ungewohnt zurückhaltende Art eine durchaus gute Idee: nicht ein einzelner Spieler sollte sich als schwul outen. Seit dem Selbstmord des schwarzen Briten Fashanu 1998 traut sich das verständlicherweise sowieso keiner. Sondern eine Gruppe von mindestens 10, besser mehr Spielern sollte es tun, damit sich die Publicity-Belastungen auf viele Schultern verteilen.
Ein frommer Wunsch wird es bleiben, das Rad des grassierenden Milliardenwahnsinns im Fußball, das den jugendlichen Millionären eine materielle Verantwortung für ihr soziales Umfeld aufbürdet, die sie gar nicht tragen können, zurückzudrehen. Ein ebenso frommer Wunsch ist es, dass das Männerbusiness, wie es andere Branchen längst tun, die Relevanz sog. „soft skills“, wie Empathie, Kommunikations- und Teamfähigkeit, Kompromissbereitschaft etc. anerkennt, und fähige Frauen in die Chefetagen einziehen lässt. In Zeiten des aufrechten Gangs, der Entwicklung von Schrift und Sprache, des Herabsteigens von Bäumen und des Bewohnens von richtigen Häusern müsste das eigentlich möglich sein und könnte das Business sowohl effizienter als auch menschlicher machen. Schauen wir nach Rom: dort wird eine Millionärs- und Vereinserbin, Signora Sensi gerade nach allen Regeln der Berlusconi-Kunst fertig gemacht. Wäre das hier anders? Mangels Versuch wissen wir es nicht.