
Max beklagte in einem Kommentar die Lieblosigkeit im gestrigen Text über die Wattenscheider Schule. Er mag in der Tendenz Recht haben. Denkt man, wenn man den Text liest. Ein Schnellschuss. Stefan Laurin ist kein Kulturkritiker. Das war ein grandioser Abend am Mittwoch in der Rottstraße. Nach kleinen Vorpremieren gab es die Wattenscheider Schule erstmals bei einem Heimspiel, das immer als Auswärtsspiel zählen wird, im Herzen der Bochumer Innenstadt.
Schlange und Joswig, gebürtige Gesinnungswattenscheider, erzählen die Geschichten aus dem Revier und bereisen aus dem Revier heraus die Republik. Reportagen sind das angeblich, so sehen diese Stories auf den ersten Blick auch aus. Faktensicher, in der Zeit und mehr der Wahrheit als der Wirklichkeit verpflichtet, stehen sie dabei ganz nebenbei in der Tradition von Egon Erwin Kisch, der die Wirklichkeit gerne mal der zu erzählenden Wahrheit unterordnete. Wenn ab Neujahr von der Nachhaltigkeit der Ruhr.2010 wenig übrig geblieben sein wird, werden die Reportagen der Wattenscheider Schule weiter zu lesen sein. Man kann nur hoffen, dass es sie auch weiter zu hören gibt. Wenn sich Koloniebewohner, Taubenväter, Stahlkocher und Bergleute endgültig verabschiedet haben, wird der Kern des Ruhrgebiets übrig bleiben: Haltung.
Das Duo ist genial, nicht nur bei den Lesungen, die nie die erzählenden Typen hinter den Texten verstecken. Ein Schauspieler und ein Journalist ziehen in die Welt und setzen sich den Absonderlichkeiten des modernen Lebens aus, bleiben stets Außenseiter, Loser, auch oder gerade in der Masse. Dazu wenden sie wirkungsvoll einen simplen Kunstgriff an, der nun mehr Schauspiel ist als Journalismus. Das Duo Bastian Schlange und Patrick Joswig inszeniert das Duo Schlange/Joswig. In ihren Texten umgehen sie das reporteronkelhafte: “Wir… betreten den Raum”, wenn der Schreiber eigentlich sich meint, aber um jeden Preis das peinliche “Ich” vermeiden will, und verfallen auch nicht in das nicht weniger dumme “der Berichterstatter schaut verwundert”, um eine leere Hülle der Objektivität vorzutäuschen. Sie schreiben von sich in der dritten Person, aber diese beiden Dritten sind fein und genau gezeichnet, irgendwie tölpelig, versoffen oder verkatert, zumindest vollkommen verpeilt. Das leben sie nicht nur im Außen-, sondern auch im Binnenverhältnis aus. Mal trägt der eine zum Ärger des anderen die nützlichen langen Unterhosen beim Auswärtsspiel der SG Wattenscheid, mal zeigt einer sich als Festivalprofi (“Jesus Freaks”) und packt die rettenden Flipflops ein. Und wechselseitig hilft man sich bei alkoholgeschuldeten Aussetzern weiter. Was da im einzelnen Pose und was Geschehenes ist, bleibt uns Zuhörern verborgen. Egal. Wichtig ist die Story, denn, das wusste schon Alfred Polgar: “Geschichten werden niemals richtig erlebt, nur manchmal, sehr selten, richtig erzählt.” Das tun die Beiden.
Erstaunlicherweise entsteht gerade aus ihrer charmanten Deppenperspektive der klare Blick des inszenierten Außenseiters. Das ist ein alter Comedian-Kunstgriff: “be vulnerable”, sei angreifbar, verwundbar. So funktioniert Komik. Journalismus ist eher das Gegenteil.
Die Wattenscheider interessiert die Masse, und auch hier steht, scheinbar widersprüchlich, der Außenseiter im Fokus. Sie fahren mit der SG Wattenscheid im Linienbus zum Auswärtsspiel statt in der Schalker Nordkurve zu stehen, besuchen die Jesus Freaks statt beim Hurricane abzuhängen und betreten die absonderliche Welt des Halterner Prickinghofs, wo andere Disneyland ansteuern würden. Entsprechend ist das Personal der Reportagegeschichten, eher abwegig, seltsam, verloren. Über die Schönen und Reichen der Republik sollen andere schreiben, die aus Frankfurt kommen, oder aus Düsseldorf.
Das großartige Label der “Wattenscheider Schule” scheint weniger Gag als berechtigte Einordnung. Komisch wie die Neue Frankfurter Schule, Pop wie die Hamburger Schule und Philosophie wie die Mutter aller Schulen, die Frankfurter. Wer das Reporterduo ergründen will, schaue nur einmal in Siegfried Kracauers “Ornament der Masse”.
Kritik soll auch sein, gerne. Vor Veröffentlichung sollte an seine Texte noch einmal gegenlesen lassen. Es sind Winzigkeiten. So gibt es zu Bauer Ewald eben keine Butter-, sondern Kaffeefahrten, beides ist beileibe nicht synonym. Ein Jungsozialist würde im SDAJ-Pfingstcamp nicht viel Freude haben, gemeint ist auch ein junger Sozialist. Das sind Lächerlichkeiten, da zuckt der Klugscheißer kurz beim Zuhören. Wirklich schade ist, dass Joswig und Schlange manchmal ihren Texten nicht trauen. Der schmierige Kellner vom Prickingshof etwa muss nicht auch noch “menschenverachtend” gucken. Der Text hat uns längst verraten, was dort geschieht. (Dieser Absatz sollte vor allem der Glaubwürdigkeit der Kritik dienen, bewahrt er doch den Lehrsatz: Nie mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit der Guten.)
Der Rezensent hat alle drei Lesungen der Jungs nüchtern mitbekommen. Er hat jedes Mal in den vermeintlich bekannten Texten Neues entdeckt. Jede Lesung war besser. Am Mittwoch mussten wir die Veranstaltung leider kurz vor Schluss verlassen, es gab noch eine Geschichte zu erleben in Dortmund.







