
Im Spiegel beklagen die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey den Aufstieg eines „demokratischen Faschismus“. Einen Grund dafür sehen sie in der Wirtschaftskrise. Dass Wirtschaftswachstum die Lösung sein könnte, erkennen sie nicht.
In einem Spiegel-Gespräch über ihr neues Buch Zerstörungslust beschreiben Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey den „demokratischen Faschismus“. Der historische Faschismus, führt Nachtwey aus, sei eine Bewegung gewesen, die die Demokratie überwinden und zerstören wollte. „Das ist heute anders. Die Faschisten von heute wollen die Demokratie erneuern und eine vermeintlich echte Demokratie schaffen – ein System, in dem es eine Identität von Volk und Regierung gibt. Sie wollen Wahlen gewinnen.“
Der Begriff „demokratischer Faschismus“ ist fragwürdig. Denn was Amlinger und Nachtwey beschreiben, erinnert weniger an den historischen Faschismus, sondern an autoritäre Bewegungen, die demokratische Verfahren instrumentalisieren – also an Trump und Orbán. Treffender wäre deshalb, von einem „demokratischen Autoritarismus“ zu sprechen. Aber „demokratischer Faschismus“ verkauft sich wohl besser.
Amlinger und Nachtwey haben mit vielen der neuen, „demokratischen Faschisten“ gesprochen. Diese hätten das Gefühl, dass sich die Gesellschaft im Niedergang befinde, und würden das an Alltagsbeobachtungen festmachen: Die Bahn sei unpünktlich, die Brücken marode und die Straßen löchrig.
„Unsere Gesprächspartner“, sagt Amlinger, „hatten das Gefühl, dass sich die Ressourcen verknappen, dass der eigene Wohlstand langsam Risse im Putz bekommt.“ Nachtwey macht das an einem treffenden Beispiel fest: In der Nachkriegsmoderne dachten Menschen, wenn der Nachbar einen guten Job hatte, dass sie dann auch einen besseren bekämen. Heute habe sich die Wahrnehmung gedreht: „Mein Nachbar hat jetzt einen guten Job – es gibt also einen weniger.“ Studien würden zeigen, dass die Aufstiegschancen für Arbeiter gesunken seien. Die soziale Stagnation sei für die unteren 30 Prozent Realität. Der soziale Wandel vollziehe sich widersprüchlich: „Es gibt den Fortschritt ja noch, aber nur in bestimmten Bereichen: der Gleichstellung nicht-binärer Geschlechter, der steigenden Frauenerwerbstätigkeit, generell der normativen Egalisierung. Diesen Fortschritten stehen materielle, finanzielle Rückschritte gegenüber. Einen kausalen Zusammenhang gibt es nicht, aber das Nebeneinander von Fortschritten und Rückschritten ist für uns eine der zentralen Erklärungen dafür, dass Menschen faschistische Fantasien entwickeln.“
Was man gegen den Aufstieg des „demokratischen Faschismus“ machen kann, wissen die beiden nicht, sind sich aber sicher, dass „konventionelle politische Aufklärung, zum Beispiel Faktenchecks“, nicht helfen.
Liest man das Interview, hat man den Eindruck, dass da ein großer Elefant im Raum stand, den Amlinger und Nachtwey geflissentlich ignorierten, weil er nicht in ihr Weltbild passt: das Wirtschaftswachstum. Seine Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft erklärte vor zwei Jahren der Dortmunder Soziologe Aladin El-Mafaalani auf den Ruhrbaronen: „Das Wachstumsversprechen bestand darin, dass alle davon profitieren. Dazu gehörte der Aufstieg für die besonders Fleißigen und der Sozialstaat, der sich um diejenigen kümmerte, die Hilfe benötigten. Das war wichtig für Zusammenleben und Zusammenhalt in Deutschland, aber an dieses Versprechen glauben immer weniger.“ Wenn man intendiert gegen Wachstum arbeite, würde es schwierig: „Denn Wachstum hat dazu beigetragen, Zusammenhalt in der Gesellschaft zu schaffen. Wenn das wegfällt, wird es problematisch, solange wir keinen funktionalen Ersatz haben.“
Will diese Gesellschaft verhindern, dass die AfD größer wird, täte sie gut daran, auf Wirtschaftswachstum zu setzen. Um das zu erreichen, muss sie allerdings mit einer jahrzehntelangen Politik brechen, die Wachstum verdammte und ökologischen Fundamentalismus über Wohlstand stellte. Dass so eine Politik zu Verteilungskämpfen führt – und von denen Extremisten profitieren –, war immer naheliegend. Das bedeutet Technologieoffenheit, ein Ende der Energiewende nach deutscher Art, Bürokratieabbau, ein Zurückdrängen der klagefreudigen NGOs. Ezra Klein und Derek Thompson haben diesen Weg in ihrem Buch „Der neue Wohlstand“ beschrieben. Ja, Jürgen Trittin wird leiden, Angela Merkel ihr Lebenswerk gefährdet sehen und die Gretas werden wüten. Aber das ist alles besser, als die Demokratie zu gefährden. Und reicher werden wir auch noch.
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Die Frage ist: wieso geht das alles nach rechts auch wenn es eigentlich gegen die Interessen vieler Betroffenen ist.
Bekanntlich wurden mit New Labour Konzepte wie Wohlfahrtsstaat usw. faktisch als Antwort entsorgt. Übrig bleibt lediglich als Alternative die weitere Verrohung in diversen Graden als parteiübergreifender Konsens. Und auch in vermeintlich kleinere Ereignisse zeigen dies:
Kaum ist in Frankfurt-M ein Stadtpolizeichef Heinrich, welcher seine Einsätze an der „Startbahn West“ wohl reflektierte, im Ruhestand wird das absurd teure „Abzetteln“ (wörtlich gefordert) bei „Kleinmüll“ usw. gegen welches sich dieser wehrte („so eine Polizei wollen wir nicht sein.“) realisiert. Die einstige Kritik am autoritären Staat mit Knüppelgarde wird verrentet. Da bleiben einem auch die Dauerskandale bei der Landespolizei in Frankfurt wohl erhalten (rassistische Chats, Gewalt, Aufgelöste Kommandos…). Eine Polizei wie sie sich ein Trump wohl wünschen würde.