„Wo bleibt der Aufschrei der Kultur in Bochum?“

Synagoge Bochum 1929 – Bochumer_Anzeiger vom 8 Mai 1929 (Digitalsat)

„Ihr seid nicht für das verantwortlich, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“ Thomas Eiskirch, Bochums OB, zitierte Max Mannheimer da, wo vor 85 Jahren eine Synagoge stand. Noch nie in diesen Jahren hat sich die Gegenwart in dem, was geschah, so passgenau erkannt.

El male rachamim, gebetet von Andrés Bruckner, dem Rabbi der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen. Das Gebet ist so alt, wie es Pogrome in Europa sind, seit den Kreuzzügen wird es gesprochen für die Opfer des Hasses, der Juden gilt. Eine historische Linie aus dem 11. Jahrhundert ins Heute. „Heute“, sagte Bochums OB Thomas Eiskirch (SPD) auf der Gedenkveranstaltung, die das Pogrom 1938 erinnerte, „sind wir mehr denn je gefordert, Nein! zu rufen“. Warum mehr denn je? Weil die Existenz Israels auf dem Spiel steht: „Wo bleibt er Aufschrei der Kulturschaffenden in dieser Stadt, die sich doch sonst deutlich positionieren? Wo bleibt der Aufschrei in den Hochschulen? Jetzt ist der Zeitpunkt, wo wir laut werden müssen. Jetzt, wo das Existenzrecht Israels bedroht wird, genau jetzt ist die Zeit, sich zu bekennen!“

Neben den Kultur- und Bildungseinrichtungen, die Bochum nicht dafür alimentiert, dass sie abtauchen, wenn es weniger woke wird, sprach Eiskirch eine dritte Gruppe von Bochumern direkt an, die Muslime: Die Drohbriefe, die drei ihrer Gemeinden erreicht haben, seien „unerträglich“, Eiskirch versicherte den Muslimen alle Solidarität, es gab Applaus. „Es ist aber auch klar, dass alle sich zum Existenzrecht Israels bekennen. Solidarität ist keine Einbahnstraße!“ Die CDU-geführte Landesregierung in NRW hatte Vertreter der muslimischen Verbände jüngst dazu animiert, Synagogen zu besuchen, um  –  vor allem in die eigenen Reihen hinein  –  für ein friedliches Miteinander zu demonstrieren und den Terror der Hamas zu verurteilen. Tatsächlich, so berichtete es jetzt Die Zeit, verschweigt der größte Verband, die türkisch-islamische DiTiB, ein solches „Bekenntnis“ den eigenen Gemeinden gegenüber.

Aus dem neuen Alltag der Jüdischen Gemeinde zeichnete Andrés Bruckner, der Rabbi, einige Szenen nach. Der ständige Blick auf Nachrichtenportale, das Gefühl, vom Nachrichtenstrom hinweggerissen zu werden, die Ängste, die apokalyptische Maße annehmen: „Nähern wir uns dem Ende der Zeiten? Wir stehen am Rande des Abgrunds …“

El male rachamim, Gott voller Erbarmen, was Bruckner sagte und wie er es tat, klang abgründig anders als jener Daueralarm, wie ihn die Klimabewegung anstellt, so wie es eine Generation zuvor die Friedensbewegung getan hat. Dass es so anders klingt, hat einen einfachen Grund: Am Rande des Abgrunds stehen immer nur die Juden. Hinter ihnen nur die, die sie stoßen, vor ihnen das Nichts, um sie herum Schweigen. „Sie wissen ja, was Gleichschaltung ist, es hieß, dass die Freunde sich gleichschalteten“, so erinnerte sich Hannah Arendt an das Jahr 1933: „Das Problem war nicht, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Es war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete.“

Und wieder kam die Vergangenheit mit dem Blick aufs Nachrichtenportal überein: Schüler der Willy-Brandt-Gesamtschule hatten das Schicksal der Bochumer Familie Seidemann recherchiert und erzählten es nach … Kein Erinnern für die Zukunft, ein Erinnern für die Gegenwart.

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