Nach Boy’s Don’t Cry geht es heute mit der zweiten Platte von The Cure weiter: Seventeen Seconds.
Der Nachfolger zum erfolgreichen Debut ist ein Statement, schon das Intro ist ein Statement. Man wird nicht auf treibenden Postpunk setzen, nicht versuchen, den Erfolg von Boys Don’t Cry zu wiederholen. Statt dessen wird es kalt und langsam und düster. Das zeigt schon das Cover-Artwork, das geradzu perfekt zur Musik auf dieser Platte passt. Für mich bildet Seventeen Seconds mit den beiden Nachfolger-Alben Faith und Pornography eine Art Trilogie, bevor dann der nächste große Einschnitt kommt. Und die Sprache, in der diese Trilogie formuliert ist, wird schon mit den ersten Tönen eingeführt.
Künstlerische Entwicklungen gehen immer parallel und sicher werden Leute, die sich besser auskennen, Beispiele nennen können, bei denen so ein Sound noch früher zu finden ist. Aber für mich ist dieses Album ein Meilenstein, der mit seinen mechanischen Drums, der sparsamen Instrumentierung, den trostlosen Harmonien eine ganze Kategorie von Genres erst möglich gemacht hat. Egal ob Postrock oder Blackmetal oder Gothic oder Industrial – wenn Musiker innere Eislandschaften vertonen, kommen fast immer Passagen dabei heraus, die von der Seventeen Seconds stammen könnten. Hier z.B. spielen Carpathian Forest A Forest und sie müssen gar nicht viel ändern, um das Stück ins eigene Soundgewand zu kleiden (ich verlinke die Band wegen rassistischer Äußerungen nur ungern, aber das Beispiel ist sehr aufschlussreich).
Was für eine geniale Idee alleine schon, den Gesang so leise abzumischen wie auf „Secrets“ (und auch bei den meisten anderen Liedern sind die Vocals sehr leise). Das Tempo ist weder treibend noch schleppend sondern von einer unerbittlichen, gleichförmigen Geduld, wie die Kolben einer unaufhaltsamen Maschine. Oder der Herzschlag, der einen am Leben hält, egal wie erfroren die Seele ist. Hier und da gibt es sehnsüchtige oder tröstliche Melodien, etwa auf M, das vielleicht sogar mein Lieblingsstück ist – aber im Großen und Ganzen steht auf diesem Album das Bedrohliche und zugleich Abgebrühte im Vordergrund. So folgt ja auch auf M gleich wieder das sägende, gleichermaßen grandiose At Night.
Ein wenig aus der Reihe fällt Play For Today. Ich muss dazu sagen, dass ich dieses Album verhältnismäßig spät in meiner Sammlung hatte. Sehr früh hingegen hatte ich schon die Singles-Sammlung Standing On The Beach, ich glaube sogar, letztere war das zweite, was ich mir von The Cure auf Kassette aufgenommen habe. Daher höre ich die Songs von dieser Compilation mit etwas anderen Ohren. Und dort ist Play For Today eines der frühen, eher treibenden Stücke. Trotzdem passt es durchaus noch auf dieses Album. Es ist kein Fremdkörper, aber es ist vielleicht das Poppigste, das in den Grenzen dieser dystopischen Eiswüste möglich war.
Interessanterweise wird Play For Today aber gar nicht als Single aufgeführt, obwohl es auf der Single-Compilation vertreten ist und auch ein Musik-Video hat. Aber die einzige offizielle Single ist A Forest und dieses Stück ist natürlich eine eigene Erwähnung wert. A Forest hat eine großartige Atmosphäre und einen gewaltigen Sog. Und so ist es kein Wunder, dass die Band dieses Stück immer wieder live gespielt und als Grundlage hypnotisierender, ausufernder Jam-Orgien gemacht hat. Immer wieder werden sie erfinderisch und gerne spielen sie es live in Kombination mit dem unveröffentlichten, noch viel experimentelleren Forever. Schon die früheste Version von 1979 ist eine Alternativ-Fassung, das Stück war also von Anfang an im Fluss. Damals, mit 15, habe ich mir eine ganze Kassette mit Live-Varianten diverser Bootlegs von A Forest zusammengestellt. Neunzig Minuten dieses Stück, mal schneller, mal getragener, teils mit neuen Vocals, immer mit ausufernden Solos, bis der Teenager-Kopf in Trance gerät und vorübergehend aus dieser schwierigen Welt entschwindet.
Und weil dies eine service-orientierte Kolumne ist und sich offenbar sonst noch keiner die Mühe gemacht hat, gibt es hier eine Playlist mit (fast) allen Versionen von A Forest in (fast) chronologischer Reihenfolge. Da sind ein paar Stunden Realitätsflucht garantiert.
Der Autor schreibt hier regelmäßig über Musik. Über Musik redet er auch im Podcast Ach & Krach – Gespräche über Lärmmusik.
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Danke für den Beitrag!