Kerouac, Bukowski, Streletz

„Rohbau“, heißt der neuste Roman des Bochumer Autoren Werner Streletz. Nachdem die Publikation bereits mehrere positive Besprechungen gefunden hat, wagt unser Chefkritiker Carsten Marc Pfeffer den Streletz-Check. Zudem bietet sich heute Abend die Gelegenheit, Werner Streletz im Museum Bochum live zu erleben. Unter dem Motto „Der diskrete Charme der Revolte“, wird der Autor in Kooperation mit der Literarischen Gesellschaft ab 19 Uhr die Texte der Beatniks performen.  

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Werner Streletz ist in hiesigen Gefilden natürlich kein Unbekannter. In den letzten Jahrzehnten hat der Autor ein umfangreiches Werk zu Wege gebracht, das über Gattungsgrenzen hinweg weit in den Raum greift. Dass dieser Raum zumeist im Ruhrgebiet angesiedelt ist, erweist sich nicht als Manko, sondern macht die Lektüre umso attraktiver. Schließlich hat der Pott alles, was ein Streletz-Roman braucht. Hier ist der Kiosk kaputt und die Schlote rotten vor sich hin. Hier wird das OFF groß geschrieben. Und genau aus diesem Off kamen plötzlich die Jugendkulturen und das Interesse an Kultur, damals als Streletz noch jung war. Als er mit den Beatniks rumhing und sich als Liedermacher versuchte. All das steckt in seinem Werk. Strukturwandel und Wahn. Sein neuster Roman klopft nun an die Tür der großen Gefühle, es entsteht ein hohles Geräusch. Jim Morrison hätte sich aus dem Fenster gestürzt.

 

Abbrechende Streichhölzer

 

Am Ende ist doch jeder allein, und Johny weiß es jetzt auch. – Was so klingt wie ein vergessener Hit von Hans Albers, ist das nüchterne Resümee einer großangelegten Erzählung, die den Protagonisten durch das schäbige Grau einer typisierten Ruhrgebietsstadt führt, und ihn mehr Tiefen als Höhen

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Der Nibelungenstream

Foto: Charlene Markow

Das Theater als Autor. Anlässlich der 24stündigen Nibelungenmarathon-Lesung im Rottstr5Theater vom 21. bis zum 22. Mai richtete der Dramaturg Carsten Marc Pfeffer einen Blogstream ein. Im Ergebnis entstand ein Gemeinschaftstext der Beteiligten. Eine spannende Chronologie, die anhand von Erlebnisberichten den Marathon Revue passieren lässt. Am 23. Mai ging der Rough-Mix online. Doch der Text wuchs weiter. Bis zum 31. Mai wurde der Blogstream mit nachgereichten Beiträgen ergänzt. Hier der Gesamttext.

Mit Beiträgen von Hans Dreher, Carsten Marc Pfeffer, Honke Rambow, Rasmus Rehn, Lydia Schindler, Chantal Stauder, Werner Streletz, Markus Tillmann.

 

 

Auftritt: die Kaffeemaschine

um 11.30 Uhr schreibt Chantal Stauder:

 

Ankunft in der Rottstraße. Hans, Felix, Oli, Arne und Charleen kümmerten sich bereits um die Bühne. Carsten begann sofort nach seinem Eintreffen, fleißig Brötchen zu schmieren. Käse und Mett. Kann man machen. Aus der Garderobe schleppte jemand eine Kaffeemaschine hervor. Großer Jubel. Noch ahnte die silberne Retterin der Nacht nicht, was ihr bevorstand. Sie sollte (wie die Crew der Rottstraße) den ganzen Tag und die ganze Nacht im Dauerbetrieb bleiben.

 

„Wo soll die Kaffeemaschine hin?“

„Zur Madonna.“

„Alles klar. “

„Auf `nen Tisch?“

„Nein, auf den Boden.“

„Alles klar…“

 

Hagen von Rott klickt sich durch

um 12 Uhr schreibt Carsten Marc Pfeffer:

 

Durchbloggen. Foto: Charlene Markow

Es ist jetzt Punkt 12. Es kann beginnen: 24 Stunden die Nibelungen als Nonstop-Lesung. Wieder so eine Wahnsinnstat im Rahmen des Bochumer-Ring-Projektes, der Großbaustelle des Rottstr5Theaters im Jahre 2011. „Viele Geschichten gibt es über die sagenumwobenen Nibelungen zu erzählen“, so hatte ich im Pressetext geschrieben eher verharmlosend gegenüber der irrsinnigen Textflut, die in den folgenden 24 Stunden über uns hereinbrechen wird. Das bisher gesichtete Material füllt zwei Billy-Bücherregale von Ikea. Wer soll das aushalten? Was wird dieses Kompendium mit uns machen? Wir werden sehen. Zumindest für das leibliche Wohl ist gesorgt. Dank der Kooperation mit der Literarischen Gesellschaft konnten wir ein kleines kostenfreies Burgunnen-Buffet anrichten, und so schmierte ich im Vorfeld gefühlte 1000 Käse- und Mettbrötchen, richtete appetitliche Obstkörbe an und schnitzte zu dekorativen Zwecken aus gewaltigen Eisbrocken sagenhafte Phantasiefiguren. Eine Sisyphusarbeit bei den hochsommerlichen Temperaturen. Nicht gerade Theaterwetter, dachte ich. Zweifelhaft, ob überhaupt Publikum erscheinen würde. Doch es gibt Projekte, bei denen kommt es nicht unbedingt auf Resonanz an, sondern darauf, dass man sie durchzieht. Und so schnitze ich weiter Zwerge, Elfen und Drachen in das schmelzende Eis. Doch nicht nur ich war fleißig. Während die Dramaturgie in der Brötchenküche beschäftigt war, richteten die leitenden Regisseure die Bühne ein. Arne Nobel zitierte Baudrillard und probte den Aufstand der Zeichen: einmal Heimtrainer samt Discokugel, zweimal Sofa und natürlich die orangeangestrahlte Madonna-Statue, der zu Füßen ein jungfräuliches Rugby-Ei liegt. Dazu ein paar Flaggen diverser Nationen, zerfetzt versteht sich. Im Grunde ist die Formel ganz einfach: Wer die Postmoderne inszeniert, sollte gleichsam die Chuzpe aufbringen, sie beenden zu wollen. Dann klappt es auch mit dem Bühnenbild. Natürlich darf der Spaßfaktor dabei nicht vergessen werden. Und so spannte Hans Dreher über die linke Bühnenseite eine gewaltige Leinwand, auf die alsbald via Beamer die Xbox projiziert wurde. Mit „The Elder Scrolls IV: Oblivion“ hatte der Regisseur ein gewaltiges Nibelungen-Panorama gefunden: digitale Finsterlinge, die sich durch ein mystisch aufgeladenes Mittelalter metzeln. Schon programmierte er die Avatare: Gunther, Siegfried und natürlich Hagen von Rott. Oliver Thomas kümmerte sich derweil um die Einlassmusik. „In The Light“ von Led Zepplin? „Nee, lieber Manowar“, insistierte Nobel: „The Crown and the Ring!” – Also gut. Dann kann es ja losgehen.

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Nibelungenmarathon-Blogstream (Rough-Mix)

Ambition trifft Reclam. Foto: Charlene Markow

Das Theater als Autor. Achtung Baustelle! – Anlässlich der 24stündigen Nibelungenmarathon-Lesung im Rottstr5Theater vom 21. bis zum 22. Mai richtet der Dramaturg Carsten Marc Pfeffer einen Blogstream ein. Im Ergebnis entsteht ein Gemeinschaftstext der Beteiligten. Eine spannende Chronologie, die anhand von Erlebnisberichten den Marathon Revue passieren lässt. Heute am 23. Mai geht der Rough-Mix online. Doch der Text wächst weiter. Bis zum 30. Mai wird der Blogstream mit nachgereichten Beiträgen ergänzt.

 

Hagen von Rott klickt sich durch

um 12Uhr schreibt Carsten Marc Pfeffer:

 

Es ist jetzt Punkt 12. Es kann beginnen: 24 Stunden die Nibelungen als Nonstop-Lesung. Wieder so eine Wahnsinnstat im Rahmen des Bochumer-Ring-Projektes, der Großbaustelle des Rottstr5Theaters im Jahre 2011. „Viele Geschichten gibt es über die sagenumwobenen Nibelungen zu erzählen“, so hatte ich im Pressetext geschrieben eher verharmlosend gegenüber der irrsinnigen Textflut, die in den folgenden 24 Stunden über uns hereinbrechen wird. Das bisher gesichtete Material füllt zwei Billy-Bücherregale von Ikea. Wer soll das aushalten? Was wird dieses Kompendium mit uns machen? Wir werden sehen. Zumindest für das leibliche Wohl ist gesorgt. Dank der Kooperation mit der Literarischen Gesellschaft konnten wir ein kleines kostenfreies Burgunnen-Buffet anrichten, und so schmierte ich im Vorfeld gefühlte 1000 Käse- und Mettbrötchen, richtete appetitliche Obstkörbe an und schnitzte zu dekorativen Zwecken aus gewaltigen Eisbrocken sagenhafte Phantasiefiguren.

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Einladung zum Nibelungen-Marathon

Magdalena Helmig in dem Diskurs-Musical Siegfried Superheld. Foto: Sascha Kerklau

Im Rahmen des Nibelungenprojektes startet das Rottstr5Theater in Kooperation mit der Literarischen Gesellschaft Bochum am 21. Mai ab 12 Uhr eine 24stündige Marathon-Lesung. Wer mitmachen will, kann sich jetzt melden.

Viele Geschichten gibt es über die sagenumwobenen Nibelungen zu erzählen. Ihr Zug führte die Krieger aus Worms auch durch Bochum (Dahlhausen), schließlich hielten sie im Haus Laer Rast. All das ist lange her. Im Jahr 2011 begibt sich das Rottstr5Theater auf eine Spurensuche. Viele Bühnenstücke wurden dazu konzipiert, einige davon sind bereits inszeniert. Am Ende des Jahres wird es zu einer Gesamtaufführung des Bochumer Ringes kommen.

Im Laufe des Lese-Marathons stellt Werner Streletz sein Auftragswerk für das Nibelungenprojekt vor. Gegen 20 Uhr liest das gesamte Personal des Rottstr5Theaters den Nibelungentext von Friedrich Hebbel. Und auch für das leibliche Wohl ist gesorgt: Ein opulentes Burgunnen Buffet steht bereit.

Felix Lampert und Arne Nobel (v.l.) in Siegfrieds Tod. Foto: Birgit Hupfeld

Hagen & Co. – 24 Stunden Nonstop. Dazu sind alle Interessierten herzlich eingeladen, sich zu beteiligen. Schickt uns eure Textvorschläge und Terminwünsche an die unten genannte Email-Adresse. Doch das Angebot geht über das Vortragen hinaus. Werdet selbst kreativ und tragt am 21. Mai in „einem der coolsten Off-Theater Deutschlands (Stefan Keim)“ euren eigenen Text vor. „Auf dass der Nornen Weisheit wohl erschalle: Werde nun, was werden solle.“ (Hans Dreher)

Kontakt: ma**@**************er.de

Stichwort: Nibelungen-Marathon

 

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Wider dem Sarrazynismus

Der Autor Jürgen Link, hier auf einer Podiumsdiskussion im Bahnhof Langendreer vergangenen Ostersonntag. Foto: A. Wulfsmeyer

Das Rhizom gegen Rechts. Unter dem Titel „Der vor-erinnerte Sarrazin“ liest Prof. Jürgen Link am Donnerstag, den 5. Mai im Bochumer ver.di-Haus an der Universitätsstraße 76 um 19 Uhr aus seinem Roman „Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee“.

Jürgen Links Roman zählt zu profiliertesten Exponaten der Ruhrgebietsliteratur der letzten Jahre. Wie eine „Schwebe in zweiter Haut“ steht der 920-Seiten-Koloss selbstbewusst neben dem „Ruhrtext“ von Florian Neuner und „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ von Wolfgang Welt.

Der emeritierte Literaturwissenschaftler Link beteiligte sich sowohl in Paris als auch im Ruhrgebiet an den Aktionen der 68er-Bewegung. Mit viel Lokalkolorit beschreibt sein gewaltiger Roman die Geschichte der Ursprünglichen Chaoten, einer 68er-Grupper, die sich in den Jahren zwischen 1965 und 1995 vor allem in hiesigen Gefilden engagierte. Der Wir-Erzähler tritt auf in einer polyphonen Symphonie der Dissonanten. Der Sog ist immanent. Dazu betreibt Foucault-Experte Link seinen historischen Diskurs wie ein manischer Archäologe. Schicht um Schicht werden die diversen Serien der Geschichte zu Tableaus aneinander gereiht, bis ein buntes Panorama entstanden ist, dem es an satirischen Pointierungen nicht mangelt. Zum Vorschein kommen die Regulierungsfunktionen der Normalitätsproduktion sowie die Utopie einer selbstbestimmteren Lebensform.

Wie kommt nun Sarrazin ins Spiel? Ich zitiere aus dem Presseinfo:

„Jürgen Link wird ein satirisches Kapitel aus seinem Roman „Bangemachen…“ lesen, das sich als „Vorerinnerung“ präzise auf den Typus Sarrazin beziehen lässt, und das Ganze mit einem normalismustheoretischen Kurzessay verbinden. Konkret wurde der „Fall Sarrazin“ in zwei Kapiteln von Jürgen Links Roman […] präzise vor-erinnert: Da geht es etwa um ein Projekt „Türken-Gen-Atlas“, um Einwanderungs-Simulationsspiele und um Zwillingsforschung, Intelligenz-Quotienten, Geburtenraten von „Migranten“. Ein weibliches Zwillingspaar wirbelt den vorerinnerten Sarrazin durcheinander…“

Klingt spannend. Die Lesung findet im Rahmen der Reihe „Argumente gegen den Sarrazynismus“ statt. Veranstaltet wird sie vom Bochumer Forum für Antirassismus und Kultur,  der Diskurswerkstatt und dem Bündnis gegen Rechts. Der Eintritt ist frei.

PS: Der Link-link: www.bangemachen.com

 

 

 

Anmerkungen zum Bochumer Engelbertbrunnen anlässlich des 1. Mai

Markgraf Engelbert an seinem neuen Platz. Foto: CMP

Der Markgraf weint. Um den Bochumer Engelbertbrunnen steht es gegenwärtig nicht zum Besten. Der Grund: eine Commedia dell’arte aus dem Bochumer Tiefbauamt. Die bereits erworbene neue Brunnenpumptechnik ist so schwer, dass für ihre Installation ein 120-Tonnen-Kran benötigt wird. Zu schwer für die Statik des Platzes.

„So, ihr habt uns jetzt lange genug geärgert“, sagte der Ordnungshüter, der unter massiver Verstärkung Trappa, Walle und mich in die Minna verfrachtete. Unser Vergehen? Wir hatten am Engelbertbrunnen abgehangen, Sangria aus 5-Literpullen gesoffen und lauthals die gängigen Deutschpunkklassiker zum Besten gegeben. Das reichte damals schon aus, um eine Nacht im Polizeigewahrsam verbringen zu müssen. Hört sich grausam an, war aber eine geile Zeit. Man traf sich halt am Brunnen. Dafür musste man kein (Brunnen-)Punk sein. Der soziale Treffpunkt Engelbertbrunnen kreuzte viele Biographien der Bochumer Jugend. Der Stadt mag dieser Treffpunkt schon immer suspekt gewesen sein. Und das lange bevor es in Mode kam, Waschpulver in den Brunnen zu kippen und somit die Location mit Schaum zu fluten. So wunderte es nicht, dass der besagte Brunnen im Zuge der Umgestaltung des Platzes an der Kortumstraße einfach verschwand. Zwar hatten die Raumplaner versichert, der Brunnen käme zurück. Allein: Geglaubt hat es niemand. Schließlich hatte man für die Engelbertstatue bereits einen Platz schräg gegenüber dem alten Standort gefunden, allerdings ohne Brunnen. Der Verdacht stand im Raum, dass der unliebsame Jugendtreff nun endlich verschwinden, das billige Freiluftsaufen unterbunden und die letzten Jugendlichen in die teuren Kneipen des Kartells getrieben werden sollten. Sonderbare Zeichen warfen ihre Schatten voraus. Die Auguren schauten tief in die ausgeschabte Currywurstschale und sprachen: „Gentrifizierung hard as candy.“ – Zeit für einen kleinen Exkurs.

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Digital Underground

Es war einmal in Australien. 1997 veröffentlichte die Journalistin Suelette Dreyfus zusammen mit Julian Assange Underground: Tales of Hacking, madness and obsession on the Electronic Frontier. Die Blaupause zum Leben des jungen Hacktivisten.Vom Commodore 64 zu den International Subversives. 1987 besorgte sich Assange sein erstes Modem. Seitdem hat nicht nur sein Leben an Fahrt gewonnen. Wer in der vorweihnachtlichen Zeit ein wenig von der allgemeinen Hysterie Abstand nehmen möchte, kann sich zur entspannten Lektüre zurückziehen und nachlesen, wie damals alles begann. Das gesamte Buch für lau gibt es nicht bei Amazon, sondern hier.

I like that. Call me subversive, but I’m chuffed ‘Underground’ is engaging enough to make people miss bus stops. (Suelette Dreyfus)

While this anecdote is a strong account, it’s also representative one. Every chapter in underground was formed from many stories like it. They’re unseen, because a book must not be true merely in details. It must be true in feeling. True to the visible and the invisible. A difficult combination. (Julian Assange)

Live-Streaming @ Consciousness

Im September hatte ich zusammen mit meinen Buddies im Kunstmuseum Bochum die 7-Tage-Nonstop-Lesung „Tugend und Laster“ veranstaltet. Das Ganze war als Ruhr.2010-Beitrag (ohne städtische Unterstützung) gedacht und sollte Bochum als „Stadt des Buches“ so ein bisschen profilieren. 168 Stunden wurde durchgelesen. Und so trocken sich das auch anhört, wurde es doch überraschend geil. Nun ist das Buch zur Lesung erschienen. Gedacht als Würdigung aller Beteiligten, besticht es vor allem durch seine Essays. Mir kam die Ehre zuteil, über das Phänomen des Live-Streamings einen (wissenschaftlichen) Beitrag zu verfassen, der im Folgenden kostenfrei zugänglich gemacht werden soll. Digital Natives und Hacktivisten können getrost weiterklicken, denn Neuigkeiten werden dort nicht ausgeplaudert. Vielmehr dokumentiert der Text einmal mehr meinen Unwillen, einem breiteren Publikum mit der nötigen Ernsthaftigkeit entgegenzutreten und generiert – so will ich hoffen – ein gewisses Lesevergnügen.

Eine Tour de Force durch das digitale Dickicht

„Bitte setzten Sie sich so, dass die Kamera Sie sehen kann.“ – Auf der Bühne des Museums Bochum herrschte das Gebot des Blickwinkels. Schließlich wurde die Marathonlesung mittels Webcam ununterbrochen im Internet übertragen. Die Tugend-und-Laster-Lesung war ein lokales Event, an dem die ganze Welt teilnehmen konnte. So kam es nachweislich zu Grußbotschaften aus Paris, Genua, Detroit und Amsterdam. Meine Mutter beglückwünschte mich zu meiner nächtlichen Ellis-Performance via SMS aus Peking, wo sie „zeitgleich“ ein interkulturelles Seminar gab. Wahnsinn. Möglich gemacht hat dieses globale Happening der lokale Kultur-Podcast Ebland. Dazu waren im Vorfeld einige Hürden zu nehmen. So musste beispielsweise noch am Morgen der Auftaktveranstaltung ein leistungsstarker DSL-3000-Internetzugang (50 Meter LAN-Kabel) ins Museum gelegt werden, die Upload-Rate wurde auf 500 kbit/s erweitert. Groß war die Aufregung, das Ergebnis umso zufriedenstellender. Dank des unermüdlichen Engagements der Ebländerinnen Dorette Gonschorek und Britta Maas entstand von der siebentägigen Nonstop-Lesung ein Bild, das sich (weltweit) sehen lassen konnte.

Dabei war der Erfolg des Streamings keineswegs vorhersehbar. Unlängst flankierte der junge niederländische Künstler Dries Verhoeven die Premierenoffensive der neuen Weber-Intendanz am Schauspielhaus Bochum mit einer gewaltigen Life-Streaming-Inszenierung. Ein mobiles Internet-Café wurde auf dem Platz vor dem Theater aufgefahren, zwanzig Darsteller weltweit vernetzt. Die Kritiker sprachen von einem Flop, die Wohlgesinnteren von der Schönheit der Idee. Und auch Resultat der Ruhr.2010-Babel-Vernetzung im Rahmen des ambitionierten Henze-Projektes war ernüchternd. Laut Insiderinformationen seien immense Kosten von ungefähr 20.000 € allein für das Live-Streaming angefallen, dann kam es während der Vernetzung der Kulturstadt-Kirchen zu Übertragungsausfällen. Ja, der Erfolg ist nicht vorprogrammiert, wenn gestreamt wird, und was diese beiden Beispiele belegen, ist, dass Live-Streaming vor allem eines voraussetzt: Risikobereitschaft. Doch wie schreibt man stilsicher über das Phänomen des Live-Streamings? Richtig – im Stream of Consciousness. Fangen wir doch gleich damit an.

Fernrohre, Linsen, Lichtkegel

Der erste Eindruck von der Webcam war desillusionierend: die Logitech Quickcam pro 9000 sah aus wie ein schlecht designtes Babyphone. Wer eine große Kamera erwartet hatte, wurde enttäuscht. Wäre die permanente Übertragungsleistung nicht auf dem Monitor links neben der Lesebühne sichtbar gewesen, wer hätte an die Leistungsfähigkeit der Kamera geglaubt? Doch es lief. Vom Anfang bis zum Ende konnte die Lesung auf der Site des Kultur-Podcastes verfolgt werden; die Homepage der Literarischen Gesellschaft Bochum bot einen entsprechenden Link an. Ein digitales Labsal, besonders wenn einmal der Publikumsansturm ausblieb. Gerade in den langen, mitunter einsamen Nächten war, neben der genialen Graupensuppe, die Daniel Birkner von der Gesellschaft Harmonie gestiftet hatte, das Live-Streaming ein großer Trost. Meine Ellis-Performance fand um 4 Uhr in der Nacht statt. Das Publikum: vier junge Frauen, die ich mit meinen schauderhaften American-Psycho-Passagen bereits nach zehn Minuten vergrault hatte. Doch las ich weiter, da ich wusste, dass immerhin Jasmijn und Lieke in Amsterdam, meine Mutter in Peking, ja sogar der ehrenwerte Professor Durand vom Collège La Guicharde in Sanary-sur-Mer online sein würden – und wer weiß, wer noch? An all diese lieben Menschen musste ich denken, als ich in das kalte Auge der Kamera sprach, hinter der sich die Weite des leeren Auditoriums im Nirgendwo verlor. Die Welt war immer im Raum. Umso größer war naturgemäß die Sorge, wenn die Live-Übertragung auf dem Monitor einmal ausfiel. Mehrmals mussten Dorette Gonschorek und Britta Maas mitten in der Nacht via BlackBerry geweckt werden, um die größten Bedenken aufzuheben. Nein, kein Übertragungsfehler, nur ein Problem mit dem Monitor. Aha. Die Nerven lagen trotzdem blank. – Man hatte sich abhängig gemacht. Ohne Live-Streaming vorzutragen war undenkbar geworden, vor allem in den Nächten.

Die Logitech Quickcam pro 9000 war immer dabei.

Doch auch an den Tagen erfreute sich die kleine Logitech Quickcam pro 9000 größter Beliebtheit. Auch heute, mehrere Wochen nach dem Lesemarathon, kommt es bei der Literarischen Gesellschaft immer wieder zu Anfragen der Teilnehmer, ob man ihnen ihren Beitrag nicht gesondert auf DVD zukommen lassen könnte. Die Euphorie könnte nicht größer sein, was natürlich super ist, aber gleichsam auch Fragen aufwirft. Woher kommt diese Affirmation gegenüber der Webcam? Das Wort „Kamera“ ist ja durchaus nicht nur positiv belegt. Vielmehr schwingt im semantischen Kraftfeld auch immer die Dimension der Repression mit. Im öffentlichen Raum wird vor Kameras gewarnt. Die Privatsphäre wurde zugunsten der Sicherheitsbedenken geopfert. Zwar hat der Grad der Überwachung in Deutschland noch nicht das Ausmaß Englands erreicht, wo mittlerweile jeder Hinterhof kameratechnisch erfasst ist, doch auch hierzulande sorgt die anwachsende Kontrolle der Kameras für Unmut. Wie brisant dieses Thema ist, zeigten unlängst die Proteste gegenüber „Google Street View“ und auch die globale Vogelperspektive von „Google Earth“ wird nicht von jedem Zeitgenossen begrüßt. Die Angst vor der Kamera ist nicht unbegründet. Hören wir dazu doch einmal unseren Experten vom Collège de France:

Neben der großen Technologie der Fernrohre, der Linsen, der Lichtkegel, die mit der Gründung der neuen Physik und Kosmologie Hand in Hand ging, entstanden die kleinen Techniken der vielfältigen und überkreuzten Überwachungen, der Blicke, die sehen, ohne gesehen zu werden; eine lichtscheue Kunst des Lichtes und der Sichtbarkeit hat unbemerkt in den Unterwerfungstechniken und Ausnutzungsverfahren ein neues Wissen über den Menschen angebahnt. (Michel Foucault: Überwachen und Strafen)

Eine ganze Welt soll digital gerastert werden. Die permanente Sichtbarwerdung von allem unterminiert die Nischen und leistet den Normierungsstrategien Vorschub. Eine überwachte Welt ist eine arme Welt. Pluralität, Improvisation und auch Kreativität werden geopfert auf den Altären der viralen Ängste. Allein Anpassungsleistungen garantieren die persönliche Aufhebung im Auge der Kamera und suggerieren den Schein von Privatsphäre. Ein totalitäres Endzeitszenario, das George Orwell nicht besser hätte beschreiben können. Aber ist der Zustand der westlichen Hemisphäre wirklich so hoffnungslos? Mitnichten. Vielmehr ist es zum Trend geworden, den Repressionen, wie sie uns im Alltag begegnen, affirmativ entgegenzutreten. Stichwort: Industriekultur – dort, wo einst ausgebeutet und entfremdet wurde, wird heute gespielt und gefeiert. Die Kamera ist immer dabei. SmartPhones drehen kleine Videoclips und über YouTube reproduziert sich das Event tausendfach. Was einst Ausdruck totalitären Machtanspruches war, will heutzutage oft nichts weiter sein als Entertainment. Das Monopol der Unterwerfungstechniken und Ausnutzungsverfahren wird durch eine ausufernde Bilderflut, die nicht gewaltiger sein könnte, gebrochen. Längst hat sich eine Gegenöffentlichkeit etabliert, deren wichtigster Kronzeuge gegenwärtig die Internet-Plattform WikiLeaks des australischen Programmierers Julian Assange sein dürfte. Durch die anonyme Veröffentlichung höchst pikanter Dokumente (Stichwort: US-Depeschen) drehte WikiLeaks das Prinzip der Sichtbarkeit um, respektive: im digitalen Dickicht demokratisierte sich das Repressionsmoment der Überwachung. Doch bei allem Euphemismus sollte nicht vergessen werden, dass dieses Repressionsmoment nicht vollständig demokratisiert, geschweige denn aufgehoben wurde. Immerhin wurden durch das Internet Brücken geschlagen. So verstanden, steht jede neue Webcam für einen weiteren Schritt in eine menschenwürdigere Zukunft.

Die Esoterik-Keule am Bühnenrand

Doch auch auf der Ebene der Subjektkonstitution sind Fortschritte zu beobachten. Denn es ist eben nicht nur so, dass der vermeintlich kalte Blick der Kamera ausschließlich sein Objekt ausliefert, vielmehr kommt es zu reziproken Strategien, da sich das Subjekt im Spiegel der Kameralinse selbst erkennen kann. Sprachen wir einst mit Jacques Lacan vom Spiegelstadium, so sprechen wir heute von der Showtime, denn medientheoretisch ist der Körper ein Projektionsapparat:

Prinzipiell ist dabei die Auffassung, dass man vermittelst eines jeden Apparates, der Schwingungen des Äthers (Licht in unserem Falle) aufzunehmen vermag, umgekehrt auch Schwingungen des Äthers (Licht) produzieren kann oder dass man mit einem Apparat, der für Schwingungen der Luft (Töne) empfindlich ist, auch wieder Schwingungen der Luft (Töne) hervorbringen kann. (Ludwig Staudenmaier: Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft)

So. Fehlt noch was? – Ach ja, die Ontologie. Das Sein steckt in unserem Beispiel natürlich in den Texten selbst, schockgefroren sozusagen. Hier bedarf es der Axt. Beim Vortragen geht der Lesende mit der Axt in den Text hinein und bricht ihn auf. Das kann mal zart, mal hart von statten gehen. Allerdings sollte man nicht allzu zimperlich sein, schließlich soll der Text Funken schlagen. Handelt es sich nun um einen „guten“ Text, dann ist er ontologisch aufgeladen und es kommt zu Synergie-Effekten mit dem Vortragenden, die zusätzlich befeuert werden vom Rauschen der Welt, hineingelassen durch die digitale Schnittstelle der Webcam. Einfach zauberhaft. Und jenen Kritikern, die jetzt mit der Esoterik-Keule am Bühnenrand drohen, sei erwidert, dass all das ja wirklich geschehen ist im Museum Bochum auf der Lesebühne. Als ich um 4 Uhr nachts meine schauderhaften American-Psycho-Passagen vortrug, war ich gleichzeitig der Vortragende Carsten Marc Pfeffer, der Autor Bret Easton Ellis sowie der Protagonist Patrick Bateman. Ein ontologischer Super-Gau als Produkt aus Text, Performance und Webcam. Und wenn ich nun anführe, dass mich am folgenden Tag der geniale Regisseur Hans Dreher, der meine Performance ebenfalls im Live-Stream gesehen hatte, anrief und mir die Rolle des Ellis in seinem neuen Theaterstück anbot, dann tue ich das nicht, um meine Eitelkeit, deren größtes Opfer ich ja selbst bin, weiterhin zu befeuern, sondern allein, um meine Thesen zu untermauern. Bald schon werden alle Lesungen über Live-Streaming im Internet übertragen werden, weil kein Veranstalter mehr auf den ontologischen Zauber der Webcam wird verzichten wollen.

Doch gab es auch Probleme. Denn leider müssen wir Jacques Derrida recht geben, wenn er sagt: „Das Zentrum ist nicht das Zentrum.“ – Ja, es gab Leerstellen. Was heißt beispielsweise „Direktübertragung“, wenn die Bilder zeitverzögert im Internet sichtbar werden? Oder wie verhält es sich mit dem begrenzten Blickwinkel der Webcam? – Ungeheuerliches trat zutage. So wurden die Vortragenden immer nur aus dem Off anmoderiert, derweil sie selbst bereits am Lesepult vor dem Objektiv der statischen Webcam saßen. Wie leicht hätte man dieses Manko mit einem beherzten Kameraschwenk, oder besser noch: einer zweiten Kamera beheben können? Aber wie hätte all das organisiert werden sollen? Allein vier Personen (Museumspersonal miteingerechnet) waren nötig gewesen, um den ordnungsgemäßen Betrieb der Nonstop-Lesung zu gewährleisten, und das 24 Stunden am Tag. Besonders in den Nächten wäre es unverantwortlich gewesen, für einen „Kameraschwenk“ weitere Kräfte hinzuzuziehen. Oft ging es so hoch her, dass sogar die Graupensuppenausgabe im Museumsfoyer vernachlässigt werden musste. So kam es vor, dass ein Gast eine Graupensuppe essen wollte, sich jedoch niemand einfand, ihm diese auszuschenken, weil das Team zu diesem Zeitpunkt mit Organisationsproblemen beschäftigt war. Oft musste umdisponiert und eingesprungen werden. Jedes Mitglied des Organisationsteam ging bis an seine Grenzen und oft auch darüber hinaus. Permanenter Schlafentzug einhergehend mit Schwindel und Fieber waren keine Seltenheit. Vor diesem Hintergrund von einem „Kameraschwenk“ zu reden, wäre grob fahrlässig gewesen.

Das Monopol der Graupensuppe

Doch wollen wir uns angesichts der gelungenen Veranstaltung nicht in Larmoyanz ergehen, sondern einen letzten Blick durch das Auge der Webcam wagen und über die digitale Schnittstelle hinausgehen. Brechen wir also auf ins dezentralisierte Rhizom, ins rhizomatische Labyrinth. Willkommen im Web 2.0, einem Ort, der wie kein anderer, den Status der Ruhrgebietsliteratur in all seiner Vielseitigkeit verkörpert. Denn hier gibt es kein Zentrum, was zählt, das sind allein die Aufmerksamkeitsökonomien. Nur keine Angst, öffnen Sie sich. Lassen Sie die ganze Welt an ihrem Alltag, Projekten und Freundschaftkreisen teilhaben. Social Networks wie der Marktriese Facebook garantieren Ihnen Tuchfühlung zu ihren Freunden, selbst wenn diese soeben den Himalaya besteigen. Verlinken Sie den Live-Stream der Nonstop-Lesung auf ihrem Account. Posten sie ihre Tweets, Smart-Phone-Filmchen oder den neusten Song, den Sie letzte Nacht in einem Anfall von sentimentaler Verzweiflung in das Studio-App ihres IPhones gesungen haben. Verschenken Sie sich. Aber bitte vergessen Sie dabei nicht Sartres Satz von der Selbstverleugnung: „Wenn meine Beziehungen schlecht sind, begebe ich mich in die totale Abhängigkeit von anderen. Und dann bin ich tatsächlich in der Hölle.“ – Also: bleiben Sie bei allem, was sie posten, Sie selbst dabei. Und bitte vergessen Sie Marshall McLuhan – nicht das Medium ist die Botschaft, sondern Sie selbst sind es. Arbeiten Sie an ihrer Performance, denn Sie selbst sind das Geschenk, das Sie der Welt bereiten, und dieses Geschenk sollte von Herzen kommen. In 15 Minuten ist ihr Auftritt. Hölderlin, sagen Sie? Den ganzen Hyperion in zwei Stunden? Das wird ja eine richtige Tour de Force. Ja freilich, das Ganze wird live im Internet übertragen. Ach, Sie haben Freunde im Ausland. Und die schauen zu? Na, die werden sich aber freuen. Stärken Sie sich zuvor im Museumsfoyer mit einer Graupensuppe. Sie ist wirklich gut. Wie bei Proust die Madeleine führte sie bei mir zu einem Epiphanie-Erlebnis. Gleich beim ersten Löffel musste ich an meine leider verstorbene Großmutter und ihre Eintöpfe denken. Ich war ganz verliebt in diese wohldosierte Traurigkeit, so dass ich, immer bevor ich zum Lesen auf die Bühne ging, einen Teller Graupensuppe aß. Immer wenn ich die Lesebühne betrat, hatte ich alles losgelassen. Nur so erreichte ich die höchste Interpretationsleistung der Texte, was mir wichtig war, schließlich war meine Performance auf der ganzen Welt potentiell sichtbar. Epiphanie kann hilfreich sein, egal ob mit oder ohne Kamera. Wobei mit Kamera – wir sagen „Webcam“ – natürlich schöner ist, wegen der Realpräsenz der Bilder. Der französische Filmkritiker André Bazin ging sogar soweit, an ein Transsubstantiationsmoment der Bilder zu glauben. Die Heiligkeit der Bilder… – Vielleicht reden wir später darüber weiter, jetzt müssen Sie auf die Bühne. Bitte setzten Sie sich so, dass die Kamera Sie sehen kann.

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Ein Fest für Boris (A-Seite)

Endlich ist es soweit. Heute, am 11. November 2010 erscheint das neue Album von Boris Gott „Es ist nicht leicht ein Mensch zu sein“. Es ist das dritte Album von Boris Gott und es könnte das große Ding werden. Zeit für eine LP-Rezension der etwas anderen Art. Mit einem iPod und meinem Moleskine begebe ich mich nach Amsterdam, um dort die nötige Ruhe zu finden, über die neuen Songs zu schreiben.

Ich schulde Boris mehr als nur einen Gefallen. Die neue LP liegt nun bereits seit mehreren Monaten auf meinem Schreibtisch. Und seit mehreren Monaten denke ich darüber nach, wie ich ihr wohl schreibtechnisch gerecht werden könnte. Immerhin markiert diese Platte einen neuen Approach. Waren die Vorgänger noch vom Blues und Folk geprägt, hat Boris Gott nun den Pop entdeckt. Er wollte immer schon dieses eine Pop-Album machen, hatte er mir damals am Telefon erzählt: fette Streichersätze, eingängige Synthie-Melodien und ausufernde Gitarrenflächen. Das Ergebnis kann sich hören lassen. Songs wie „Mutter“ oder „Niemandsland“ schreien quasi nach Hot Rotation. Der absolute Wahnsinn. Wie immer hat Boris alles selbst gemacht: vom Texten und Komponieren, übers Arrangieren und Aufnehmen, bis hin zu Promotion, Booking und Distribution. Es dürfte schwierig werden, sich gegenüber dem gut geschmierten Räderwerk der Musikindustrie durchzusetzen, aber eines ist bereits nach dem erstmaligen Hören der neuen Songs ganz gewiss: dieses Album hat einen berechtigten Anspruch auf eine Chart-Platzierung. Es ist das Ergebnis einer Jahre andauernden Weiterentwicklung aus Flow, Fleiß und Impetus. Und auch die Texte kaprizieren sich nicht länger auf das Bukowski-Moment der Dortmunder Nordstadt, sondern greifen tief hinein in die urbanen Beziehungskisten, in die Höhen und Tiefen des Großstadtlebens sowie ihre Gleichzeitigkeiten. Zwischen Brunsbüttel und Barcelona schreit sich Boris das Herz heraus nach Liebe, um schließlich zu dem Ergebnis zu kommen: Ich bin ein Hippie, ich brauch Peace.

In den letzten zwei Jahren hat sich unter Journalisten der Trend durchgesetzt, mit Boris Gott durch die Dortmunder Nordstadt zu laufen und zwischen Hartz IV, Büdchen und Wegbier das Wesen seines Werkes anhand der sozialen „Randständigkeit“ dieses Kiezes zu ergründen. Der letzte Text, der so verfuhr, wurde von Barbara Underberg exklusiv für die Ruhrbarone gebloggt: „Gott wohnt in der Nordstadt – Ein Portrait von beiden“ – eine zauberhaft ehrliche Hommage, die ich mit großer Begeisterung gelesen habe. Jedoch werden diese regionalen Portraits dem Musiker nicht länger gerecht. Zwar lebt Gott immer noch in der Nordstadt, aber längst hat sich sein Horizont erweitert. Nach wie vor ist es ihm ein wichtiges Anliegen, gegen jegliche Art von sozialer Ausgrenzung anzusingen, doch seinen Status als Lokalmatador hat der Liedermacher mit dem heutigen Erscheinen der neuen LP hinter sich gelassen. Deshalb habe ich mich für Amsterdam entschieden. Das Kiffer-Paradies an der Amstel ist die europäische Metropole der Jugend dieser Welt, gleichsam sagenumwoben und mit weitreichenden Tabus belegt, kurzum: die urbane Blaupause zur Popkultur. Amsterdam gilt als anrüchig. Immer wieder wird vor den großen Gefahren dieser Stadt gewarnt: „Migrationsprobleme“, Drogen, Prostitution, Mord und Totschlag. –  Die diskursiven Parallelen zur Dortmunder Nordstadt sind evident. Irrationale Ängste werden geschürt, um die Welt in ein totalitäres Irrenhaus zu verwandeln. – Es ist nicht leicht ein Mensch zu sein. Aber dass es leicht wäre, hat auch nie jemand behauptet.

Bahnhofs-Blues

Das Ist Der Alte Dunkle Bahnhofs-Blues

Das Ist Der Ganze Scheiß Durch Den Ich Muss

Ich Geh Den Weg Allein, Nackt Und Zu Fuß

Hurra! Hurra! Ich schreib ne Platte. Aber warum eigentlich zum Auftakt der Karneval-Saison? Oder ist es etwa ein Zufall, dass die neue Gott-Scheibe am 11.11. auf den Markt kommt? Komisch, wir haben nie darüber gesprochen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Boris Gott Karnevalist ist. Eigentlich überhaupt nicht. Weshalb also der 11.11.? Etwa wegen der Schönheit der Zahlenkombination? Während ich meine Sachen für die Reise packe – eine frische Unterhose und ein paar von den 50-Euro-Scheinen, die auf meinem Bücherregal liegen – klicke ich mich bleiläufig durch Wikipedia und komme schließlich drauf. Dreimal in der Geschichte kann mit dem 11.11. ein direkter Bezug zur der neuen LP von Boris hergestellt werden: Im Jahre 1572 entdeckte der dänische Astronom Tycho Brahe im Sternenbild Kassiopeia einen neuen Stern, der sich später als Supernova herausstellen sollte. Aha, klingt schon mal genial, aber es geht noch besser: 1842 wurde in drei Gasthöfen Pilsens, erstmals in der Geschichte des Bieres, Bier nach Pilsner Brauart ausgeschenkt. Und schließlich veröffentlichte Hans Christian Andersens am 11.11.1843 sein Märchen vom hässlichen Entlein. Und gerade diese Gegensätzlichkeit vom süßen kleinen Entlein, das so hässlich ist, beschwor Boris ja immer in seinen Songs, besonders wenn es um die Dortmunder Nordstadt ging. Darauf ein Pils und dann die Supernova. – So, genug geblödelt. In vierzig Minuten geht mein Zug. Schnell noch die neue Gott-LP auf das iPod gezogen, mein Moleskine eingepackt und es kann losgehen. Nur weg hier. Im November stinkt die ganze Stadt nach Scheiße, man merkt es gleich, wenn man das Haus verlässt. Ja, die Stadt hat nach dem geplatzten Cross-Border-Leasing-Deal ihr Kanalsystem von den Amerikanern zurückerhalten, allerdings ist die Stadt pleite und der Geruch, der besonders am Abend im Innenstadtgürtel ausgesprochen enervierend werden kann, lässt Böses ahnen. Irgendwann wird uns hier alles um die Ohren fliegen, es ist nur noch eine Frage von wenigen Jahren. Es wird gut tun, für ein paar Tage aus Bochum herauszukommen.

108,00 Euro zahle ich für die ICE-Strecke Duisburg/Amsterdam und zurück, was ungefähr dem Wert zweier Abendgagen im Ruhrpott entspricht. Im Grunde sollte man als Liedermacher hier gar nicht mehr auftreten. Wer einmal in München oder gar in der Schweiz gespielt hat, der weiß, was es heißt, für seine Kunst bezahlt zu werden. Der weiß, warum Sophie Hunger beim Aufstehen nach Vanille und nicht nach Schweiß riecht. Hier kann man als Musiker ohne Hartz IV kaum überleben und ich bin froh, dass ich noch über andere Talente verfüge, die mir einen relativen Wohlstand garantieren. 50 Euro Gage! – Wenn ich das schon höre. Früher hieß es: Wer tanzen will, muss die Musik bezahlen. Heute heißt es: Komm mach doch mit bei unserem lustigen Slam, kannste frei saufen. Wie hält der Boris das eigentlich aus? Ich mein, der hat sich ja schon voll asketisch zurückgeschraubt: trinkt nicht, raucht nicht, isst zuhause und stemmt dann auch noch die Produktion seiner Platten. Einfach irre. Aber wenn sich eine ganze Region gegen einen wendet, hat man eigentlich nur eine Chance: man muss sich für sich selbst entscheiden. Dass Boris dabei so viel Zuversicht und Liebe ausstrahlt, lässt mich immer wieder wundern. Er lebt hier gerne. Ich hingegen lebe hier nur aus der perversen Lust heraus, den schleichenden Untergang zu beobachten, die Schmierenkomödie des Kulturhauptstadtjahres, die um sich greifende Ignoranz und Eitelkeit. Zwanzig Romane könnte ich schreiben voller Zynismus, Wut und Verzweiflung, allein wenn ich an die vielen Toten der Duisburger Loveparade und die Ignoranz der Verantwortlichen denke. Sorry, aber für einen Liebesroman hat es hier echt nie gereicht. Wie anders ist dagegen Boris. Woher nimmt er bloß diese Stärke? Boris Gott ist ein Künstler der Liebe und der Zuversicht. Ich hingegen bin ein Künstler der „différance“. Boris Gott wird man eines Tages in der Dortmunder Nordstadt ein Denkmal errichten. Ich hingegen werde mir eines Tages eine Kugel durch den Kopf jagen. Und so grausam das auch klingen mag, so finde ich all das doch super. Nein, nichts daran ist unfair. Jeder sollte eben so machen, wie er kann und muss. Hauptsache der Output bleibt dabei authentisch. Doch in seiner Philanthropie wird mir Boris immer ein Rätsel bleiben. „Schreib doch mal ein Liebeslied“, sagte er neulich im Tonstudio zu mir, als ich mal wieder versuchte, den Punk neu zu erfinden. – Ein Liebeslied! Ein gottverdammtes Liebeslied!!!

Dortmunder Bahnhofs-Blues oder Glamour?

Der Regional-Express bringt mich von Bochum nach Duisburg. Der Anschluss ist so bescheuert, dass der ICE gerade weg ist und ich kotzen könnte, da um diese Uhrzeit die Verbindung gen Amsterdam Centraal nur alle zwei Stunden geht. Ich hab eigentlich schon jetzt keinen Bock mehr auf diesen ganzen Scheiß. Man will was für die Umwelt tun, und zum Dank wird man von der Bahn permanent gefickt. Was soll das? Was soll ich denn jetzt mit meiner Zeit anfangen? Etwa mir am Zeitungsstand stundenlang Pornos anschauen, wie dieser gestrandete Alkoholiker in diesem Boris-Gott-Song? Oh, mon dieu! Fin de siècle ante portas. – Kleiner Zeitcheck: 10.40 Uhr, viel zu früh für ein erstes Bier. Brrrh. Vielleicht ein kleiner Snack. Wenn ich die nächsten zehn Jahre überleben will, sollte ich mir überhaupt das Frühstück wieder angewöhnen. Also los jetzt.

Während ich mit einem Coffee-to-go und einem widerlichen Aufback-Croissant mit Käse-Schinken-Füllung versuche, mir die Zeit zu vertreiben, betrachtet mich Mario Barth von dieser riesigen Plakatwand neben der Bahnhofsuhr. Mario macht in diesem Monat Werbung für Media Markt und läutet somit gleichsam das Weihnachtsgeschäft ein. Es ist so eine fürchterlich sexistische Werbung, die sich, wie immer bei Mario, hinter einem halbinfantilen Augenzwinkern zu verbergen versucht. Was denkt sich so ein Mensch eigentlich, wenn er einmal mit sich alleine ist? Dass er ein Player sei? Ein Künstler sogar? Dass sein Wirken auf dieser Erde etwa von irgendeiner Bedeutung wäre? Damals in Berlin machte er bei Siemens eine Ausbildung zum Telekommunikationsanlagen-Elektroniker, danach absolvierte er eine sogenannte Schauspielausbildung. Ist heutzutage Marios Angst etwa so groß, dass er gar nicht anders kann, als jeden Fick-Job anzunehmen? Hehe. Aufmerksamkeitsdefizit in der Kindheit und so, haha. Hat endlich den Respekt von seinem Pappi bekommen, hehe. Als Dummschwätzer, haha. Hat nur manchmal diese Stimmungseinbrüche, hehe. – Ach, wie ist das herrlich! Kurzer Realitätsabgleich und schon geht es wieder. Warum war ich eigentlich den ganzen Morgen so scheiße drauf? Wieso musste Boris die Platte mit so einem kaputten Song wie dem Bahnhofs-Blues eröffnen? Heute ist ein großer Tag. Ein Tag der Freundschaft. Noch einen Coffe-to-go und eine Selbstgedrehte, dann wird der ICE schon kommen.

T.H.E.O. (Nirgendwo ist Lodsz)

Sitz Ich Auch Im Dunkeln

Ist Mir Kalt Und Fehlt Das Licht

Weiß Ich Doch, Dass Es Rockmusik

Und Liebe Für Mich Gibt

Vor dem permanenten Taubentiefflug im Duisburger Hauptbahnhof flüchtet man sich am besten auf den Bahnsteig, Gleis 13, Richtung Amsterdam. Coole Leute hier: bekiffte Studentinnen mit riesigen Jack-Wolfskin-Rucksäcken, Dreadlock-Hipster, die HipHop-Fraktion, dazwischen immer wieder Businesstypen und verliebte Sightseeing-Pärchen ab fünfzig. Großartig. Es gibt Augenblicke, da liebe ich alle Menschen. Nur komisch, wie das immer wieder kippt. Hat das was mit meinem Vaterkonflikt zu tun, oder ist es das Leben im Kapitalismus überhaupt? Echt keine Ahnung: alles gelesen und alles erlebt und doch bin ich da keinen Schritt weitergekommen. Warum schleicht sich da ständig diese Verachtung ein? So denke ich, und verachte mich selbst dabei, wegen dieser fürchterlichen Hippie-Attitüde. Vielleicht hätte man in den 90ern weniger feiern sollen. Vielleicht… Da kommt auch schon der Zug.

So fahren wir. Kein WLAN ab Emmerich, dafür jetzt das flache Land. Wehe wenn die Gletscher schmelzen. Wolfheze crossing Autobahn. Die ersten Windmühlen. Ein Paradies für Pferde, nur dann und wann ein Wohlstandgefälle. Jetzt aus dem Kopfhörer: „Theo, nirgendwo ist Lodsz.“ Postmorderne Architektur: Westermeijer Group. Magerkrankes Pastellterzett. Die kühle Blonde liest weiter Paul Auster. Ich bestimme ihr Alter anhand ihrer Haut. Zwei Gabbas Richtung Rotterdam. Bereits nach einer Stunde: weißes Rauschen Wolkenhein, Haus aus Zack samt Kufe, verzettelte Industrie gleitstrommastenrhythmisiert. Schafe da didi dada, da die Raumverdichtung. Ciscobuilding, Ankunft in zehn Minuten. – Es ist immer wieder das gleiche erhebende Gefühl, wenn man in Amsterdam einfährt, egal ob man dem ICE oder mit dem Auto kommt. Ich kann mich noch erinnern, wie ich mit Natalie vor einigen Jahren über die Autobahn gekommen bin. Wir hielten Händchen als wir den Zubringer verließen und aus den Boxen dröhnte „Black Star“ von Radiohead, wir hatten während der Fahrt die ganze LP gehört. Ich hatte das mit Liebe verwechselt, aber das Gefühl war dasselbe gewesen. Später befürchtete ich, nie wieder Radiohead hören zu können, ohne an die Falschheit, ja an die Krankheit unserer Gefühle zueinander erinnert zu werden. Aber Blödsinn – Radiohead war viel stärker, als es dieser Irrtum jemals hätte sein können. Oder etwa nicht? – Sicherheitshalber klicke ich Boris auf dem iPod kurz weg und wechsle zu dem File mit der The-Bends-LP. Der erste Song „Planet Telex“: anschwellendes Rauschen, Synthie-Zucken, Gitarrengewitter und dann die Stimme von Tom York – nein, da ist gar nichts mehr von ihr. Glück gehabt.

Es ist schon erstaunlich, wie nah Amsterdam liegt. Man ist von Bochum aus viel schneller dort als etwa in Hamburg oder Berlin. Und doch wirkt die Stadt viel weiter entfernt. Es ist diese libertäre Atmosphäre, die Amsterdam in der Vorstellung dem Ruhrpott so weit entrückt. Und vielleicht irrt Boris an dieser Stelle, denn für mich ist hier Lodsz. Für jeden gibt es ein Paradies auf dieser Welt. Man muss es nur suchen, oder besser noch: vor der eigenen Haustür für paradiesische Zustände sorgen. „Woanders ist es auch scheiße“ – diesen fürchterlichen Satz, den sich Frank Goosen anlässlich der Ruhr.2010 aus den Fingern gesaugt hat, sollte man sich nicht zu eigen machen. Diese selbstgerechte Bierärschigkeit ist in mehrfacher Weise anstößig. Denn es ist ja nicht so, dass versucht wird, die vorgefundenen Strukturen lebenswerter zu gestalten. Im Gegenteil wird versucht, an dieser sogenannten Scheiße zu partizipieren, sich in diesen fürchterlichen Strukturen einzurichten und diese somit zu verfestigen. Das jedoch hat mit Kunst überhaupt nichts zu tun. Gerade der Pop-Kultur war auch immer ein Umbauplan zur Welt immanent. Komisch, dass so ein erfolgreicher „Pop-Autor“ wie Frank Goosen das nicht weiß oder eben nicht wissen will. Trotzdem wollen wir ihm alles Gute wünschen. Er sei ja soeben in den Aufsichtsrat des Vfl Bochum gewählt worden, wie mir Kurti am Tresen des Zachers erzählte… Genug davon.

Langsam fährt der ICE in den Bahnhof ein. Mit dem Blick auf die Amstel erhebe ich mich von meinen Sitzplatz. Es ist ein Sonnentag im November. Großartig. Irgendwann sollte ich hier einmal mit Boris ein paar Tage verbringen. Vielleicht könnten wir sogar produktiv werden. Die „Amsterdam-Tapes“ und so. Schön low-fi ins Handy reingesungen und dann im Netz verschenken. Fertig. Wir werden sehen…

Tanz Auf Dem Vulkan

Bereits am 27. Oktober veröffentlichte Boris den Song „Tanz auf dem Vulkan“ als kleinen Vorgeschmack auf das kommende Album. Einen Monat zuvor hatte er mich angerufen und gefragt, welchen Song er zur ersten Singleauskopplung nehmen sollte. „Mutter“, hatte ich ihm geraten, aber auf keinem Fall „Tanz auf dem Vulkan“. Nun ja, zumindest kann man nicht behaupten, dass Boris meinem Musikgeschmack nicht vertrauen würde…  Ich frage mich, ob ich heute wirklich kiffen sollte. Man muss doch nicht unbedingt kiffen, nur weil man in Amsterdam ist, oder? Besonders ich sollte das nicht. Ansonsten würde ich nämlich wieder anfangen, mit imaginären Hunden zu kommunizieren, kryptische Gedichte zu schreiben und auf irgendwelchen Discotoiletten die sexuelle Revolution nachzuspielen. Na ja, das lässt sich spontan entscheiden, denke ich, als ich langsam vom Stationsplein Richtung Oosterdok schlendere, um mich auf der Vertigo einzuchecken. Das Boot-Hostel gehört zu meinen größten Amsterdam-Entdeckungen. Billiger geht es nicht, schöner kaum. Der Kapitän heißt Konrad und kommt aus Bochum. An Bord sind meist junge Franzosen. Die Kojen sind sauber und das Frühstück könnte nicht großzügiger sein: Pindakaas, Honigkuchen, Hagelslag und so. Durch Zufall entdeckte ich die Vertigo im letzten Herbst in dieser verregneten Nacht, nachdem man mich ausgeraubt und zusammengeschlagen hatte. Ich dachte erst, ich hätte einen Lungenriss, weil ich die ganze Zeit Blut hustete, aber dann war alles doch nur halb so schlimm. Auch hatte ich noch ein paar 50-Euro-Scheine in meinem Gürtel versteckt. Ich wusch mir auf einer Kneipentoilette am Leidseplein das Blut aus dem Gesicht und trank wegen der Schmerzen im Brustkorb eine Flasche Genever. Dann rauchte ich im Rokerij ein paar Haze-Joints wegen des Kopfwehs und machte mich anschließend auf die Suche nach einer Bleibe für die Nacht, denn eigentlich hatte ich geplant, an diesem Abend Amsterdam zu verlassen und bereits im Rembrandt Hotel ausgecheckt. Stundenlang war ich durch Regen und Kälte geirrt, bis ich schließlich am Oosterdok auf die Boot-Hostels gestoßen bin. Irre. Was war ich glücklich, als ich schließlich in der Koje lag. Naturgemäß schaukelte das Boot bei Wellengang und auch spuckte ich noch ein bisschen Blut, aber ich wusste, dass mir diese Geschichte niemand mehr nehmen konnte. Seitdem checke ich immer, wenn ich in Amsterdam bin, auf der Vertigo ein. So auch heute. Konrad freut sich immer, wenn ich komme. Zuallererst muss ich mit ihm ein paar Heineken in der Kapitänskajüte trinken und ihm das Neuste aus Bochum erzählen. Heute erzähle ich ihm von meiner Gott-Mission und er will natürlich sofort das neue Album hören. Ich spiele ihm auf meinem iPod den Bahnhofs-Blues vor. „Geile Scheiße“, sagt Konrad. „Das ist ja richtig aus’m Leben.“ Er bestellt gleich vier CDs bei mir, und ich verspreche, ihm diese zu schicken, sobald ich von meiner Mission zurückgekehrt bin. Konrad ist wirklich großartig. Wir sind sogar vom selben Gymnasium geflogen, dieser befickten T.K.S. in Bochum-Linden. Und auch wenn Vera immer behauptet, dass Korrelationen noch lange keine Kausalität ergeben, so weiß ich doch insgeheim, dass all das kein Zufall sein kann. Irgendetwas ist da draußen, das mich stets den geilen Geschichten entgegentreibt, oder ist es etwa irgendetwas in mir? Noch als ich ganz klein war, hatte ich mir gewünscht, einmal ein wildes und gefährliches Leben zu führen. Mittlerweile gehe ich auf die Vierzig zu und kann auf ein wildes und gefährliches Leben zurückblicken. Ich wurde nicht enttäuscht. Und auch wenn ich mal so richtig auf die Fresse bekomme, weiß ich doch, dass es Rockmusik und Liebe für mich gibt. Ich hab halt eine Tendenz zum Glück, daran können auch keine gebrochene Nase oder ausgeschlagene Zähne etwas ändern. Und das ist genau das, was ich meinen Fans immer wieder sage: Wer was erleben will, der darf sich nicht hängen lassen. Wenn ich kann, spiel ich mit vollem Einsatz und ich habe noch nie verloren. Vielleicht mal das Herz, aber auch nur, um den Neuanfang umso mehr genießen zu können. – Jesus, was bin ich nur für ein geiler Typ.

So langsam mache ich mir echt Sorgen. Diese LP-Rezension nimmt so sonderbare Wendungen an. Eben erst habe ich eingecheckt. Es ist noch nicht viel passiert, aber wenn ich jetzt auch noch meine Amsterdam-Runde drehen sollte, läuft das Ganze Gefahr vollständig aus dem Ruder zu laufen. Boris könnte echt sauer werden. Ich mein, der hat ja fast zwei Jahre an seinem neuen Album gearbeitet und jetzt komm ich daher und hole mir auf seine Songs einen runter, so als hätte er das Album allein für mich aufgenommen. Ich mach mich voll zum Ginsberg-Arschloch. Aber was soll ich tun? Ich kann halt nur so. – Besser ich rufe ihn noch einmal an, um wirklich sicher zu gehen, dass er mir hierfür nicht die Freundschaft kündigt:

„Hey, Mr. Pepper.“

„Ey, Boris, ich bin jetzt in Amsterdam und zieh das durch.“

„Wovon sprichst Du?“

„Die Platte.“

„Du meinst die CD?“

„Richtig.“

„Gut. Mach mal.“

„Nee, nix gut. Das wird total scheiße. Ich dreh schon wieder total ab und gleich werde ich bestimmt auch noch Drogen nehmen.“

„Lass die Drogen doch einfach weg.“

„Ach, Boris…“

„Hey, ich vertrau dir. Mach einfach.“

„Und Du bist nicht sauer, wenn ich die ganze Zeit nur so ne Scheiße schreibe?“

„Ach, Pfeffer, mach einfach und schick mir den Link. Ich freu mich drauf.“

„Echt?“

„Echt.“

„Na gut, dann schreib ich einfach weiter.“

„Gut. Du, ich muss jetzt weiter machen, ist grad ziemlich stressig hier…“

„Ok, ich meld mich wieder.“

S.C.H.L.U.S.S.

Before the Goldrush

So, dann will ich mal meine Runde beginnen. Es ist immer die Gleiche: vom Oosterdok die Prins Hendrikkade Richtung St. Nicolaaskerk hinauf. Großzügig den Red Light District mit all diesen zugesoffenen Hooligan-Touristen umgehen und schließlich am Anfang der Singelgracht das erste Matjesbrötchen auf die Hand. Gleich zwei Filialen der wichtigsten Coffee-Shop-Ketten befinden sich hier: The Bulldog und das Rokerij, wobei The Bulldog die bessere Auswahl hat, wie etwa Bubblegum Kush oder das hauseigene Bullshark. Doch leider ist der Laden zu erfolgsverwöhnt. Vorgedrehte Joints gibt es hier nur im 5er-Pack – was soll man damit? Joint kaufen, Joint rauchen – so geht der Deal. Fürchterlich, wenn ich die Kids sehe, die sich für 50 Euro Weed einpacken lassen. Worum sollte man in Amsterdam mit mehreren Gram Gras entlang der Grachten wanken? Das zieht doch nur Unheil an. Wenn man Bock hat, geht man einfach in einen Shop und raucht sich einen Joint. Fertig. Aber ich bin ja nicht zum Kiffen gekommen, sondern zum Musikhören. Den großen Kick sollte ich mir für die B-Seite aufbewahren. Es wäre zu früh, jetzt schon mein Urteilsvermögen zu manipulieren, schließlich geht es hier um meinen Freund Boris und sein neues Album.

So schreite ich durch eine verlassene Seitenstraße zur Herengracht, meiner Lieblingsgracht. Das Karma des Baujahres 1613, respektive 1664 hat sich hier noch lange nicht ausgehaucht. Große geile Giebelhäuser drohen umzufallen, sind schräg und krumm erbaut. So will man meinen. Für ein paar Meter schwankt man mit. Der Schwindel und die Angst davor, ein ewiges Sehnen und Verlangen. Vor der sich kreuzenden Raadhuisstraat fällt es mir wieder ein: hier hatten wir uns das letzte Mal geküsst. Und dass jetzt ausgerechnet Boris‘ „S.C.H.L.U.S.S.“ aus meinem iPod in die Kopfhörer drückt, macht die Sache nicht einfacher. Es ist der Song, der beim ersten Hören des neuen Albums den größten Eindruck bei mir hinterlassen hatte. Spätestens ab „S.C.H.L.U.S.S.“ hatte ich verstanden, dass es hier um Pop geht. Der Song könnte glatt als Liquido-Nummer durchgehen. Aber da war noch etwas, das zu mir sprach und mich letztendlich überzeugte, über dieses Album schreiben zu müssen. Es war diese Montage aus Blumfeld-Zitaten im Rückkopplungs-Intermezzo. Einfach irre. „Immer wenn Jochen zu mir spricht.“ – Dasselbe hatte ich in meinem Ruhr.2010-Blog „A local Hero’s Diary“ geschrieben. Diese nachhaltige Beeinflussung von Jochen Distelmeyer, die nunmehr die Passagen unserer Sprachlosigkeit auf eine enervierende Weise zwar mit schönen, doch letztendlich fremden Worten ausfüllt. Genau das hatte ich beschrieben. Und Boris hatte ein paar Kilometer weiter in der Dortmunder Nordstadt gesessen, die Gitarre in der Hand und genau dasselbe gedacht. Absolute Gedankenübertragung. Ich glaub eigentlich nicht an so eine Scheiße, aber Wow! – was soll ich sagen… Vielleicht ist es ein bisschen so wie John und Yoko damals beim großen Sleep-in im Hilton an der Apollolaan mit Blick auf den Amstelkanaal. Oder wie man bei uns im Ruhrpott sagt: Zwei Doofe, ein Gedanke. – Wie schön wäre diese Erinnerung jetzt, wenn ich bei diesem Song nicht zwangsläufig auch an Natalie denken müsste. Ich schalte den iPod aus, doch es ist schon zu spät, der Rhythmus der Trauer hat mich bereits umfangen. Der Schwindel ist zurückgekehrt. Ich halte mich an dem Geländer der Gracht fest, atme tief durch und summe:

You can force it but it will not come

You can taste it but it will not form

You can crush it but it’s always here

You can crush it but it’s always near

Ja, und da ist sie wieder. Verdammt. Jetzt bin ich doch noch in die Radiohead-Falle gelaufen. Doch weiß ich, dass dieses Epiphanie-Erlebnis von ephemerer Natur sein wird. Nur ein Augenblick, nur ein ganz kleiner Schmerz, dann ist es wieder vorbei.

Es hatte damit begonnen, dass ich Kopfschmerzen bekam. Kopfschmerzen über Wochen, bald Zitteranfälle und Schwindel. Da wusste ich, dass es zu Ende geht. Ich hatte das Alphabet ihrer Körpergerüche solange einstudiert, bis ich mit ihm Gedichte schreiben konnte. Wie Hunde, die sich gegenseitig den After beschnuppern. Es war Poesie und es sollte ein ganzer Zyklus werden, aber ihr permanentes Vor- und Zurückweichen hatte mir bald jeden Flow eigener Hebung und Senkung genommen. Allein ihren Rhythmus der Trauer nahm ich noch wahr. Ich hatte mich angesteckt, doch war ihr Leiden nicht von dieser Welt. Der Schwindel und das Zittern wurden täglich stärker. Bald konnte ich nicht mehr schreiben, keine Gigs mehr spielen, ja selbst das Aufstehen viel mir schwer. Doch je mehr ich schwankte, desto stärker hielt ich mich an ihr fest. Ganz sicher wäre ich gestorben, wenn sie sich nicht schließlich erbarmt hätte. Sie sprach: „Das ist das Ende und ich kann nichts mehr tun. Ich hebe die Hände, denn wir sind am Ende.“ Fortan waren der Schwindel und das Zittern verschwunden. Schier unglaublich, aber genauso ist es geschehen.

Sonnenschein (Amstel-Remix: A Blogging-Love-Affaire)

Ich begann, besser auf mich aufzupassen. Ich hatte eine intellektuelle Liebe gesucht und eine Blogging-Love-Affaire gefunden, so denke ich, während ich weiterhin entlang der Herengracht promeniere, konzentrisch um die Altstadt Amsterdams herum. Denn als Vera begonnen hatte, über mich zu bloggen, war Natalie schnell vergessen gewesen. Auf einmal hatte ich da eine Feindin im Netz. Von Anfang an war mir das unheimlich gewesen. Jeder konnte ihre Beschimpfungen in ihrem Blog lesen. Mit der größten ihr zu Verfügung stehenden Leidenschaft schrieb sie, ich sei ein homosexueller Junkie, das ewige Kind und dabei völlig vom Testosteron getrieben, einfach ein Arschloch und so weiter und so fort. Ein großer Hate-Speech-Approach eigentlich, aber leider immer noch irgendwo im Tante-Emma-Land verfangen. Trotzdem hatten sich die Funken bei mir verfangen. Worauf wollte diese Vera eigentlich hinaus, fragte ich mich alsbald immer dringlicher. Schließlich rief ich sie an und gab ihr ein Date. Wir trafen uns im Zacher und ich sagte frei heraus, dass ich ihre Schreibe ausgesprochen geil fände, warnte aber vor dem Moralisieren, forderte mehr Dialoge und bat sie letztlich, meinen Namen aus ihren Schweinereien rauszuhalten. Sie dürfe ruhig weiter über mich bloggen, müsse mir aber ein Pseudonym geben, damit mein Ruf nicht allzu sehr unter ihren sexuell aufgeladenen Mädchenphantasien leide. D’accord. – Sie sah hinreißend aus.

Auch über dieses Treffen bloggte Vera. Es ist ein wundervoller Text geworden: Erst macht sie sich selbst so ein bisschen heiß, schreibt wie bitchy sie sei, richtig irre drüber, wegen der scheiß Typen und so. Es folgen vulgäre Kontemplationen über das Fernsehen, Spielkonsolen, chemischen Drogen, seltsame Printmedien und das Ficken. Alles super borderline. Schließlich beschreibt sie unser Treffen im Zacher. Carsten Marc Pfeffer wird in ihrem Text jetzt nur noch „Er“ genannt – Dritte Person Singular, maskulin. Kurzum: ich war zu dem Mann in ihrem Leben geworden. Und das war genau diese Art von krasser Scheiße, der ich noch nie widerstehen konnte. Hat vielleicht mit meiner Punk-Sozialisation zu tun oder so. Besonders mit der Schlusspassage ihres Textes hatte sich Vera direkt in mein Herz eingeschrieben:

„Auf dem Heimweg hallt nach, was Er gesagt hat: In meinem Wolkenkratzer gibt es keine Fahrstühle, kein 73. Stockwerk, wo man sich aus dem Fenster stürzen kann. Wenn man des Hinaufsteigens müde wird, ist man im Arsch. Es ereignet sich nichts Neues. Es sind immer dieselben alten Geschichten, die von immer neuen Menschen erlebt werden. Wir sind Uhren ohne Zeiger und Schuhe ohne Bänder. Ich rede immer von meiner Freiheit und meine nur meine Angst vor einer Liebe, die größer werden könnte als mein Egoismus. Das Ergebnis des heutigen Tages: 3 Tannenzäpfle und fünfmal Sambuca. – Alles bezahlt, bis es Liebe wird.“

Ja, sie hatte mich wirklich dort abgeholt, wo ich mich eingerichtet hatte, in meiner Melancholie, meiner Verzweiflung und in meinem Herzschmerz. Was für ein Wahnsinn. Ich begann mich mit Vera regelmäßig zu treffen, ich zog regelrecht in ihr Leben ein. Es war ja schon Herbst geworden und allgemein konnte man beobachten, dass die Menschen näher zusammenrückten. Ich mag das, wenn Frauen Pullover tragen, dunkelblaue Jeans in cognacfarbenden Stiefeln und so. So wurden wir die besten Freunde. Und ich werde es ihr wohl noch sagen müssen, dass ich sie liebe. Doch sie liest das hier ja sowieso, was wirklich irre krass ist. Was so irre krass ist, dass mir der Tastendruck des Netbooks über meine Fingerspitzen direkt in den Schwanz fährt. Und während ich all das hier schreibe, denke ich fortwährend: Baby, ich blog dich. Baby, ich blog dich.

Niemandsland

Nach mehrmaligem Hören der LP ist „Niemandsland“ mein absoluter Lieblingssong geworden. Zuerst war mir dieser gewaltig inszenierte Euphemismus peinlich gewesen, besonders das Rumpelstilzchen-Zitat und dieser Kinder-Chor am Ende. Doch plötzlich fuhr ich voll darauf ab. Mag sein, das liegt daran, weil ich so fürchterlich verknallt bin. Aber umso besser, denn genau hier liegt der Schlüssel zu dem Song: Lebensbejahung, Glück und Zuversicht. – Das volle Boris-Gott-Wohlfühl-Paket. In diesem Song entfacht sich sein großes Talent, denn die Textzeilen sind ja durchaus nicht positiv belegt. Im Gegenteil wird am Zustand der Welt nichts beschönigt. „Jeder weiß es: this is nowhere“ – allein der Groove verrät bereits, dass am Ende alles gut wird. Nicht etwa wegen der Welt, sondern aus der eigenen Zuversicht heraus. So wird das zitierte Niemandsland zum nicht markierten Projektionsort der großen Wünsche, zum „Wir-Revier“, denn allein machen sie dich ein. Doch wird hier mehr beschworen als das kleine private Glück. Denn in der Abgrenzung zur deprimierenden Gegenwart, wird diese gleichsam immer wieder eingeholt. Auch die Welt muss sich verändern, wenn wir glücklich werden wollen. Diese Art von privater Global-Strategie ist schließlich dem Status des Liedermachers selbst angemessen. Boris Gott ist auf dem Sprung. Im Gitarrenkoffer: der Umbauplan zur Welt, die Liebe und die Zuversicht. In „Niemandsland“ kulminieren die großen Erregungsfelder, die Boris in den letzten Jahren energetisch aufgeladen hat. Ein Song, der über sich selbst hinaus wächst. Dieser fürchterlich kitschige Synthie-Ausbruch nach dem Rumpelstilzchen-Zitat nivelliert den Kitsch als solchen, kraft seiner kompromisslos affirmativen Sendung. Deshalb funktioniert es. Es ist die Kompromisslosigkeit, die Unnachgiebigkeit der Güte, der verheißende Kinderchor die logische Konsequenz: Pop as Pop can be. – Das muss Boris erst einmal einer nachmachen.

Ich freue mich. Bald schon werde ich das Mellow Yellow an der Vijzelgracht erreicht haben. Das Gelb der Giraffe, ein Bananen-Shake, der großartige Star-Wars-Flipper… – Dort werde ich Station machen und mich auf die B-Seite vorbereiten. Noch 6 Songs und ein Hidden Track. Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Scheiße nochmal, was bin ich glücklich…

So. Hier endet die A-Seite. Wann kommt die B-Seite? Keine Ahnung, aber ganz sicher noch bevor Boris und ich am 3. Dezember das Rottstr.5Theater in Bochum rocken werden. Bis dahin gibt es für Euch viel zu tun: kommt am 13. November zur Release Party ins FZW in Dortmund, kauft das neue Album von Boris Gott und lernt alle Lieder auswendig, damit Ihr am 3. Dezember lauthals mitsingen könnt. Es ist nicht leicht ein Fan zu sein, aber keine Angst – Gott ist bei Euch, drückt einfach auf PLAY.

Journalist in Resistance I: Der Kältegrad der Blackbox

Björn Geske als R3, Regie Arne Nobel

Vom 25. bis zum 29. August wohnte ich im Rottstr.5Theater, um exklusiv für die Homepage der Off-Bühne über den Probeprozess zur neuen Angry-Young-Man-Reihe zu bloggen. Noch bevor in Bochum der Upload erfolgt, hier schon mal der erste Teil für die Buddies.

Mittwoch, 25. August: Vom Gehen über Eis. Viel über Werner Herzog nachgedacht: „Mein liebster Feind“ und so, die ganzen Tage schon, die Sehnsucht nach dem Absoluten. So kam das Angebot von Arne Nobel nicht ungelegen, ein paar Tage in das Rottstr.5Theater zu ziehen, um den Probeprozess zu der neuen Angry-Young-Man-Serie zu beobachten, samt Premieren versteht sich. Einfach vor der Bühne mit dem Schlafsack auf die Couch hauen, ein ständig nachgefüllter Kühlschrank mit Pilsner Urquell und tagsüber mitschreiben. Backstagebedingungen quasi. Ich war mir anfangs nicht sicher, ob ich das wirklich wollte. Andererseits war mein Privatleben so nerventötend geworden, dass ich mir dieses kleine Abenteuer durchaus vorstellen konnte. Was sollte ich denn noch zuhause? Wenn man nur Liebe im Angebot hat, dann ist es ein scheiß Deal. Ich hatte das ja alles nunmehr seit Wochen beobachten müssen, wie das Unterbewusstsein der Gegenseite immer wieder triumphierte und dabei keineswegs mich meinte. Das schlaucht. Zigaretten helfen dagegen. Und natürlich konkrete Aktionen. So sagte ich zu.

Um 19 Uhr ziehe ich samt Gitarre und Schlafsack in die kleine exquisite Off-Bühne an der Rottstraße. „Willkommen im Fight Club“, begrüßt mich der Arne als ich das abgefuckte Tonnengewölbe betrete. „Ist es deine erste Nacht, musst du kämpfen.“ Aha, Nobel ist also schon ganz in seiner Tylor-Durden-Rolle aufgegangen. Wunderbar. Er sagt ja immer: „Du musst den Nullpunkt erreichen und weiter schreiben, Pfeffer. Ich kenne so Typen wie dich. Jetzt hast du einmal Erfolg in deinem beschissenen Leben und würdest am liebsten einen Monat Urlaub machen. So läuft das aber nicht.“ Nobel fordert halt immer das Absolute, kann er haben. Ich mag ihn irgendwie, besonders diesen rauen Kapitänssohn-Habitus. Diese Otto-Sander-Stimme, das ganze Kaputte in seinem Blick und dieser vulgäre Kneipenkörper, durchaus durchtrainiert, aber mit 36 bereits hochgradig verbraucht. Ein Sondermodel, geschaffen für die Oper, gestrandet in Bochum, auf einem Hinterhof, einem Parkplatz zwischen Asia-Daily und Peepshow. In der Blickachse des Theaters die eingeworfenen Scheiben des vollständig verrotteten Hotel Eden, etwas weiter der Industrieruinen-Sektor, so groß wie eine ganze Stadt. Auf dieser Höhe beginnt der Rotlichtbezirk. Hier zeigt der Ruhrpott sein hässlichstes Gesicht: der Hass, das Verfall, die Seuche. All das gilt es zu transformieren. So lebt und arbeitet der junge Intendant, als würde er zu See fahren. So als würde er täglich Moby Dick jagen. Damit ist er durchaus erfolgreich. Erst neulich erfuhr das kleine Theater in der Kritikerumfrage 2010 der Deutschen Bühne zwei Nennungen als bestes Off-Theater und somit die einzige Erwähnung eines Ruhrgebiets-Theaters überhaupt. Was nicht schlecht ist, wenn man bedenkt, dass die Bühne aufgrund der Haushaltsperre noch keinen Cent städtischer Unterstützung gesehen hat. Woher kommt bloß dieser Erfolg? Sicherlich hat es mit der Regiearbeit des Leitungstriumvirats Arne Nobel, Hans Dreher und Oliver Paolo Thomas zu tun. Auch das großartige Engagement von Gunnar Leyendecker und Honke Rambow sei an dieser Stelle erwähnt. Doch der wahre Grund für diesen großen Erfolg ist mystischer Natur. Es ist die post-apokalyptische Sendung dieser kalten Steinfußboden-Bühne, von der die Kraft drei galoppierender Pferde ausgeht, die sich jedem bemächtigt, der sie betritt. Wer diese Bühne betritt, wird automatisch zum Terminator. Ich weiß, wovon ich spreche. Erst vor ein paar Tagen habe ich hier zusammen mit Tommy Debone und Malte von Griesgram einen Gig gespielt, den Chantal Stauder für die Ruhrbarone so wundervoll beschrieben hat:

[…] Carsten Marc Pfeffer betritt die Bühne und murmelt dabei selbstvergessen und nervengebündelt vor sich hin. Aufwendig bindet er seine Krawatte, stimmt minutenlang seine Gitarre und tritt dann ans Mikro, um sich in epischer Breite über Hannes Wader und Konstantin Wecker auszukotzen, die gleichzeitig im Bochumer Ruhrkongress ein Konzert spielen. Dass er seine Tiraden im feinsten Cockney-Englisch hält, macht die Situation noch befremdlicher. Er beginnt eine spinnerte Beck-Version von „I was made for loving you“, die er lachend abbricht. Die Irritation im Publikum könnte nicht größer sein. Das macht dem Liedermacher ersichtlich großen Spaß. Er schnippt sich ein Bier auf, zündet sich eine Zigarette an. Dann erst geht es richtig los. Sofort der erste Song zielt direkt ins Herz. […] Die Bochumer sind begeistert und fast ein bisschen verliebt, weil sich da einer so sehr verschenkt. Schweißüberströmt und von der Stimmung des Abends ergriffen, zerlegt Pfeffer dann kurzerhand die Bühne der Rottstr5. Requisiten fliegen ins Publikum, eine Frau schreit auf, die Diskokugel klatscht gegen die Theaterwand: Bier, Wahnsinn, Scherben. Verdammt viel Stil hat es aber auch, als sich der Intendant der Rottstr5. von diesem Radau anstecken lässt und die erste Bierflasche höchstpersönlich auf die Bühne wirft. Fight Club: Arne Nobel als Pfeffers Tyler Durden – einfach geil. […]

Und jetzt versuchen wir einmal, das zu leben: der absolute Wahnsinn, permanente Testosteron-Stöße, Angry-Young-Man I&II. Schön was auf die Fresse, Jungs. Unterm Nullpunkt liegt das Eis. Und Eis ist natürlich super, weil die Liebe, barfuß wie sie ist, darauf nicht folgen kann. Ich darf jetzt nur nicht zu poetisch werden. Das wäre unfair, besonders dem Freibier gegenüber.

Deliver me from Swedish furniture

Nein, das wird kein scheiß Happening. Das hier bedeutet Arbeit, vor allem an mir selbst. Sind ja stinklangweilig so Theaterproben. Immer das Gleiche, nur leicht variiert durch die Eitelkeiten der Beteiligten. Schauspieler! Ich könnte jetzt schon kotzen. Nein, eine Probebühne ist der ungeeignetste Ort für einen erwachsenen Menschen. Und dann auch noch Shakespeare! Ich hatte von Anfang an den Eindruck, der Nobel inszeniert das alles hier nur, um mich zu quälen. Gut, dass man dabei rauchen darf. Aber worum geht es überhaupt? Ich selbst verfasste den heutigen Ankündigungstext in der Tageszeitung:

„Der Schlachtenlärm eines Menschen“, so bezeichnet Intendant Arne Nobel die Essenz der Doppelpremiere am kommenden Wochenende in der Rottstr.5. Mit der neuen Angry-Young-Man-Serie beschreitet die Off-Bühne wohlvertrautes Terrain. War die Fight-Club-Adaption nach Chuck Palahniuk ein großer Erfolg, so wird nun kräftig nachgetreten. Das Publikum erwartet „ein bunter Mix aus harten Kerlen“, so Nobel. Egal ob Parzival, Rambo oder Terminator – die Versatzstücke werden gnadenlos durchgerockt. So ist am Freitag, den 27. August um 19.30 Uhr die Premiere von R3 frei nach Shakespeares Richard III. (Regie: Arne Nobel) zu erleben und am Samstag, den 28. August startet ebenfalls um 19.30 mit Furios Angels (Regie: Hans Dreher) ein Stück, das neben dem australischen Schauspieler Mathew Walsh viele Überraschungen bereit halten dürfte. Der Clou: beide Premieren zeugen von einer ausufernden „Englischsprachiglastigkeit“, so Dreher. Dabei darf es ruhig puristisch zugehen: zwei Monologe, zweimal die Reduktion auf Text und Körper. Die Bühne werde frei von „Firlefanz“ sein, verspricht der Intendant. „Konsequenz“ heißt das Zauberwort, mit dem die Off-Szene seit nunmehr einem Jahr reüssiert. Nobels Körper ist übersät von Blutergüssen. „Fight Club?“ Nobel schüttelt den Kopf: „Nein, Werther.“ – Na, das kann ja heiter werden. Überhaupt transportiert hier jedes Detail den Reiz einer kleinen Sensation. So etwa die SMS-Dramaturgie von Thomas Thieme zu R3, oder die Rückkehr des Schauspielers Björn Geske, der nachdem er in Hollywood „Nazis und Zombies“, so Nobel, darstellen musste, sich freut, wieder ans Theater zurückkehren zu können. Der Intendant verspricht für den Freitag einen Monolog im Sprachrausch. Es werde „ein harter und brutaler Abend“, wenn das Propagandastück des Tudorregimes im neuen Gewand auf die Bühne kommt. „Wir dürfen Richard III. nicht nur negativ verstehen“, so Nobel. Die historischen Quellen sprechen zuweilen eine andere Sprache. Verweise auf Rambo und Terminator könnten da weiterhelfen.

Mit der Uraufführung von Furious Angels von David Burton ist für den Regisseur Hans Dreher der langjährige Traum in Erfüllung gegangen, einmal auf Englisch zu inszenieren. Für Dreher, der in den USA aufgewachsen ist, ein besonderes Privileg. Das Stück spielt in einer Psychiatrie in den 30er Jahren in Australien. So wie in der Regieanweisung vorgesehen, wird Mathew Walsh alle fünf Rollen selber spielen. Klingt ein bisschen schizophren, aber Dreher gibt sich zuversichtlich. Walsh sei ein unglaublich professioneller Schauspieler. „Ich werde allerdings erst am Samstagabend die Chance haben, zu wissen, ob irgendjemand das Stück verstehen kann. Ob das Stück Wahnsinn aufgegangen ist“, so Dreher. Um die Anspannung perfekt zu machen, einigte man sich auf eine möglichst kurze Probezeit. „Mehr als zwei Wochen ist feige“, erklärt Dreher. Es gehe darum, den „Rohdiamanten“ freizulegen. Bei so einer Arbeitsweise kann es natürlich ganz nützlich sein, wenn gleichzeitig die Nerven blank liegen. So darf der Auftakt der Angry-Young-Man-Serie mit Spannung erwartet werden.

Das Rottstr5Theater ist auf den ersten Blick ein ganz unmöglicher Raum. Das runtergekommene Tonnengewölbe befindet sich unterhalb der Bahntrasse der Nokia-Bahn, respektive der Glück-Auf-Bahn, die diesen albernen Namen erst trägt, nachdem der Mobil-Riese Nokia Richtung Ungarn die Stadt verlies und die sensiblen Stadtphilosophen ein Zeichen setzen wollten. Alle zwanzig Minuten donnert der Zug mit einem gewaltigen Getöse über den Theaterraum hinweg, auch während den Vorstellungen. Mittlerweile ist es Kult geworden, diesen Lärm spontan in die Performance einzubauen. Gibt immer wieder Lacher, ist immer wieder geil. Da applaudiert sogar der Kulturdezernent. Einfach wunderbar. Im Grad der Runtergerocktheit am ehesten an den Bremer Schlachthof erinnernd, bietet das Interieur der Off-Bühne ein Sammelsurium an Geschmacklosigkeiten. Die Bestuhlung liefert über Kinosessel, Ledercouch und Küchenstuhl ein enervierendes Areal an Sitzmöglichkeiten. Am schlimmsten aber ist die Bühne. Erst vor einem Jahr blau gestrichen, ist schon viel Farbe wieder abgesplittert. Nun sieht es so aus, als hätte jemand die Bühne mit ein paar Maschinengewehrsalven gestrichen. Hinzu kommt, dass die Bühne bei den Inszenierungen systematisch zerstört wird. Der schicke Paravent, der an der rechten Bühnenseite das Tonnengewölbe so schön begradigte, wurde erst neulich mit einer schweren Axt kurz und klein geschlagen. Warum? Shakespeare. Aha. Gegenwärtig wird hier mit Brennpaste experimentiert. Beunruhigend. Aber Nobel ist begeistert: „Einfach die ganze Bühne abfackeln und dann fluten mit Schweineblut. Genial!“

Nothing is static, everything is appaling, everything is falling apart. (Tyler Durden)

Das Rottstr.5Theater dürfte es eigentlich gar nicht geben. Die Grenzziehung zwischen Kunst und Leben wird hier so sehr in Frage gestellt, dass Gefahr für Leib und Leben besteht. Es besteht ein permanenter Imperativ an den Körper. Im Grunde spielt Nobel Goethes Werther immer über den Selbstmord hinaus, nur um am Ende zu resümieren: „Ich hab überhaupt keinen Bock mehr, der Werther zu sein. Ich fahr jetzt einfach zur See.“ Da steckt schon diese Fight-Club-Logik drin. Unter der Regie von Oliver Paolo Thomas ist das Stück ja in den letzten Wochen zum absoluten Kassenknüller geworden, bis jetzt war jede Vorstellung restlos ausverkauft. Da war die Idee mit den zornigen, jungen Männern nicht weit. Eigentlich strebte hier ein Jahr Theaterarbeit zwangläufig auf das Angry-Young-Man-Wochenende hin. Die meisten Inszenierungen waren ein Knaller. Dazu immer das beste Licht, der beste Sound. So etwas schätzt man in Bochum: Ehrlichkeit, und ja… – Qualität eben.

Hit me as hard as you can

Im Theater riecht es wie in einer Kneipe in den frühen Morgenstunden, die Eingewöhnungszeit dürfte nicht allzu lange dauern. Ein bisschen schäme ich mich ja schon für diesen Schlafsack, den Tommyboy mir geliehen hat. „Pippi, AA, Sperma?“, hatte ich ihn gefragt. „Von allem ein bisschen“, hatte Tommyboy geantwortet. Tja, und jetzt trage ich diese Seuchenschleuder eben ins Theater. Dieser widerliche Schlafsack! Aber was soll ich machen? Es muss doch irgendwie weitergehen. Direkt nach dem Einzug steht auch schon die erste Probe von R3 an. Björn Geske ist schon aus der Garderobe raus: speckige rote Lederhose, den Oberkörper mit Theaterblut beschmiert. „Hi, Carsten, ich bin der Björn“, begrüßt er mich. Super entspannt. Schnell noch ein Fotoshooting, Blitze zucken durch die Dunkelheit, dann wird geprobt. Coole Sache: Richard der III. Shakespeare, aber nicht in so einer ausgelutschten Schultheater-Schlegel-Variante, sondern in der Bearbeitung von Lanoyes und Percevals: „Dirty Rich Modderfocker the Third“. Gangster-Rap trifft Reclam. Die Figur behält ihre monströse Brutalität, sucht aber nach Gründen dafür. Im Rosenkrieg-Zyklus der flämischen Theatermacher sehen wir einen Richard, der unter seiner Entstelltheit leidet; der nicht nur Wut, sondern auch Trauer empfindet aufgrund seiner Gesellschaftsunfähigkeit. Durch pure Brutalität kämpft sich dieser weit weniger listige Richard auf den Thron, aus Rache für seine Ächtung. Thomas Thieme wurde mit diesem Richard Schauspieler der Jahres 2000. Seine SMS-Dramaturgie mit Arne Nobel kaprizierte sich nicht auf das verhasste Twitter-Format. Nein, ganze Romane smste Thieme aus Weimar. Besonders das Grußwort im Programmheft ist ihm ganz wundervoll gelungen und soll aufgrund der stilistischen Spannkraft an dieser Stelle vollständig zitiert werden:

Der T-1000 wird definitiv versuchen sich dort Deiner zu bemächtigen.

„1998 drückte mir der damalige Intendant des Schauspielhauses zu Hamburg und Schauspielintendant der Salzburger Festspiele, Frank Baumbauer, einen Leitz-Ordner in die Hand: Shakespeare, Lanoye, Perceval – Schlachten (Ten Oorlog). Dem Regisseur Perceval war ein Hauptdarsteller abhanden gekommen und so hatte ich das künstlerische Lebensglück, Dirty Rich Modderfokker der Dritte zu spielen. So einen Text hatte und habe ich nie gesehen und werde ich wohl auch nie wieder sehen. Mit einmaligen Mut, mit Kraft und genialer Leichtfertigkeit haben die Autoren (außer den genannten noch die Bearbeiter Reichert und Kersten) eine Komposition hingeschmissen, die seither nicht ihresgleichen hat. Als hätten sie die unfassbar dumme und spießige Diskussion über Regietheater antizipiert, erfanden sie Shakespeare einfach neu, ohne ihm im geringsten zu nahe zu treten. Sie machten einfach das, wovon die Theaterheinis alle träumten: sie waren kreativ (damals konnte man das Wort noch aussprechen, ohne ausgelacht zu werden). Der Bucklige im letzten Teil kauderwelscht sich durch sein Königreich, das ihn erst nicht will, bringt seine Widersacher um und ist am Ende König der Sprache als Gewalt und als schreckliches Leid. Alles was in einem Menschen sich sammeln kann an Hass, Schmerz, Liebe, Angst bricht aus ihm heraus. Es gibt keine Sprachoper, die den letzten 10 Seiten dieses Textes gleicht. Nobel und Geske, der eine einst mein Assistent in Bochum, der andere mein Schüler in Weimar sind aus dem Holz geschnitzt für diese Wörter. Beide sind sie nicht gefällige Weicheier der neuen Langeweile am Theater geworden, trotz ihrer Umfelder. Beide sind sie raue Burschen, sehr körperlich, männlich. Sie haben das Stadttheater verlassen, weil es ihnen zu ordentlich zuging: längst hat ja der jämmerliche Begriff Werktreue (ganz sinnentleert von Werk und treu) die Bühnen heimgesucht und in geriatrische Einrichtungen oder Waldorf-Spielkreise verwandelt. Da passen die 2 nicht hin. Ob sie den Mördertext schaffen, ihn so rausschreien, dass er wehtut, das weiß ich nicht. Dass sie alles dransetzen werden, dass es so wird, das kann ich garantieren.“ (Thomas Thieme, Weimar, 3. August 2010)

Die Axt hat immer Recht

Die Regie-Assistentin Charlene Markow macht heute die Souffleuse. Ich hatte die Markow anfangs gar nicht wahrgenommen, doch nachdem sie zum ersten Mal rumgemault hatte, umso deutlicher. Vor ein paar Monaten hatte sie hier als Praktikantin begonnen und sofort ein strenges Regiment aufgezogen. Mittlerweile genießt sie den Status einer geheimen Chefdramaturgin. Ihre Urteile sind bei den Herren Nobel und Dreher gefürchtet, denn nicht selten fallen sie vernichtend aus. Vielleicht sollte ich ihr meine Texte zum Redigieren geben, bei einer wie der Markow hätte ich keine Bauchschmerzen dabei. Wir werden sehen…

So, die Tür wird jetzt abgeschlossen, das Saallicht verstummt. Da ist auch schon die Musik und die Probe beginnt. Wie ein Ungeziefer schabt sich Geske auf die dunkle Bühne, jetzt schon sehr präsent. Nobel kommentiert jeden zweiten Satz:

„Ein Königreich für ein Pferd.“

„Gut.“

„In unserem Haar klebt Glitter und Konfetti.“

„Cool.“

„Und Bruder Eddy, der Schlachtengott, wird fett and smiles like Buddha…“

„Toll.“

„But I, nicht zum Herumhurn geil geschaffen, falsch ausgerüstet…“

„Sehr gut, Björn. Geiler Anfang.“

„I plan to entertain it as the bad guy. Aus gossip, lies und Alkoholvisionen. Aus List und Laster webte ich ein Netz nach my black magic voodoo Horoskop!“

Björn legt sich in die Badewanne, öffnet eine Bierbüchse und zitiert aus Rambo: „Als ich aus dem Krieg in diese Welt zurückkam, sah ich am Flughafen all die Hippies gegen mich demonstrieren. Sie bespuckten mich und nannten mich einen Babykiller.“ Dann Cut und jetzt wütender (Herzog/Kinski):

„Die Erde, über die ich gehe, sieht mich und bebt.“

“Super cool, Björn, genauso ist es, in den Text greifen…”

„Wer gegen mich ist, wird in 198 Teile zerstückelt.“

„Nicht zu bequem werden, nimm die Worte.“

Geske zieht weiter an. Wird immer bedrohlicher. Über die Boxen jetzt das Terminator-Sample: schwere Bombardements der Sinusflöten breiten ihre Flächen aus, Fanfaren der Nike voller Ressentiments ob der Hinfälligkeit der Stärke, Fatum und auch wieder nicht. Dann der zweite Akt. Nobels Regienotiz: Terminator 2: Musik auslaufen LW, Licht: (Kniefall vor Tonne IIA dazu).

Der Geske so: „Annas Reiz allein…“

Der Nobel so: „An einen fetten Arsch denken, eine fette Möse.“

„Annas Reiz…“

„Denk weiter an die Möse!“

„Clean penetration. No shattered bone…“

„Hab da mehr Spaß daran!“

„Wurd je eine Kuh mit so much fun gemolken? I killed her husband, Dad und Schwiegerpa und krieg sie ran, die Gift und Galle spuckt!“

Dann das Sample rich_war_lang: „Waaaar!“ Wutausbruch, Hassbeat auf der Feuertrommel. Rawumms, das Teil in die Ecke getreten. Plötzlich stille Einkehr, Geske nimmt seinen schwarzen Mantel wie ein kleines Kind in seinen Arm. Der 4. Akt beginnt, die blaue Szene: „Der T-1000 wird definitiv versuchen sich dort Deiner zu bemächtigen.“ Spooky. Dann gewinnt das Ganze wieder an Fahrt.

„Oh cruel world! Kein Mensch, kein Tier that loves me! Who`ll cry form me, wenn ich mal selbst krepier?“

„Geil, Björn, genau so weh tut das. Coole Scheiße, Geske.“

„Yo, Modder! Fok me, fok you, fok us all… I’ll be back!“

Jetzt spricht die Axt (eine Leihgabe des Schauspielhauses Bochum). Wirklich geile Regie-Idee. Die Markow hatte ja vor der Probe mit Kreide die Namen derer auf den Bühnenboden geschrieben, die Richard töten ließ oder selbst umbrachte: „Edward, Anna, et cetera“. Auf diese Namen schlägt Geske jetzt mit der Streitaxt ein. Funken fliegen als der Stahl auf den Betonboden kracht. Zauberhafter Effekt. Schade nur, dass die Brennpaste auf dem kalten Beton zu schnell eintrocknet und sich durch keinen überspringenden Funken mehr entzünden lässt, sonst hätten wir jetzt ein irrsinniges Schlachtengemälde. Aber auch so gut. Dann über die Anlage nochmal das Sampel: „War!“

„Mach mal den stummen Schrei, will ich sehen.“

Geske so: Waaaaar!!!

Zum Schluss die Einspielung „richi piano“: verträumtes Kinder-Stakkato, an den Soundtrack von Amelie gemahnend, aber alles noch viel reduzierter, richtig debil sogar. So stürzt Richard der III. jetzt in die zweite Zinnwanne rechts, schaufelt sich quasi über die Schulter in diese Wanne rein und reißt sie damit um. Blut ergießt sich über den Steinboden der Bühne. Exakt die Menge Blut, die ausreicht um den gesamten Bühnenboden zu fluten. Großes Bild. Arne auch sofort freudig erregt: „Siehste, Pfeffer.“ Klar, sehe ich, Arne. Genial.

Geske ist nach der Probe voll fertig, so als wäre er gesundheitlich leicht angeschlagen. Auch Arne klagt über Fieber und Grippesymptome als wir uns nach der Probe auf dem Weg zum Intershop befinden. Es regnet ja nunmehr seit Wochen, der ganze August voll im Arsch. „Ein, zwei Bier, Pfeffer, mehr geht heute nicht.“ Ja, ist klar, bin auch voll im Arsch.

Not your grande latte

Schon von weitem empfängt uns das Neonlicht des Intershops. Zum Sprung bereit liegt der Dinosaurier der 80er-Kneipenkultur in unserem Blick. Sanft umarmt uns die unterkühlte Endzeit-Atmosphäre. Leichtes Frösteln, dazu das rote Licht und die vergessenden Körper. Zwei Bier sind schnell bestellt. Arne und ich quatschen uns einen Wolf über potentielle Angry-Young-Woman-Monologe. Jeanne d’Arc und so, aber richtig mit gib ihm, viel Faustkampf zum Stroboskop und so. Gegen wen? Ist natürlich bei einem Solo-Stück ne wichtige Frage. Die Jeanne haut sich am besten selbst mächtig auf die Fresse, dann kann man dabei gleich diese ganzen Klinikdiskurse verwursten, hehe. Einige Biere werden getrunken. Um Mitternacht gibt sich eine Geburtstagsgesellschaft zu erkennen, auch wir gratulieren und die Schnäpse fließen. Vornehmlich Sambuca. Was in zweifacher Weise verwerflich ist. Denn zum einen habe ich mit Glen Fiddich gestartet, zum anderen trinkt Arne keinen Schnaps und schiebt mir jetzt immer seine Gläser rüber. So trinke ich doppelt so viel. Aber egal, loslabern, einfach geil. Dann kommt auch noch Tommyboy reingetorkelt und macht den Abend perfekt. Mächtig drollig wieder. Kommt in den letzten Wochen immer besser aus sich raus. Einfach wunderbar. Nur manchmal muss ich an etwas denken, und dann spüre ich, wie sehr die Kälte bereits von mir Besitz genommen hat. Wie sich da in mir eine Wut auf etwas aufbäumt und mich immer wieder in Momente tiefster Verzweiflung stürzt und danach, als wäre es ein Segen, die absolute Anspannung generiert. Die Muskeln zucken und meine Gesichtszüge verhärten sich. Die stringentesten Strategien verfolgt ja das Unterbewusstsein, ungetrübt von den Defiziten des Verstandes. Ich könnte jetzt den Tisch einschlagen. Mit ner Wumme hier ganz fürchterlich rumnerven. Aber wozu? Wegen ihr? Lächerlich.

Der alte Spruch, dass man immer das tötet, was man liebt, der stimmt in beide Richtungen. Und er funktioniert in beide Richtungen. (Tyler Durden)

Eine Kerze hilft gegen die Dunkelheit.

So schwanke ich entlang der Viktoriastraße zu meinem neuen Domizil. Vor dem Apartment45 muss ich mich kurz aber heftig übergeben. Kotze mir sogar auf die Hose, was besonders clever ist, da ich nichts zum Wechseln mitgenommen habe. Herrje. Das Theater wirkt trostlos in dieser Nacht. Ein kalter kaputter Raum, eine Baustelle. Eine Kerze hilft gegen die Dunkelheit. So habe ich mir immer den Proberaum der Einstürzenden Neubauten vorgestellt. Direkt vor der Bühne befindet sich so eine muschelförmige Couch, auf die werf ich mich jetzt. Dieser widerliche Schlafsack! Jesus, ist der durchgerockt. Und dieser Geruch! Fürchterlich. So liege ich unter dem Tonnengewölbe und die Züge donnern über mich hinweg, bevor sie am Ende der Welt in das weitaufgerissene Maul des grünen Drachens stürzen. Der Kopf rast weiter. Noch vor einer Woche wollte ich eine Familie gründen und aufs Land ziehen und so ein Quatsch. Da fahre ich nochmals hoch. Ein Blick aufs Blackberry: kein Anruf, keine SMS von ihr. Nein, sie wird mich niemals lieben. Lost in Larmoyanz, aber egal jetzt. Heute Nacht schlafe ich im Fight Club. Es ist meine erste Nacht, deshalb muss ich kämpfen. Gegen mich selbst. Gegen diese ekelhafte Liebe in mir. Noch ist sie die Stärkere. Doch weiß sie noch nicht, was für ein Arschloch ich sein kann. Ein richtig krankes Schwein sogar. Yo, Modder: fok me, fok you, fok us all… I’ll be back!