Der letzte Versuch

Lars Klingbeil, SPD-Vorsitzender (Foto: Roland W. Waniek)


Die SPD regiert seit fast einem Vierteljahrhundert mit. In dieser Zeit hat sie einen beispiellosen Niedergang erlebt. Nun muss sie zeigen, dass sie in einer höchst schwierigen Zeit gemeinsam mit der Union die Weichen für eine bessere Politik stellen kann. Sonst war’s das wohl für sie. Von unserem Gastautor Ludwig Greven.

Was war das für ein Jubel, als die SPD 1998 mit Gerhard Schröder die Wahl gewann. Zum zweiten Mal überhaupt lag sie vor der Union und konnte mit den Grünen Helmut Kohl ablösen. Danach folgten ab 2005 zwölf Jahre an der Seite von Merkel – und eine Serie von Wahlniederlagen, fast jede heftiger als die vorhergehende, unterbrochen nur durch den relativen Erfolg von 2021 dank der Schwäche der CDU. Im Februar dann der historische Tiefpunkt: das schlechteste Ergebnis seit 1887, als die SPD von Bismarck unterdrückt wurde. Sieht so ein Regierungsauftrag aus?

Die SPD-Mitglieder haben sich nach den Koalitionsverhandlungen, bei denen ihre Partei trotz ihrer eklatanten Schwäche eine Menge erreichen konnte, für Schwarz-Rot entschieden – wenn auch mit einer geringen Beteiligung von nur 56 Prozent. Das kann man durchaus als Misstrauensvotum werten. Oder als Eingeständnis, dass die Sozialdemokraten eigentlich in die Opposition gehören. Denn wer nach drei Jahren Scholz-Ampel und deren vorzeitigem Scheitern dermaßen abgewählt wurde, hat an der Spitze des Landes normalerweise nichts mehr zu suchen.

Das Wahlergebnis ließ allerdings kaum etwas anderes zu, da der Gewinner Merz richtigerweise ein Bündnis mit der AfD ausgeschlossen hatte – ebenso wie eine Minderheitsregierung, die von Fall zu Fall ebenfalls von der in großen Teilen rechtsextremen Partei abhängig gewesen wäre.

Nun sind er, die Union und die SPD zum Erfolg verdammt. Denn wenn sie es nicht hinbekommen, die gravierenden Probleme – von der mangelnden Verteidigungsfähigkeit über die Wirtschaftsschwäche und die marode Infrastruktur bis hin zur Migration – entschlossen anzugehen, dürfte die AfD bei der nächsten Wahl stärkste Partei werden und zusammen mit der Linken das Land regierungsunfähig machen. Es sei denn, die Union ginge mit ihr zusammen – was kein vernünftiger Politiker wollen kann.

Für die SPD würde das wahrscheinlich bedeuten, dass sie unter zehn Prozent fallen könnte und ihr das Schicksal europäischer Schwesterparteien drohen würde: Bedeutungslosigkeit bis hin zum Verschwinden. Die Kraft, mit der sie seit 1949 die Geschicke des Landes mitbestimmte und das lange Zeit erfolgreiche Modell der deutschen sozialen Marktwirtschaft mitprägte, hat sie indes schon länger verloren – durch eigenes Verschulden und verhängnisvolles Anpassen an einen vermeintlichen Zeitgeist.

Die Sozialdemokratie stand seit ihrer Gründung für die Emanzipation der Arbeiter und Angestellten, ihre soziale Absicherung und Stärkung sowie ihre Gleichberechtigung mit dem Bürgertum. Eine Blüte erlebte das in der sozialliberalen Koalition von Willy Brandt und Walter Scheel mit großen Reformen in der Sozial-, Innen-, Bildungs- und Rechtspolitik, die bis heute wirken. Schröder setzte mit Rot-Grün ebenfalls wichtige Reformen in der Sozial- und Gesellschaftspolitik durch, von denen seine Nachfolgerin Merkel und das Land profitierten. Große Teile seiner Partei sahen die Sozialreformen jedoch als Verrat an – ein Teil spaltete sich ab und landete bei der Linkspartei.

Damit begann der Niedergang. Die SPD verabschiedete sich mehr und mehr von ihren ursprünglichen Zielen und wurde zu einer reinen Funktionärspartei, die ihre Hauptaufgabe darin sieht, Sozialleistungen für die Schwächsten zu sichern – und ansonsten eine mehr grüne als rote Agenda zu verfolgen, vom Klimaschutz bis zu Rechten für allerlei Minderheiten und Fluchtmigranten. Ihre frühere Kernklientel, aufstiegsorientierte Facharbeiter und Angestellte, wandte sich von ihr ab und ging zum erheblichen Teil zur Union und zur AfD. Während sich die Grünen im Westen von ihr nährten und das links-öko-liberale Bürgertum anlockten, das dort seine neue Heimat sah – nicht bei der anverwandten, verstaubten SPD.

Lars Klingbeil, der neue starke Mann einer schwachen Partei, muss nun die Scherben dieser jahrelangen erfolglosen Politik zusammenfegen – als zehnter Vorsitzender seit 1998 (von seiner Noch-Co-Vorsitzenden Saskia Esken abgesehen). Und als Vizekanzler einer 16,4-Prozent-Partei.

Dass er es schaffen wird, seine Partei zu neuen Ufern zu führen, ist jedoch äußerst zweifelhaft. Denn weder bringt er dafür irgendwelche richtungsweisenden Ideen mit, noch hat die SPD überhaupt auch nur begonnen, die tieferen Gründe für ihr neuerliches Wahldebakel und ihren chronischen Bedeutungsverlust zu erkunden. Stattdessen will sich ihre Führung in die Regierungsbeteiligung retten, die ein Teil der Mitglieder ablehnt – um von der eigenen Misere abzulenken. Daraus kann nichts Gutes, nichts Besseres werden.

Eine ehrliche Bestandsaufnahme würde verlangen, herauszufinden, wofür die Sozialdemokratie heute noch steht. Was es unter den Bedingungen eines globalen digitalen Kapitalismus in einem neoimperialen Zeitalter bedeutet, für die Interessen von Werktätigen und sozial Schwachen zu kämpfen. Nicht für die Entrechteten und Unterdrückten der ganzen Welt, nicht für Trans-Rechte, Gendersternchen oder die Freigabe von Cannabis.

Dass man mit dem Eintreten für soziale Sicherheit Wahlerfolge erzielen kann, haben sowohl die Linke als auch die AfD bewiesen. Denn der schier unaufhaltsame Aufstieg der Rechtspopulisten und der Überraschungserfolg der Linkspopulisten resultieren nicht daraus, dass die Zahl der Extremisten rechts wie links plötzlich stark zugenommen hätte – sondern aus dem Frust über die bisherige Politik. Auf der rechten Seite vor allem im Protest gegen die ungesteuerte irreguläre Masseneinwanderung, von der sich viele Bürger kulturell wie sozial bedroht fühlen.

Wenn die SPD dagegen nicht zusammen mit der Union entschieden vorgeht und nicht daran mitwirkt, die heimischen Unternehmen wieder zu stärken und vom Ballast überbordender Regulierungen und hoher Energiekosten zu befreien – zum Schutz der bedrohten Arbeitsplätze –, wird sie ihren weiteren Niedergang nicht aufhalten können. Der Koalitionsvertrag zeigt immerhin, dass sie auf beiden Feldern einiges erkannt hat. Der neuen Regierung ist deshalb Erfolg zu wünschen. Auch für die SPD – auf die das Land und seine Bürger eigentlich nicht verzichten können.

Der Text erschien bereits auf dem Blog Starke Meinungen

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Es staunt der Bauklotz
Es staunt der Bauklotz
7 Tage zuvor

Bei den Koalitionsverhandlungen war die SPD in einer schwächeren Position, in der sie sich bei der Durchsetzung ihrer Ziele nur auf wenige Themen konzentrieren konnte, um eine Chance zu haben, diese wirklich durchzusetzen.
Mit der Wahl dieser Themen, hat die SPD auch ein Aussage in Richtung ihrer Mitgliederschaft und ihrer Wählerschaft gemacht, welche Themen der SPD wirklich wichtig sind, wofür die SPD in ihrem Kern eigentlich steht.
Nun, welche Themen sind der SPD wichtig?
Wofür steht die SPD in ihrem Kern?
Die Antwort lautet:
1. Kiffen
2. Das man einmal im Jahr auf das Rathaus rennen, und sich Aussuchen kann, ob man das nächste Jahr lieber Mann oder Frau sein will.

Ich hatte mir am Beginn der Koalitionsverhandlungen wirklich nicht vorstellen können, dass das Gesetz zur sexuellen Selbstbestimmung und das Cannabisgesetz überhaupt zur Sprache kommen würden. Ich hätte damit gerechnet, dass diese Themen mit der Grünen Partei abwählt wären, und sich die SPD, anstatt sich zum Ersatz der Grünen hochzujazzen, sich auf Arbeitnehmerthemen konzentriert hätte.
So z.B. die Befristung von Arbeitsverträgen mit Sachgrund. Hier ist doch längst das „Hire and Fire“ zur Institution weit über das geworden, wofür diese Bestimmung einst gedacht war.

Es wird viel darüber diskutiert, ob jetzt Familie nur mit Vater und Mutter, oder auch da wo Kinder sind, egal in welcher geschlechtlicher Zusammensetzung, als Familie anzusehen ist.
Aber es wird ignoriert, dass die meisten Mitmenschen aus der Arbeitnehmerschaft, sich zwei oder dreimal überlegen, eine Familie gründen zu wollen, weil sie wegen ihrer Befristung mit Sachgrund nicht wissen, ob sie ein Jahr später, wenn das Kind gerade geboren ist, arbeitslos werden.

Es staunt der Bauklotz
Es staunt der Bauklotz
7 Tage zuvor

Beim Mitgliederentscheid der SPD konnten sich nur die SPD Mitglieder beteiligen, deren eMail Adresse bei der Bundes SPD vorlag. Alle anderen Parteimitglieder, insbesondere die älteren Parteimitglieder, die keinen Computer oder keinen Zugang zum Internet haben, waren von diesem Mitgliederentscheid ausgeschlossen.
Eine weitere Hürde bestand darin, seine SPD Mitgliedsnummer zu kennen. Die musste beim Login zum Entscheid mit angegeben werden. Ich musste auch ein bisschen Kramen, um meine Mitgliedsnummer zu finden. Als ich sie dann fand, hatte ich mich gefragt, wie viele Mitglieder, insbesondere die langjährigen Karteileichen überhaupt ihre SPD Mitgliedsnummer auffinden konnten, oder ob sie erst gar nicht an der Abstimmung teilnehmen würden, weil der zeitliche Aufwand zum Auffinden ihrer SPD Mitgliedsnummer zu hoch war.
Kurzum, für viele Parteimitglieder waren, anders als bei Entscheidungen zuvor, die Hürden für eine Teilnahme zu hoch.
Daher würde ich es für falsch halten, aus der Tatsche einer viel niedrigeren Beteiligung von 56 % gegenüber 78 % in 2018 eine politische Stimmung herauslesen zu wollen.

Bei der ganzen hohlen Kaffeesatzleserei in den Wertungen des Mitgliederentscheids hatte die deutsche Presse das eigentlich Historische in diesem Mitgliederentscheid gänzlich ignoriert:

Es war das Erste mal in der deutschen Geschichte, das eine demokratische Abstimmung, die für die Bundespolitik einige Bedeutung hatte, in der Form einer bezahlten Dienstleistung einer privatwirtschaftlichen Digitalfirma, einer GmbH durchgeführt wurde.

Es handelt sich um die Firma Polyas, mehr Infos unter polyas.com.
Hier stellt sich auch die Frage der Transparenz des Abstimmungsverfahrens und des rechtlichen Leumundes der Durchführenden. Wäre es ein Verfahren auf Papier gewesen, wäre die Aufsicht durch einen Notar das Mindeste gewesen. Nun weis ich gar nicht, ob bei der Durchführung des Mitgliederentscheids ein Notar die Aufsicht hatte bzw. das durchführende technische Personal zuvor einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen wurde.
Selbst ein anwesender Notar hätte eine umfangreiche IT Expertise gebraucht, um die technische Durchführung auf Korrektheit überwachen zu können.
Kurzum, außer für eine Handvoll IT Techniker einer GmbH war der Ablauf des Mitgliederentscheids höchst intransparent.
Alle, SPD Mitgliedschaft, sowie SPD Parteiführung waren darauf angewiesen, dieser Firma voll zu vertrauen, ohne eine wirkliche Möglichkeit einer Überprüfung zu haben.
Die Verlockung bei weiteren digitalen Entscheidungen wird groß sein.

Unsere deutsche Presse, die die Digitalisierung zu einem hirnlosen Popanz erhebt, verzichtet darauf, hierüber zu berichten, und diese notwendigen Fragen zu stellen.

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