„Der Mythos von Israel als „kolonialem Projekt“ hat einen Anteil an Verschwörungsideen“

Anti-Israel-Demo in Bochum am 18. Oktober (Foto: Roland W. Waniek)


Im Rahmen der „Aktionswochen gegen den Antisemitismus“ referiert heute Abend in der Zanke in Bochum der Sozialwissenschaftler Florian Hessel zum Thema „Die größte List des Teufels… – über Verschwörungsvorstellungen & Antisemitismus gestern & heute“. Im Vorfeld haben wir uns mit ihm darüber unterhalten, weshalb Verschwörungsvorstellungen in modernen Gesellschaften einen derart großen Zulauf haben und welche Rolle sie für den Judenhass und den Terror der Hamas spielen. Das Interview führte unser Gastautor Holger Pauler.

Verschwörungsvorstellungen haben Konjunktur. Die „Neue Rechte“ spricht vom „großen Austausch“, so genannte Querdenker sehen in der Corona-Politik einen inszenierten Plan zur Erlangung der Weltherrschaft und islamistische Terroristen sehen in Israel die Ursache allen Unglücks. Was verbindet diese Erzählungen?

Was diese Bewegungen in unserer Gegenwart verbindet, ist ein grundlegender „Antiliberalismus“. Die Institutionen der Gesellschaft und deren Verfahren wie Kompromiss und Interessenausgleich werden als Manipulation und Verschwörung gegen die Bevölkerung angesehen. Zum einen geht es um ein verallgemeinertes Misstrauen, nicht nur gegen die „Mächtigen“. Zum anderen kommt ein starker Selbstbezug bis hin zum Narzissmus hinzu. Der Kern der Verschwörungsvorstellung ist der Glaube, dass Medien, Politik, Ökonomie, Kultur, Gesellschaft – vielleicht die ganze Welt – von bestimmten, unheimlichen, übermächtigen Personen oder Personengruppen gelenkt oder vollständig kontrolliert würden; dass bestimmte Stimmen nicht und andere dafür exklusiv gehört würden und dass die Berichterstattung, Politik, etc. Mittel zu einem anderen, fremden Zweck seien. Allzu viele Menschen haben das Gefühl, sich in dieser unübersichtlichen, widersprüchlichen Welt „nicht mehr“ zurecht zu finden und flüchten sich in Einfachheit suggerierende Erklärungsmuster, die oft von Verschwörungserzählungen bedient werden: Gesellschaftliche Ohnmacht wird als Wunsch nach Handlungs- und Durchsetzungsmacht nach außen, auf ein Anderes projiziert – namentlich als unheimliche Übermacht bestimmter, realer oder imaginierter Personengruppen. Solche Verschwörungsvorstellungen traten in der uns vertrauten Form zuerst Ende des 18. Jahrhunderts auf. Sie verändern mit der zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung ihre Funktion: Von einer Mystifizierung von Macht und Herrschaft in der Moderne wandeln sie sich sozusagen zur Bestätigung des modernen Mythos von Macht und Herrschaft.

Welche Rolle spielt Antisemitismus in Verschwörungserzählungen? Sie gehen ja oft miteinander Hand in Hand.

Ja, empirisch sind beide Phänomene eng verflochten. Sie sind allerdings nicht identisch. Die enge Verbindung hat historische und strukturelle Gründe. Zum einen gibt es eine kulturgeschichtliche Tradition der Judenfeindschaft, die ein ganzes Repertoire an Bildern oder ähnliches zur Verfügung stellt, die „die Juden“ mit unheimlicher Macht und politischer Herrschaft assoziieren. Zum anderen werden in beiden Phänomenen heute nicht an Personen gebundene gesellschaftliche Strukturen mit bestimmten Personen identifiziert und eigene Wünsche, Ängste und Handlungsmotivationen projiziert. Wesentliche Ausprägungen des Judenhass nach Auschwitz betonen die Täter-Opfer-Umkehr sehr stark, äußern sich eher indirekt, konkret der Israelhass und der Entlastungs- oder Schuldabwehrantisemitismus. Die Opfer werden für ihre eigene Verfolgung, für den Hass und die Gewalt, die auf sie gerichtet wird, verantwortlich gemacht, damit werden Hass und Gewalt verleugnet. Damit einher geht, dass Antisemitismus heute als mindestens fragwürdig erscheint und entsprechend von sich gewiesen wird – die Praxis der Gewalt in Wort und Tat erscheint dann vor allem als „Antisemitismusvorwurf“, als ein Instrument von angeblicher Erpressung und Manipulation. Dies passt sich gut in die absoluten Feindbilder unheimlicher, übermächtiger Personengruppen „hinter den Dingen“ ein, wie sie (auch) Verschwörungsvorstellungen erzeugen.

Das Massaker der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober ist ohne den Judenhass in Teilen der arabischen Welt und der muslimischen Community, der mittlerweile auch auf den Straßen der westlichen Metropolen oder an US-amerikanischen Universitäten sichtbar ist, nicht zu erklären. Worauf beziehen sich die Terroristen und ihre Sympathisanten?

Diejenigen, die das Massaker und die antisemitische und misogyne Gewalt rechtfertigen oder relativieren, meinen, dass Israel, tendenziell alle Jüdinnen und Juden, eine ganz bestimmte mediale und politische Macht haben. Es wird eine moralische Äquivalenz zwischen Israels Verteidigungshandlungen und dem Massaker der Hamas an Zivilist:innen behauptet; dann geschlossen, dass Israel Dinge tun könne, die andere, in diesem Fall „die Palästinenser“, nicht tun können, ohne dafür bestraft zu werden. Aufnahmen vom Massaker am 7. Oktober, die die Täter selbst gemacht und zum Teil in Echtzeit über Social Media verbreitet haben, werden bezweifelt. Die Bilder seien manipuliert oder vielleicht gar inszeniert und das Massaker habe in der Form nie stattgefunden. Im Zweifel diskutiert man ohne mit der Wimper zu zucken darüber, welcher Grad an sadistischer Grausamkeit „glaubwürdig“ sei.

Ein weiteres Beispiel ist die Explosion im Al Ahli Krankenhaus in Gaza einige Tage später. Mittlerweile kann man davon ausgesehen, dass es eine fehlgeleitete Rakete der Hamas oder einer anderen Terrormiliz war, die zudem nicht das Krankenhaus direkt, sondern den Parkplatz daneben traf. Dennoch wird von Seiten der Hamas, ihrer Verbündeten und Unterstützer behauptet, es sei ein Luftangriff Israels gewesen, Opferzahlen im dreistelligen Bereich wurden nach kurzer Zeit veröffentlicht und zahlreiche, renommierte Medien verbreiteten diese „Informationen“ ohne jede Qualifikation von wem sie stammen in Echtzeit.

Fakten spielen für allzu viele Menschen keine Rolle, weil es perfekt in die Erzählung passt, dass nämlich Israel das absolut Böse ist, das keine Rücksicht auf das Leben der Zivilbevölkerung, speziell von Frauen und Kindern nimmt, mindestens ein Akteur ist dem alles zuzutrauen sei. Die Logik wäre also die, dass selbst wenn eine bestimmte Behauptung nicht stimmt, dies gar keine Rolle spiele, da Israel dies ja „wirklich“ vorhabe.

Ähnliches konnte man über die Jahre leider immer wieder beobachten. Vielleicht erinnern sich ein paar Leute noch an das „Massaker von Jenin“ 2002? Damals hatte Israel nach einer ganzen Welle von Selbstmordattentaten in Diskotheken und auf Familienfeiern Teile des Westjordanlandes wieder besetzt und in einem Stadtviertel von Jenin lieferten – vor den Augen der Weltöffentlichkeit und mit leider allzu bekannten Schlagzeilen – Angehörige der Terrormiliz Islamischer Jihad der IDF einen Häuserkampf. Die zeitweise kolportierten Todesopfer im mittleren dreistelligen Bereich „reduzierten sich“ nach einer UN-Untersuchung im Nachgang um etwa 90 Prozent. Der dokumentarische Film „The Road to Jenin“ etwa erzählt anschaulich davon.

Das soll uns natürlich keinesfalls gegen das menschliche Leid und den Tod jetzt im Gaza-Streifen abstumpfen. Den moralischen Unterschied zwischen der israelischen Armee und einer Terrormiliz, die sich systematisch wortwörtlich unter Zivilist:innen – den eigenen – verschanzt, dürfen wir aber nie aus dem Blick verlieren.

Der Ruf „Kindermörder Israel“, den man immer wieder auf Pro-Palästina-Kundgebungen hört, passt ebenfalls sehr gut in diese Erzählung, die ihre Wurzeln ja schon im Mittelalter hat.

Ja, allerdings ist die Kontinuität des mittelalterlichen Judenhasses nur ein Teilaspekt. Die Gewalt im israelisch-arabischen oder israelisch-palästinensischen Konflikt, allein die Tatsache, dass sich diese Gewalt immer „einfach“ fortzusetzen scheint, spielt eine Rolle. Hier geht es vor allem auch um Emotionalisierung als politische Waffe gegen einen Gegner, die Chiffre des „Kindes“ – wehrlos, unschuldig, etc. – ist ja eine sehr universelle. Dies führt aber sehr schnell zu einer Dämonisierung des Gegners, zur absoluten Feindschaft.

Hier kommt dann auch der von Dir erwähnte Zusammenhang in Spiel, denke ich. In der von der christlichen Religion dominierten Alltagswelt gab es Mythen, die Jüdinnen und Juden als die Verkörperung des Bösen, des Teufels oder von Dämonen angesehen haben, die das Christentum vernichten wollten. Ein zentraler Mythos war der von den Pessach-Morden, wo Juden angeblich das Blut christlicher Kinder dazu benutzt haben, um Matzen zu backen. In Verbindung mit den jüdischen Feiertagen kam es deshalb regelmäßig zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung.

Diese Tradition setzt sich im modernen Antisemitismus fort, der vor allem ein Produkt des 19. Jahrhunderts ist und der später – sehr vereinfacht ausgedrückt! – in die Levante (Anm. Region am östlichen Mittelmeer) exportiert wurde. Prominentestes Beispiel ist der Ritualmordprozess in Damaskus 1840, der von christlichen Missionaren befeuert und so zum Kristallisationspunkt des modernen Antisemitismus im Nahen Osten wurde. Juden wurden damals, zu Unrecht, angeklagt, einen Kapuzinermönch und seinen muslimischen Diener ermordet zu haben, um deren Blut zu trinken. Im Nahen Osten kam es daraufhin zu Ausschreitungen gegen Juden, zu Morden und Vertreibungen.

Es gab allerdings auch einen islamisch-religiös begründeten Judenhass, der aber auf einer anderen Idee aufbaute, die auch heute noch eine Rolle spielt und sich mit den judenfeindlichen Traditionen von nördlich des Mittelmeer verbunden hat: Juden wurde, anders als im Christentum, nicht so sehr dämonische Übermacht zugeschrieben, sie galten viel mehr als verächtlich, schwach und unterlegen, waren letztlich in der Masse sprichwörtlich Bürger zweiter Klasse. (Anm. Sie wurden als Schutzbefohlene, so genannte Dhimma, angesehen.) Gleichzeitig gab es aber auch hier gelegentlich Pogrome und Vertreibungen, insbesondere waren die jüdischen Gemeinschaften auch unter islamischer Herrschaft ständiger Willkür und Drohung ausgesetzt, wie es etwa der jüdisch-tunesisch-französische Autor Albert Memmi anschaulich beschrieben hat.

Nathan Weinstock hat in seinem Buch „Der zerrissene Faden“ dargestellt, wie die arabische Welt „ihre Juden“ verlor. 1945 lebten in den Ländern des „Maghreb“, in Ägypten, Syrien, Libanon und Irak noch rund 900.000 Juden, heute sind es nur noch einige Tausend. Für sie war Israel die letzte Rettung . Trotzdem wird in den Debatten, auch im „Westen“, oft nur die „Vertreibung“ der arabischen Bevölkerung nach der Gründung Israels im Jahr 1948 thematisiert und als Hauptgrund für den Terror der Palästinenser genannt. Weshalb hat sich diese Erzählung durchgesetzt?

Im „Westen“ ist das vielfach Ignoranz, gepaart mit einer guten Portion paternalistischem Eurozentrismus. Dagegen hat bereits der eben schon erwähnte Albert Memmi angeschrieben. In Nordafrika und in der Levante, namentlich den arabischen Staaten, gehört diese „Gedächtnislücke“ zum politischen Alltagsmythos. Am Zionismus, also der nationalen Befreiungsbewegung der Jüdinnen und Juden, hätten die orientalischen Juden keinen Anteil gehabt. Israel wird als „koloniales Projekt“ betrachtet, weil man es als „europäisch“ identifiziert, und umgekehrt. Das ist, wie die Geschichte des orientalischen Judentums zeigt, gerade während der Entkolonisierung, einfach unwahr. Etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels hat Vorfahren aus den sogenannten arabischen Ländern, mit einer in grundlegenden Sinn selbst arabischen Kultur. Und all diese Menschen kannten Antisemitismus, das heißt gegen Jüdinnen und Juden gerichtete Gewalt, nur zu gut aus ihrem eigenen Alltag. Und sie waren nach all der politischen Agitation, ihrer vielfachen Beteiligung an der militärischen Befreiung Europas von den Nazis und ihrer ebenso vielfachen Beteiligung an den Unabhängigkeitsbewegungen im Maghreb und anderswo keineswegs ohnmächtig und schweigend.

Ironischerweise haben die israelischen Führungsschichten, die meist aus Mittel- und Osteuropa stammten, zu dem falschen Bild auch beigetragen. Die Mizrahim wurden in Israel lange politisch marginalisiert und kulturell paternalistisch behandelt. Das „Flüchtlingsproblem“ wurde allerdings sowohl in Israel als auch den anderen Ländern arabisch-jüdischer Flucht und Emigration durch Integration gelöst. Diese wird vielen palästinensischen Flüchtlingen bzw. ihren Nachkommen gerade in arabischen Staaten ja weiterhin versperrt, z.B. besonders krass im Libanon.

Der Mythos von Israel als sprichwörtlich „kolonialem Projekt“ hat sicher auch einen Anteil an Verschwörungsideen, begünstigt durch die Tatsache, dass alle Nationalbewegungen der Region und das zionistische Siedlungsprojekt zeitlich gleichzeitig entstehen, zumindest teilweise in Abgrenzung voneinander, im Kontext des Osmanischen Reichs in der Krise und dann des britischen Versuchs hier noch einmal so etwas wie eine imperiale Hegemonie durchzusetzen. Gerade die Briten haben versucht alle Akteure gegeneinander auszuspielen, für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und sind damit ebenso blamabel gescheitert wie in Indien. Aber die beiden Hauptgründe für die Unsichtbarkeit der orientalischen Jüdinnen und Juden, d.h. auch die Leugnung von Israel als Produkt kolonialer Unterdrückung von Juden, sind postkoloniale Ignoranz und israelbezogener Antisemitismus.

Auch der deutsche Antisemitismus hat eine lange Tradition. Vor allem antisemitische Gelehrte wie der Historiker Heinrich von Treitschke, der auch für die Nationalliberale Partei im Reichstag saß, schürten mit ihren Schriften den Hass auf Juden, indem sie behaupteten, diese kontrollierten Presse, Börse, Wirtschaft und Politik. Treitschkes fünfbändiges Hauptwerk »Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert« wurde zur Standardlektüre für konservative, deutschnationale und rechtsextreme Akteure. Wie viel davon hat das Ende des „Dritten Reichs“ überlebt und findet sich heute noch in der Argumentation der Rechten wider?

Ich denke man kann sagen, dass Antisemitismus zur DNA der extremen Rechten auch in unserer Zeit gehört. Wo man nicht offen Vorstellungen von einer angeblichen „jüdischen Weltverschwörung“ oder dessen codierten Wiedergängern wie dem Mythos vom „Großen Austausch“ propagiert, verbreitet man Entlastungs- und Schuldabwehrantisemitismus in dem das Dritte Reich und Auschwitz zum „Fliegenschiss der Geschichte“ und die Auseinandersetzung damit zum „Schuldkult“ werden. Immer gepaart mit mehr als Andeutungen, dem sprichwörtlichen Gerücht, wer denn die entsprechende unheimliche Macht habe und davon „profitiere“? Zu unserem konkreten Thema der Verschwörungsvorstellungen passend, ist dazu Richard J. Evans Buch „Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien“ sehr interessant.

Immer häufiger wird auch von einem „linken“ Antisemitismus gesprochen. Welche Tradition steht dahinter?

Ganz explitzit haben ja kritische Linke wie namentlich Jean Améry seit 1967 davon geschrieben. Vielleicht ist es an dieser Stelle nochmal wichtig daran zu erinnern, dass alle Phänomene über die wir hier sprechen, ihre große Wirkungskraft gewinnen, weil sie in die „Mitte der Gesellschaft“ hinein wirken und hier auf verschiedene Art und Weise anschlussfähig waren oder sind. Wir sprechen über spezifische Ausprägungen gesellschaftlich allgemeiner Phänomene.

Nun, wenn man über die Tradition des „linken“ Antisemitismus oder Antisemitismus von links spricht, muss man zuerst das von Eric Hobsbawm so benannte Kurze 20. Jahrhundert in den Blick nehmen und damit den revolutionär zur Macht gelangten „realen Sozialismus.“ Im staatssozialistischen Lager, vor allem in der Sowjetunion in den 1950er Jahren, wurde „Antizionismus“ als Deckwort benutzt. Man nutzte vorhandene antisemitische Ressentiments, die es in der Bevölkerung gab, als politische Waffe. Israel wurde ursprünglich unterstützt, um britischen und amerikanischen imperialen Interessen zu begegnen, später ging man aber auf Abstand, näherte sich den arabischen Staaten an und bediente deren Revanchismus beziehungsweise deren die eigene Bevölkerung von anderen Problemen ablenkende Propaganda.

In den Schauprozessen, die der sowjetischen Machtausdehnung überall in Mittel- und Osteuropa folgten, wurden sehr viele als Jüdinnen und Juden identifizierte Kommunistinnen und Kommunisten (eine Opposition in diesem Sinn gab es nicht mehr) verfolgt und oft ermordet.

 

In Stalins letzten Tagen diente im Umfeld der imaginierten, so genannten Ärzteverschwörung die Bezeichnung „Wurzellose Kosmopoliten“ als Chiffre für „Juden“ ebenso wie in den tschechischen oder polnischen Hetzkampagnen und Schauprozessen „Zionisten“ – verwiesen wurde darüber auf eine angebliche Bedrohung des Sozialismus von innen heraus, mit internationalen Verbindungen, in direkter Allianz mit „dem Imperialismus“. Die UdSSR war jetzt stärker nationalistisch ausgerichtet, der Sozialismus in einem Land bzw. in einer Zone wurde propagiert und Juden wurden Opfer nicht nur einer der letzten großen Säuberungswellen Stalins, sondern von Hetzkampagnen bis in die 1970er Jahre. Wie von Leon Poliákov oder auch Robert Wistrich beschrieben, wurde eine entsprechend extrem dämonisierende Propaganda im ganzen Ostblock und bis in die verbündeten Länder im Nahen Osten usw. verbreitet, die bis heute nachwirkt.

Die Unterstützung für die PLO oder PFLP, später für Hamas oder Hisbollah , die von Judith Butler als „Widerstandsbewegungen“ und „Teil der globalen Linken“  bezeichnet wurden, zieht sich durch die „neue Linke“. In einem »Brief aus Amman« schrieb der Kommunarde Dieter Kunzelmann 1969: »Palästina ist für die BRD und Europa das, was Vietnam für Amerika ist. Die Linken haben das noch nicht begriffen. Warum? Der Judenknax.« Es gehe darum, die »faschistische Ideologie ›Zionismus‹ zu begreifen«, und um »eindeutige Solidarität mit al-Fatah, die im Nahen Osten den Kampf gegen das Dritte Reich von gestern und heute und seine Folgen« aufgenommen habe. In großen Teilen der antiimperialistischen Linken hat sich diese Haltung bis heute manifestiert.

Der Israel-bezogene Antisemitismus versteckt sich auch hier hinter dem Schlagwort Antizionismus. Man möchte als Linke:r mit Blick auf Auschwitz auf keinen Fall als Antisemit bezeichnet werden. Sehr vereinfacht ausgedrückt, da die große Weltrevolution ausgeblieben war und die Optionen in den Metropolen eher ungünstig waren, unterstützte man umso stärker die nationalen Befreiungsbewegungen, gerade im Nahen Osten oder im Trikont, im Kampf gegen „den Imperialismus“. Wobei diese tatsächlichen Kämpfe ironischerweise zu diesem Zeitpunkt, ab Mitte der 1960er Jahre, mehrheitlich schon in der Vergangenheit lagen. Israel wurde – vor allem nach 1967, Israels Sieg im Sechstagekrieg – als der Stellvertreter und Vorposten „des Imperialismus“ im Nahen Osten denunziert. Antiamerikanismus spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle. Man lebte, um mit Oskar Negt zu sprechen, in „geborgten Realitäten“ guter, echter, unterdrückter Völker und deren Kampf gegen die bösen Mächte des internationalen Finanzkapitalismus und dessen künstliche Außenposten. Dieser manichäischen Weltanschauung passen sich antisemitische Bilder sehr gut ein bzw. man kann sich auf Traditionen auch in der Linken beziehen, in denen Kapitalismuskritik zu einer „Kapitalistenkritik“ verstümmelt wurde.

In bestimmten historischen Momenten wurde, z.B. durch Teile der KPD in der Weimarer Republik, wie jetzt aktuell Olaf Kistenmacher nochmals betont hat, direkt Anschluss an die judenfeindliche extreme Rechte und auch an klar antisemitisch handelnde, nationalistische Akteure in Palästina gesucht. Der antiimperialistische Antisemitismus von links ist sehr stark auf Israel bezogen, Israel wird zur Inkarnation alles schlechten staatlicher Gewalt und nationaler Vergemeinschaftung schlechthin erklärt und dämonisiert. Gleichzeitig feiert man genau diese rohe Gewalt und diese unreflektierte Vergemeinschaftung, wie jetzt in Bezug auf den 7. Oktober  und die zynische Umdeutung der Massaker, der Vergewaltigung, der Entführung als „antikolonialem Kampf“ und „Widerstand“ überdeutlich wird (hier sehen wir wieder das Moment von Projektion im Antisemitismus, die Verlagerung eigener Wünsche und Handlungsmotivationen).

Insofern ist der „antiimperialistische“ Antisemitismus und dessen sich etwas zeitgemäßer, aus anderen Schlagwortsammlungen ausstaffierende Kumpane auch ein Entlastungsantisemitismus: Entlastung von Auschwitz wie von der bleibenden Gegenwart des Judenhasses, der nicht in Kategorien von „materiellen“ oder „politischen Interessen“, einer Relation von Mittel und Zweck aufgeht, sondern eine Praxis ist, in der Jüdinnen und Juden in Wort und Tat Gewalt angetan werden soll.

 

Zur Person: Florian Hessel ist Sozialwissenschaftler und lebt in Hamburg. Er ist Lehrbeauftragter der TU Hamburg und als freier Referent und wissenschaftlicher Berater in der politischen Bildung und Demokratieförderung tätig. Er ist Gründungsmitglied von Bagrut e.V. Verein zur Förderung demokratischen Bewusstseins. Zum Thema hat er u.a. 2022 gemeinsam mit Pradeep Chakkarath und Mischa Luy den Sammelband Verschwörungsdenken. Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung (im Psychosozial Verlag) herausgegeben.

 

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