Die Angst vor der Freiheit nach dem Abi

Gymnasium in Gladbeck Foto: Ziko-C Lizenz: CC BY-SA 3.0

Pandemie und Krieg: Viele Abiturienten sind verunsichert. Knapp die Hälfte weiß sogar noch nicht, was sie nach ihrem Abschluss machen will. Im Interview erklärt die Buchautorin und Wissenschaftsjournalistin Ulrike Bartholomäus, woran das liegt und wie Familie und Freunde helfen können.

Ruhrbarone: Ende April starten in NRW die Abiturprüfungen. Viele junge Leute sind orientierungslos, wissen nicht, wie es nach der Schule weitergehen soll. Hat die Pandemie die Orientierungslosigkeit nach der Schule verstärkt?

Ulrike Bartholomäus: In jedem Fall. Die gesellschaftliche Unsicherheit hält nun schon über zwei Jahre an, Jugendliche konnten sich weniger auf sich und ihre Prüfungen konzentrieren, sondern mussten sich stets den äußeren Gegebenheiten anpassen, Lockdown, Home Schooling, jetzt auch noch der Krieg in der Ukraine. Das belastet. 46 Prozent aller Abgänger haben keinen Plan, was sie in Zukunft machen wollen. Das hat verschiedene Ursachen. Die Jugendlichen wissen nicht, was sie auszeichnet, was sie können, wer sie sind. Sie sind ja auch aufgrund verkürzter Schulzeiten und dem Wegfall von Wehr- und Zivildienst noch sehr jung. Viele haben auch Angst, sich falsch zu entscheiden. Andere wissen genau, was sie machen wollen, zum Beispiel Medizin oder Psychologie studieren, aber ihnen fehlt die Voraussetzung, etwa der entsprechende Abischnitt. Jetzt erst wird ihnen klar, dass es besser gewesen wäre, in der Oberstufe nicht Netflix bis zum Pupillenstillstand zu schauen, sondern ein wenig mehr auf das Ziel hinzuarbeiten.

Ruhrbarone: Warum sind die Schulabgänger so verunsichert?

Ulrike Bartholomäus: Jugendliche müssen sich vor allem ausprobieren, um herauszufinden, was sie wollen. Das war zu Hochzeiten der Pandemie in einigen Bereichen schwierig bis unmöglich gewesen, weil viele Unternehmen keine Praktika vor Ort angeboten haben. Wie sinnvoll ein virtuelles Praktikum ist, bei dem jemand in seinem Kinderzimmer sitzt und Mails an die Firma schickt, sei mal dahingestellt. Wirkliche Erfahrungen sammeln, Eindrücke sammeln und Gespräche führen konnten sie so nicht. Das können sie jetzt nachholen, denn die Firmen suchen händeringend Nachwuchs. Die guten Nachricht am Ende der Pandemie ist: Die Aussichten für Abgänger sind so gut wie nie zuvor.

Ruhrbarone: Ist eine Auszeit nach der Schule wirklich so ein Drama?

Ulrike Bartholomäus: Im Gegenteil. Eine Auszeit finde ich eine sehr gute Idee. Ein Jahr Reisen, Praktika machen, Jobben, ein soziales Projekt betreuen oder sich um kranke Großeltern kümmern – all das trägt zur Reife bei. Voraussetzung ist, dass die Reise zum großen Teil selbst organisiert und zum Teil auch mitfinanziert wird. Ein all-inclusive-Programm auf Kosten von Mama und Papa an den Partystränden Asiens, wo man auf seine Mitabiturienten trifft, hilft nicht, die nötigen Erfahrungen zu machen, die einen weiterbringen. Wer nach so einem Jahr wiederkommt, ist manchmal genauso ratlos wie vorher. Wer eigenen Erfahrungen macht, sei es, dass das Auto mitten in Australien stehenbleibt, muss kreativ werden und selbst Probleme lösen. Das hilft in allen Lebenslagen.

Ruhrbarone: Was raten Sie Eltern, deren Kinder nach dem Abitur in eine Phase der Orientierungslosigkeit geraten?

Ulrike Bartholomäus: Im ersten Jahr sollten sie keinen Druck machen aber sicherstellen, dass nach etwa drei Monaten Zeit zum Chillen etwas angefangen wird, egal was. Monatelang gar nichts zu tun und einfach nur zu herumzuhängen halten alle Psychologen für kontraproduktiv. Denn in dieser Zeit braucht das Gehirn Input, damit sich alle Hirnregionen gut miteinander verbinden können. Durch monatelanges Nichtstun sterben Nervenzellen ab. Wer nicht studieren will oder keine Ausbildung anfangen möchte, sollte dann einfach Jobben. In den meisten Städten werden hunderte Aushilfen gesucht. Ich halte es auch für eine gute Idee, eine Ausbildung zu machen, wenn man noch unsicher ist. Ein fertiger Berufsabschluss nach zwei Jahren ist doch eine positivere Erfahrung als ein halbherzig angefangenes und dann abgebrochenes Studium.

Ruhrbarone: Interessieren sich Eltern heute zu wenig für die Zukunft der eigenen Kinder?

Ulrike Bartholomäus: Die meisten vornehmlich aus dem Akademikermilieu interessieren sich für meinen Geschmack fast zu viel. Einige wissen über jeden Schritt ihrer Sprösslinge Bescheid, sind mit deren Freunden befreundet. Es gibt den Jugendlichen wenig Freiraum, trägt wenig zur Reife bei. Eltern wollen das nicht hören, aber die Aufgabe von Jugendlichen in der Zeit ist nun mal die Ablösung und die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, die zur eigenen Persönlichkeit passen. Die meisten Eltern wollen heute, dass ihre Kinder studieren, möglichst etwas „Vernünftiges“. Entscheidend ist aber, dass es bei den Jugendlichen selbst „klick“ macht.

Ruhrbarone: Wie können Mütter und Väter stattdessen das Selbstbewusstsein ihrer Kinder stärken?

Ulrike Bartholomäus: Eltern sollten ihre Kinder ermutigen, raus in die Welt zu gehen, mutig zu sein, Dinge auszuprobieren, die sie nicht kennen, Menschen zu treffen, die sie in ihrem Leben noch nicht getroffen haben. Sie sollten ihre Hilfe erst anbieten, wenn sie danach gefragt werden und sich auch einmal zurückhalten mit ihren gut gemeinsten Vorschlägen. Junge Menschen können enorm viel, sind äußerst kreativ, wenn man sie lässt. Falls mal etwas schief läuft, sollten sie eher sagen: Das ist nicht schlimm, das kann mal passieren. Dann wachsen jungen Menschen an ihren Erfahrungen, die sie ja in dieser komplexen Welt auch brauchen.

Ruhrbarone: Was können Mitschüler unternehmen, wenn sie feststellen, dass ihr Freund oder ihre Freundin aus der Stufe sich immer mehr zurückzieht?

Ulrike Bartholomäus: Das kommt zur Zeit häufig vor. Es erfordert Sensibilität, die Bedürfnisse von Mitschülerinnen und Mitschülern zu erkennen, die ängstlich sind oder deprimiert, denen alles zu viel wird. Hier hilft direkter Kontakt, ein Besuch, Zeit miteinander zu verbringen. Soziale Kontakte wirkt antidepressiv, für Jugendliche sind sie wie Sauerstoff. Bei jungen Menschen ist es ja sehr üblich, über Nachrichten zu kommunizieren. Da kann man besser verbergen, wenn es einem schlecht geht, denn es fehlt die Mimik, die Gestik.

Interview: Gabriele Schulz.

 

Ulrike Bartholomäus. Fotografin: Laurence Chaperon

Zur Person: Ulrike Bartholomäus  arbeitet als Wissenschaftsjournalistin und schreibt über Medizin, Politik und Kommunikation. Der Übergang von der Schule in Ausbildung und Studium verläuft heutzutage nicht mehr reibungslos und friedlich. In den Familien spielen sich wahre Dramen ab. Ulrike Bartholomäus erklärt in ihrem „Spiegel“-Bestseller „Wozu nach den Sternen greifen, wenn man auch chillen kann?“, wie es gelingen kann, hartnäckige Nesthocker, ewige Selbstzweifler und tiefenentspannte Dauerchiller in die Selbstständigkeit zu entlassen.

 

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