Die Borderline Prozession am Theater Dortmund

Foto: Maximilian Steffan
Foto: Maximilian Steffan

Es ist völlig unmöglich, über die „Borderline Prozession“, die der Intendant des Dortmunder Schauspiels Kay Voges im Megastore inszeniert hat, zu schreiben. Es ist allein deshalb unmöglich, weil niemand in diesem Totaltheater auch nur annähernd alles sieht und hört – und schon gar nicht versteht. Letzteres zumindest muss man auch nicht, da dankenswerterweise bereits vor Beginn darauf hingewiesen wird, dass es nichts zu verstehen gibt (Gibt es natürlich trotzdem). Eine weitere Entlastung des Zuschauers wie Kritikers liefert Gilles Deleuze recht zu Beginn des rund dreistündigen Abends, wenn er in einem Text darauf abhebt, dass ein vorurteilsfreies quasi objektives Sehen gar nicht möglich sei. Da lassen wir also die Kritikereigene Besserwisserei einfach mal bei Seite, erheben keinerlei Anspruch darauf, irgendetwas besser oder genauer gesehen zu haben und schreiben einen Text aus schonungsloser Ich-Perspektive. Alles nur meins, meine Erfahrungen und Erwartungen, die in den Wucherungen der Borderline Prozession eine höchstsubjektive Perspektive prägen und nur genau die Ausschnitte sehen lassen, die mir gerade in den Kram/das Weltbild/die Laune passen.

Die Situation ist folgende: Auf zwei Tribünen sitzen sich die Zuschauer gegenüber, allerdings ohne einander zu sehen, da zwischen ihnen das Bühnenbild steht. Das zeigt auf der einen Seite eine Reihe von Wohnräumen: Bad, Schlafzimmer, Küche, Fitnessraum, Garten mit Whirlpool. Auf der anderen Seite sehen die Zuschauer eine Betonmauer mit Stacheldraht, eine Bushaltestelle, ein Bordellschaufenster, einen Kiosk, ein Auto.

Dann zieht die Prozession herein, angeführt von Kameramann Jonas Schmieter auf einem Wägelchen. Dahinter die 13 Schauspielerinnen und Schauspieler des Ensembles, sowie zehn Studierende der Folkwanghochschule und Kay Voges höchstselbst. Es wird ein Weihrauchfässchen geschwenkt und gemeinsam „In A Manner Of Speaking“ der amerikanisch-belgischen New-Wave-Band Tuxedomoon gesungen. Dieser zutiefst melancholische Song gibt dem ersten Drittel des Abends die Atmosphäre vor: Höchste Traurigkeit in unendlicher Schönheit. Nach und nach löst sich die Prozession auf und immer mehr Gestalten bevölkern die Wohnräume. Die Kamera umkreist den Rest des Abends die Szene und lässt über Leinwände unter der Decke die Zuschauer auch an dem teilhaben, was sie nicht live sehen. Kay Voges wird der Kamera ebenfalls den gesamten Abend folgen und immer wieder das Geschehen durch dezente Anweisungen lenken. Auch das führt dazu, dass jede Aufführung ein neuer Versuch ist, der Änderungen und Erweiterungen gegenüber den vorherigen haben kann. Das kennen wir bereits aus dem „Goldenen Zeitalter“, in dem vor zwei Jahren Voges aus dem Zuschauerraum live Regie führte.

Drei Teile hat der Abend und nach jedem Teil ist das Publikum aufgefordert – während wieder die Prozession um die Häuser zieht – seine Perspektive (also diesmal ganz wörtlich: den Platz) zu wechseln. Der erste Teil knüpft auch thematisch an das „Goldene Zeitalter“ an. Es geht um den Alltag und seine enervierenden Wiederholungen. Butterbrote werden geschmiert, es wird geschlafen und geduscht, gebadet und Hanteln gestemmt, auf den Bus gewartet, der Kiosk geöffnet und geschlossen und cool im Auto gesessen. Die Videoleinwände liefern nicht nur die Bilder des ungesehenen, sondern auch Texte, die das Geschehen zwar nicht erklären, aber eine zusätzliche Ebene einziehen. Dramaturg Alexander Kerlin spielt diese Texte live zu. Eine weitere Bedeutungsebene liefert der ebenfalls live gemischte Soundtrack von T.D. Finck von Finckenstein, der Klassik und New Wave, Minimal Music, Aktuelles und Geräusche schichtet, als müsste er die ganze Geschichte alleine erzählen. Dröhnender und dräuender wird es gegen Ende des ersten Teils, wenn auch die Alltäglichkeit mehr und mehr zerbröselt, Beziehungen zerbrechen oder entgleisen und im Whirlpool Waterboarding zum Einsatz kommt.

Der zweite Teil ist „Crisis“ überschrieben und zeigt uns genau das. Privater und öffentlicher Raum sind nun voneinander getrennt, Gewalt ist die vorherrschende Stimmung, egal ob gefickt, geputzt oder geschossen wird. Es gibt Tote – die zu Untoten werden, SM-Sex, dumpfen Propaganda-Müll der AfD. Wir sind am Arsch und allein. Letzteres waren wir schon immer – im ersten Teil – wir haben es nur nicht gemerkt. Jetzt aber sieht es nicht einmal so aus, als passe noch irgend etwas zusammen in der Welt.

Im dritten Teil wird uns dann die Erlösung samt Engel, Scarlett Johansson, Britney Spears und Justitia versprochen.

Foto: Marcel Schaar
Foto: Marcel Schaar

Was aber genau gibt es nun zu erfahren? Dass eine Bushaltestelle ein wunderbarer Schnewittchensarg ist, wenn nur Napoleon darin liegt und Mahler gesungen wird? Dass Napoleon und Jonathan Meese vielleicht gleichermaßen größenwahnsinnig wie irre sind/waren? Dass die Horrozwillinge aus dem Overlookhotel ganz harmlose frühreife Gören sind, wenn man nur genug davon hat? Oder gar, dass Andreas Beck und Friederike Tiefenbacher eigentlich Tom Cruise und Nicole Kidman sind?

Auf jeden Fall ist dieses Spiel über das Leben und alles andere getränkt mit Popkultur und zwar zumeist amerikanischer. Das beginnt schon bei der mehr als brillanten Ausstattung der Bühne von Michael Sieberock-Serafimowitsch und den Kostümen von Mona Ulrich. Alles ist schick, aber etwas aus der Zeit gefallen und eher von kitschigem Glamour amerikanischer Filme und Serien als deutscher Kleinbürgerlichkeit durchdrungen. Es sind die vielen Verweise auf Stanley Kubrick und David Lynch. Und es sind natürlich die Videobilder, die unter der Leitung von Voxi Bäreklau live von Marion Simon und Jonas Schmieter erstellt werden. Sie haben nichts mit dem wackelig-dokumentarischen Gestus zu tun, den man im Theater erwarten könnte. Immer sind sie perfekt und hochartifiziell ausgeleuchtet, immer etwas zu bunt, aber gerade noch so, dass sie nicht kitschig daher kommen. Sie sind überperfekt wie die Fotografien von Jeff Wall oder eben die Filmbilder eines Meisters wie Kubrick oder Lynch. An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass das Licht von Sibylle Stuck natürlich einen wesentlichen Beitrag leistet, dass diese Bilder jede „Tatort“-Produktion zu etwas wirklich sehenswertem machen könnten.

Foto: Marcel Schaar
Foto: Marcel Schaar

Und was nun erzählt uns dieser Abend, den Andreas Beck und Friederike Tiefenbacher schließlich mit einem einzigen lakonischen Dialogwechsel beenden, der genauso trivial und vieldeutig daher kommt wie der in „Eyes Wide Shut“, der Kubricks überragendes Lebenswerk abschloß? Das kann ich Ihnen so nicht sagen. Dafür müssen Sie sich schon selbst der Borderline Prozession aussetzen.

Der Abend ist die konsequente Fortführung des auch schon grandiosen „Goldenen Zeitalters“. Doch wo dort Kay Voges noch die Welt aus der Perspektive des Theaters zeigte, blickt er hier nun von der Welt auf die Welt und das ist eine wahrhaft verstörende Perspektive. Sie werden, wenn Sie die Augen aufmachen, an diesem Abend nicht nur einmal Tränen in den Augen haben. Sie werden sicherlich auch mal genervt sein und über die Lolita-Horden lachen. Und Sie werden nicht wissen, was das alles soll, aber ganz sicher sein, dass es genau so richtig war.

Ganz eindeutig ist jedoch, dass sich Kay Voges nun in der allerersten Reihe der deutschen Theaterregisseure festgesetzt hat. Nicht mit diesem einen Abend, aber mit der beeindruckenden Trias aus „Die Show“, „Geächtet“ und „Borderline Prozession“, die er in diese Spielzeit inszenierte. Drei Arbeiten, die auch in den großen deutschen Theaterstädten Hamburg, Berlin und München locker bestehen würden und das Wiener Burgtheater aus seinem anhaltenden Kreativitätsloch reißen könnten, wenn es sich denn ließe.

Und zuletzt lasse ich doch noch einmal den Kritiker heraus hängen: Dass Voges zu diesem Punkt kommen würde, hätte man ahnen können als er 2003 am Theater Oberhausen die Uraufführung von Terezia Moras „Sowas in der Art“ inszenierte. Da war schon sehr viele davon da, was seine Arbeit heute so großartig macht. Und es war auch damals bereits großartig, doch hatten es zu diesem Zeitpunkt Kritik und Publikum noch nicht verstanden. Jetzt verstehen es sehr viele und auch wenn das Burgtheater gewiss noch etwas länger braucht, es würde schon sehr wundern wenn nicht Thalia oder Volksbühne schon längst die Finger nach Voges ausgestreckt hätten.

Nächste Vorstellungen: 8., 14., 29. Mai, 11. Juni, 1. Juli

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Martin Kaysh
8 Jahre zuvor

Ja. Man könnte so viel hinzufügen, um endgültig jede Distanz zu verlieren und zu versuchen, angemessen zu lobpreisen. Danke für´s Schreiben. Das macht noch mehr Menschen, die später verzweifelt eingestehen werden, es nicht geschafft zu haben zu diesem Abend.

Wo ich beim Später bin. Später wird man genau diese Inszenierung in Erinnerung haben als das Kernstück des Goldenen Zeitalters im Dortmunder Theater.

Es ist schön, dass ich bei Dir lese, was dem Herrn Keim im WDR wohl noch zu peinlich war zu erwähnen. Die Borderline Prozession ist zum Heulen schön, oder wie es im obigen Text an die Zuschauer gerichtet heißt:
"Sie werden, wenn Sie die Augen aufmachen, an diesem Abend nicht nur einmal Tränen in den Augen haben."

Ja, und ich werde wieder hingehen. Und noch mal Tränen in den Augen haben. "Höchste Traurigkeit in unendlicher Schönheit", der muss man sich hingeben.

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[…] enormer Kreativität die Potenziale des Provisoriums ausgenutzt und neben vielen anderen mit der Borderline-Prozession eine der aufregendsten Produktionen im deutschsprachigen Raum gezeigt. Zudem hatte er doch selbst […]

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[…] Das könnte der Megastore sein, bevor sich dort „Das schweigende Mädchen“ und die „Borderline“ breitgemacht haben. Alles noch sehr leer, nur der Brandschutz war schon da und hat überall seine […]

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