Gelsenkirchen ist keine Multikultur

Szenegastronom Cem Özdemir sagt Tschüss Foto: Ralf Nattermann

Warum Szene-Gastronom Cem Özdemir und seine Familie die Stadt verlassen

Cem Özdemir ist 1971 in der Türkei geboren und kam drei Jahre später nach Deutschland. Er hat in Gelsenkirchen Kindergarten, Grundschule und Gymnasium besucht, bevor er in Essen mit dem Studium begann. Die akademische Laufbahn hat er nicht weiterverfolgt und ist stattdessen in seiner Heimatstadt Gelsenkirchen ein bekannter Gastronom geworden. Zuletzt hat er das beliebte Szenelokal „rosi“ in der Weberstraße betrieben. Damit ist jetzt Schluss, und die neue Heimat der Familie Özdemir liegt in Norddeutschland. Michael Voregger hat mit Cem Özdemir über die Gründe für die Auswanderung gesprochen.

Michael Voregger: Warum bist Du ausgerechnet Gastronom in Gelsenkirchen geworden?

Cem Özdemir: Das ist das Ambivalente in Gelsenkirchen, und wahrscheinlich gilt das auch für andere Städte. Wenn man hier groß geworden ist, egal was man für eine Vita hat, egal wo man herstammt, dann kommt man immer wieder zu dem zurück, was man für sich als Heimat begreift. Deshalb hat es sich angeboten, meine gastronomischen Fähigkeiten da umzusetzen, wo ich mich gerne aufhalte.

Jetzt ist Schluss für Dich in Gelsenkirchen. Warum verlässt Du die Stadt und gehst woanders hin?

Meine Frau und ich sehen die Entwicklung in Gelsenkirchen sehr kritisch. Wir haben uns vor einiger Zeit entschieden, der Stadt den Rücken zu kehren. Gelsenkirchen hat sich in den letzten fünf Jahren verändert, eine Entwicklung, die uns nicht zusagt. Wir haben zwei kleine Kinder, und wir wollen sie in so einem Umfeld nicht groß werden lassen. Wir haben lange darüber nachgedacht, und die Entscheidung fällt uns nicht leicht. Wir wollen keine Ghettoisierung, wir wollen keine Blase, und wir wollen schon Teil der Gesellschaft sein. Und wenn wir uns anschauen, was für ein Teil der Gesellschaft wir wären, dann ist das kein schönes Bild.

Was fehlt in Gelsenkirchen, um vielleicht doch zu bleiben?

Es fehlt eine multikulturelle Gesellschaft. Wir haben in Gelsenkirchen keine Multikultur, sondern wir haben eine Ansammlung von Monokulturen. Wir haben ganz viele Monokulturen, die parallel nebeneinander herlaufen, es gibt keine positive Vermischung und keine Synergien. Meine Familie und ich sind ein Beispiel für Multikultur. Meine Frau ist Deutsche aus Norddeutschland, und ich bin ein in der Türkei geborener Gelsenkirchener. Wir haben es mittlerweile auch geschafft, die Sprachbarrieren abzubauen (lacht).

Was hat sich in Gelsenkirchen konkret in den letzten Jahren geändert?

Wir haben das Gefühl, dass Gelsenkirchen immer mehr verroht, auf der Straße, wo wir uns bewegen, denn wir leben nicht nur in unser Wohnung. Wir sehen immer wieder, dass die Gesellschaft in Gelsenkirchen uns nicht mehr die Lebensqualität bietet, die wir erwarten. Wir laufen durch die Innenstadt und sehen ganz viele Kulturen, die für sich keinen positiven Anspruch mehr haben.

Was muss hier passieren?

Es müsste auf den Tisch geklopft und gesagt werden, dass eine Grenze erreicht ist. In der Politik passiert auch was, nur die Schlagzahl und die Geschwindigkeit reicht nicht aus. Wir haben in den letzten Jahren gesellschaftliche Veränderungen erlebt, und man übernimmt keine Verantwortung mehr. Als ich noch klein war, hat der Nachbar für mich Verantwortung übernommen. Wenn ich Mist gebaut habe, also zum Beispiel seine Blumenbeete zertrampelt habe, dann ist er zu meinem Vater gegangen. Ich habe eine Schelte bekommen, und die beiden sind ein Bier trinken gegangen. Was hier im Kleinen funktioniert hat, muss auch in der Gesellschaft funktionieren. Das Gegenüber muss aber Kritik auch annehmen können, und das fehlt hier.

Jetzt wanderst Du nach Wilhelmshaven aus. Diese Stadt hat mit ähnlichen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen wie Gelsenkirchen. Warum ausgerechnet Wilhelmshaven?

Es gibt da in der Tat viele Gemeinsamkeiten. Wenn ich da hinfahre, dann fühle ich mich nicht fremd. Die Menschen können dort mit meiner Wortwahl, mit meinem Satzbau und meiner Lebensweise genauso umgehen, wie die Menschen hier. Das sind die Gemeinsamkeiten. Was die Unterschiede sind – Wilhelmshaven hat nicht diese Entwicklungskurve wie Gelsenkirchen vollzogen. Das Mischungsverhältnis in der Gesellschaft ist noch nicht gekippt.

Im Ruhrgebiet wird das offene Wort ja geschätzt, und die Politik spricht hier immer von gelungener Integration der türkischen Mitbürger. Teilst Du diese Einschätzung?

Leider nicht. Zeit meines Lebens werde ich – auch in Gelsenkirchen, so leid es mir tut – auf meinen Namen und meine Herkunft reduziert. Ich muss auch heute mit Mitte 40 noch beweisen, dass ich der deutschen Sprache mächtig bin: „Oh, Özdemir, Sie sprechen aber gut Deutsch.“ Ich lebe seit 42 Jahren in Gelsenkirchen, und die Gesellschaft grenzt mich immer noch aus. Das ist, glaube ich, ein Phänomen im Ruhrgebiet, und genau gegenteilige Erfahrungen habe ich in Wilhelmshaven gemacht. Da muss ich mich nicht auf Grund meiner Herkunft oder meines Namens beweisen, sondern da geht es um meine Fähigkeiten oder um die Dinge, die gerade verhandelt werden.

Die gastronomische Landschaft in Gelsenkirchen glänzt ja nicht durch ihre Vielfalt. Ist das auch ein Zeichen für den Niedergang einer Stadt?

Es ist kein Niedergang, und ich denke es ist eine Wellenbewegung. Es dauert jetzt fünf Jahre an und wird vielleicht auch noch fünf Jahre dauern. Es wird auch wieder schöner, heller und abwechslungsreicher werden – auch was die Gastronomielandschaft betrifft. Es läuft irgendwann darauf hinaus, dass die Gesellschaft erkennt, wie wichtig die Gastronomie für ihr Fortbestehen ist. Gelsenkirchen hat diesen Punkt noch nicht erreicht, aber ich bin frohen Mutes, dass die Menschen hier es irgendwann hinkriegen.

Vier Jahre lang hat Cem Özdemir die Szene-Kneipe „rosi“ an der Weberstraße 18 betrieben und zu einem beliebten Treffpunkt für Gelsenkirchener, aber auch für Auswärtige gemacht. Lesungen, Rock, Pop- und Jazz-Konzerte – die „rosi“ war stets auch Kulturort, und das nicht nur zu den „Gelsen City Sounds“. Bei seinem Weggang gibt Cem Özdemir die „rosi“ in gute Hände: Erwin Wilms, seine Schwester Evelyn Eone und ihr Mann Jacques Eone gehören schon lange zum Freundeskreis der „rosi“ und möchten das Lokal auch in Zukunft in bekannter und bewährter Weise weiterführen.

Das Interview ist auch in der aktuellen Ausgabe des Stadtmagazins isso. erschienen.

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ke
ke
7 Jahre zuvor

Die Analyse ist sicherlich in vielen Punkten richtig.

Ich kann es auch nicht nachvollziehen, dass bspw. bei Deutschen Nationalspielern, deren Vorfahren in der Türkei lebten, während Interviews auf das gute Deutsch hingewiesen wird.

Warum das keine Selbstverständlichkeit ist, ist eine andere Frage. Es ist ja auch so, dass Menschen, die sich auf Türkisch unterhalten ,durchaus auf die Landessprache perfekt können.

Warum man nach Wilhelmshaven auswandert, ist mir ein Rätsel. Ist das nicht eher das Ziel vieler H4 Empfänger, die den Zustand auch nicht ändern wollen?
Wasser in der Nähe, niedrige Preise und keine Chance auf Arbeit.
Was ist dort nur so Interessant?

Viel Glück an der See.

teekay
teekay
7 Jahre zuvor

Wie ist das mit dem Regen und der Traufe?!
Wilhelmshaven ist das Paradies für Arme (2014)
https://www.welt.de/politik/deutschland/article129892027/Wilhelmshaven-ist-das-Paradies-fuer-Arme.html

Helmut Junge
7 Jahre zuvor

Die Frau Özdemir stammt aus lt. Text doch aus Norddeutschland. Damit wird das Umzugsziel vielleicht zu tun haben, denn von dort kommt man nicht so ohne weiteres hierher, sondern von hier fährt man immer noch eher dorthin.
Interessant ist die Aussage: "Es fehlt eine multikulturelle Gesellschaft. Wir haben in Gelsenkirchen keine Multikultur, sondern wir haben eine Ansammlung von Monokulturen. Wir haben ganz viele Monokulturen, die parallel nebeneinander herlaufen, es gibt keine positive Vermischung und keine Synergien."
Das ist für mich deshalb interessant, weil ich immer dachte, daß das die Normalform einer multikulturellen Gesellschaft wäre. Denn ein Zusammenwachsen nennt man ja doch eher einen Schmelztiegel. Und das kann man ja wohl kaum sagen, daß es das großflächig im Ruhrgebiet gibt.
Mittlerweile glaube ich sogar, daß der Begriff "multikulturelle Gesellschaft" eine Gesellschaft mit vielen in sich stabilen Kulturen bedeutet. Wenn das häufig anders gedacht oder erhofft war, sollten diejenigen, die das glauben mal etwas über die vielen Völkerschaften lesen, die im Orient seit Jahrhunderten, vielleicht noch länger, nebeneinander wohnen. Ich frage mal, warum soll das hier anders sein?
Was mich noch an Özdemirs Aussagen auffiel, war daß er eine Entwicklung zum Schlechteren sieht. Darüber liest man ja sehr viel, aber ich glaube, daß viele hier lebende Menschen, gerade auch viele Politiker nicht einmal den Istzustand kennen, was Voraussetzung ist, um eine Entwicklung zu beobachten. Özdemir kennt wohl schon länger " beide" Seiten, wobei statt "beide" vielleicht "etliche" Seiten stehen müßte, und das schon sehr lange. Insofern ist er ein wichtiger Zeitzeuge.
Warum haut ausgerechnet so einer ab? Man sollte ihn nicht wegziehen lassen.

Mo
Mo
7 Jahre zuvor

Der Begriff multikulturelle Gesellschaft passt nicht. Deutschland braucht genaue Vorstellungen über Staatsbürgerkunde. Früher bildete man Bürger aus mit Hilfe der Fächer Geschichte, Dialektik, Logik, Rhetorik und Moralphilosophie. Für die Bestimmung des Gemeinwohls reicht es nicht, dass Einbürgerungswillige nur Deutsch können und ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie müssen argumentieren können und Diskursethiken einhalten können. Anders als Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Lehrerverbände sind Migranten und Postmigranten keine homogene Interessensgruppen. Argumentativ erhaltener Konsens ist das einzige Band, das die Gesellschaft zusammen halten kann. In den Integrationskursen soll es nicht um Benimm-Regeln gehen, sondern um die typischen Argumentationsmuster von Parteien und Lobby-Organisationen. Realistisch betrachtet lassen sich die Interessen der Migranten und Postmigranten nur durch Appelle an das Gemeinwohl oder eine gesellschaftlich durchsetzungsstarke Interessensgruppe durchsetzen. D.h. sie muss ihr Interesse im Gemeinwohl oder dem Gruppeninteresse einer anderen Gruppe wiedererkennen können und rhetorisch in Sprechakten umsetzen.

Multikulturelle Gesellschaften gibt es im Grunde nicht, weil das meint, dass die "Kulturen" keine gemeinsame Sprache, Einstellungen oder Praktiken gemeinsam haben dürften, damit es mit der Trennschärfe klappt. Ein besserer Begriff wäre glokale Kultur, womit geteilte Einstellungen, Praxen und Gewohnheiten in einigen hundert Metropolen Gesellschaften gemeint sind. Diese glokale Kultur wird mit Hilfe von Facebook, Skype und youtube etc. durch Innovation und Imitation verbreitet. Die Migranten und Postmigranten entwickeln ein ganz eigenes Lokalkolorit, dass man nicht mit der Lebensweise der Pionier Generation vergleichen sollte. Es gibt sehr viele Adaptionen und aufgegebene Praxen, die das Sprechen von der mitgebrachten Lebensweise konterkarieren.

Die Einwanderung macht uns im Laufe der Zeit so wie die Anderen aber nicht vollständig, wie die Kolonialisierung die Anderen mehr so werden ließ wie wir aber nicht vollständig. Einwanderung sollte aber nicht so ablaufen wie eine Selbst-Kolonialisierung mit einer fixen ethnischen Arbeitsteilung. Ein solches Ergebnis wäre eine permanente Erinnerung an die Schandtaten der Kolonialzeit. Wir wollen nicht der Doppelgänger der ehemaligen Kolonialgesellschaften am anderen Ende der Welt werden.

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