
Bidirektionales Laden ist eine faszinierende Technologie. Die Idee, das E-Auto als Speicher zu nutzen und die Doppelbesteuerung darauf abzuschaffen, ist politisch und ökologisch richtig. Doch hier endet der Konsens und beginnt die Physik.
Bidirektionales Laden im Heimbereich am 400 Volt-Netz hat keinen nachhaltigen, zwingend positiven Einfluss auf die Netzstabilität und reduziert auch nicht den Bedarf an Kraftwerken. Wer das Gegenteil behauptet, hat in Physik gepennt. In den letzten Monaten überbieten sich Politik und Start-ups mit Jubelmeldungen: Millionen E-Autos sollen das Stromnetz retten, Kraftwerke ersetzen und die Energiewende im Alleingang wuppen. Das ist vollkommen unseriös und offenbart sich ein gefährliches Dilemma: Menschen, die die Physik nicht verstehen, versuchen physikalische Probleme rein kaufmännisch zu lösen. Physikalische Argumente, wieso Dinge nicht funktionieren, ändern sich nicht, wenn die Politik der Physik neue Möglichkeiten zu eröffnen hofft.
Ein kurzer Deep Dive in die Netzphysik.
Die Vorstellung, wir könnten Strom beliebig durch Deutschland schieben, indem wir Autos in der Garage entladen, scheitert an der Struktur unseres Verteilnetzes.
Im Übertragungsnetz (Hochspannung) dominiert der Blindwiderstand. Hier steuern wir Lastflüsse elegant über die Phasorenwinkeldifferenz. Im 400-V-Niederspannungsnetz hingegen regiert der ohmsche Widerstand. Das bedeutet: Wirkleistungstransport ist hier untrennbar mit Spannungsabfall (oder bei Einspeisung: Spannungsanhebung) gekoppelt.
Wenn in einer Siedlung hunderte Autos gleichzeitig einspeisen („Bottom-Up“), treiben sie die Spannung am Verknüpfungspunkt hoch. Da Ortsnetzstationen und Leitungsquerschnitte historisch für den Bezug („Top-Down“) ausgelegt sind, verletzen wir sofort die Spannungsbandtoleranzen. Die Trafos gehen in die Sättigung oder schalten ab. Der Strom kommt (begrenzt durch die Leitungs- und Trafokapazitäten unter Berücksichtigung der Spannungsbänder) physikalisch gar nicht dort an, wo er gebraucht wird.
Die Dunkelflaute: Leistung ist nicht Arbeit
Das populärste Argument lautet: „Die Autos ersetzen Kraftwerke.“ Das ist falsch.
Bidirektionales Laden bietet kurzzeitige Leistung (kW), aber keine gesicherte Energie (kWh) für lange Zeiträume.
Eine Dunkelflaute im Winter dauert mitunter zwei Wochen. Ein E-Auto-Akku mit 50 kWh ist bei normaler Hausversorgung (in Zukunftsszenarien) nach 1-2 Tagen leer – oder der Besitzer blockiert die Entladung, weil er zur Arbeit muss und mit dem Fahrzeug wegfährt.
V2G (Vehicle-to-Grid) oder Heimspeicher reduzieren nicht den Bedarf an Backup-Kraftwerken (Residuallast) und die Debatte vernachlässigt weiterhin den Energiebedarf, den Deutschland jenseits der Privathaushalte hat. Wer das Gegenteil behauptet, verwechselt eine Powerbank mit einem Generator.
Netzfolgend vs. Netzbildend und die Sache mit der Katastrophentheorie
Regelungstechnik. Damit Millionen Autos das Netz wirklich stützen könnten (z.B. bei einem Blackout-Start oder Frequenzeinbrüchen), müssten ihre Wechselrichter netzbildend (Grid-Forming) sein. Sie müssten als Spannungsquelle agieren und Überlast tolerieren. Die Realität heute sind netzfolgende Wechselrichter. Fast alle Autos nutzen diese Technik. Sie brauchen ein stabiles 50-Hz-Netz, auf das sie sich per PLL (Phase Locked Loop) synchronisieren. Die Wechselrichter können als „Trittbrettfahrer“ bezeichnet werden. Wenn nun rotierende Generatoren (Schwungmasse) zukünftig immer weiter durch Inverter ersetzt werden, wird das Netz „weich“. Bei einer Störung verlieren die PLLs die Orientierung.
Ein Synchrongenerator im Kraftwerk liefert im Kurzschlussfall den 8-fachen Nennstrom, um das Netz zu klären („Fault Ride Through“). Wechselrichter bestehen aus empfindlichen Halbleiterbauteilen. Bei Überstrom brennen sie in Mikrosekunden durch. Deshalb schalten sie sich bei der kleinsten Störung ab – genau dann, wenn man sie bräuchte.
Netzbildende Wechselrichter durchdringen insbesondere bei Großbatteriespeichern zunehmend den Markt – und das, auf einer Spannungsebene, die auch Sinn ergibt.
Das Netz ist ein dynamisches System, dessen Zustandsvektoren sich ständig ändern. Es entspricht damit einem dynamischen System im Sinne von René Thoms Katastrophentheorie. Und ein solches System sucht einen stabilen Attraktor (Zustand). Millionen von Autos, die zentral gesteuert (z.B. durch Preissignale) gleichzeitig anfangen zu laden oder zu entladen, erzeugen eine massive Synchronizität. Selbiges gilt, wenn unerkannte Schocks zur momentanem, synchronen Fehlverhalten führen.
Das ist keine zufällige Verteilung mehr, sondern ein korrelierter Schock für das System. In der Sprache der Chaostheorie bewegen wir uns auf eine Bifurkation zu: Der stabile Zustand kippt nicht langsam, er bricht schlagartig weg („Faltenkatastrophe“). Wenn Millionen Inverter auf einen solchen Schock aufgrund von Latenzen im Internet (Totzeit in der Regelung, sprich Zeit, bis das Steuersignal in eine physikalische Reaktion umgesetzt wird) zeitversetzt reagieren und dabei gegenphasig zum Netz schwingen, riskieren wir Resonanzkatastrophen, die kein Algorithmus mehr einfangen kann.
Sicherheit und Latenz: Millisekunden vs. Internet
Spannend ist in diesem Kontext, dass zahlreiche Kommentatoren nicht einmal mehr die eigene Lektüre verinnerlicht zu haben scheinen. 2023 wurde vom damaligen Habeck Ministerium die Roadmap Systemstabilität veröffentlicht. Diese Roadmap hat ihre Schwächen, in der Problembeschreibung jedoch wird sie an der richtigen Stelle deutlich: Netzstabilität erfordert Reaktionen im Millisekundenbereich (Momentanreserve). Ein zuverlässiger Netzbetrieb rein mit EE, mit der heutigen Art, wie EE-Anlagen ins Netz integriert werden, ist nicht möglich. Das ist akademischer Konsens und physikalische Gewissheit.
V2G-Konzepte basieren oft auf Cloud-Lösungen. Das Internet ist für Echtzeit-Regelung zu langsam (Latenz/Jitter). Wer versucht, 50-Hz-Physik mit Sekunden-Latenzen zu regeln, baut einen Oszillator, keinen Stabilisator. Zudem schaffen wir mit Millionen vernetzter Einspeiser den größten Angriffsvektor der Geschichte (KritisV). Ein Hack, der alle Autos gleichzeitig schwingen lässt, wäre das Ende des Verbundnetzes.
Ehrlichkeit statt Hype
Bidirektionales Laden auf der 400 V ist ein tolles Feature für den Eigenheim-Optimierer (V2H) und können lokal als Stabilitätsmechanismus genutzt werden. Für EVUs ergeben sich daraus mit entsprechender Vorlaufzeit (Latenz!) interessante Handlungsoptionen. Aber es als Säule der nationalen Energiesicherheit zu verkaufen, ist unseriös.
Es ist der Versuch, fehlende Physik (Leitungen, Trafos, Schwungmasse) durch kaufmännische Anreize zu ersetzen. Wer das notwendige Verständnis hat, sollte aufstehen und diese Grenzen benennen, statt unseriösen Unsinn zu verbreiten. Alles andere ist magisches Denken.
Weitere Ausführungen zur Netzstabilität finden sich im Beitrag: Die Herausforderung der Systemstabilität.
Exkurs: Was ist die Phasorenwinkeldifferenz δ und noch mehr Physik für interessierte Leser
Wir sprechen über Wechselstrom. Spannung und Strom schwingen als Sinuswellen. In der Elektrotechnik stellen wir diese Wellen als rotierende Zeiger (Phasoren) dar.
Wenn Strom von Punkt A (Kraftwerk) nach Punkt B (Verbraucher) fließt, sind die Spannungszeiger an beiden Orten nicht deckungsgleich. Der Zeiger am Generator eilt dem Zeiger am Verbraucher etwas voraus. Dieser Winkelversatz ist die Phasorenwinkeldifferenz δ. Stellen wir uns einmal vor, ein Generator und eine Last wären über eine Gummiwelle verbunden. Um Leistung zu übertragen, muss die Welle verdreht werden. Je größer der Verdrehwinkel, desto mehr Energie wird übertragen.
Das gelingt im Hochspannungsnetz – aber nicht auf der Niederspannung.
Das Übertragungsnetz (110 kV, 220 kV, 380 kV) besteht aus Freileitungen. Bei diesem Leitungstyp dominiert der Blindwiderstand (X), bei einem nahezu zu vernachlässigenden ohmischen Widerstand. Die physikalische Folge ist, dass der Wirkleistungstransport nahezu ausschließlich vom Sinus des Winkels δ, die Differenz der Spannungsniveaus resultiert in Blindströmen, nicht aber Wirkströmen. Als Netzbetreiber können so riesige Energiemengen verschoben werden, indem der Winkel entsprechend des Bedarfs angepasst wird.
Die Netzbetreiber (ÜNB) können riesige Energiemengen verschieben, indem sie einfach den „Winkel aufdrehen“ (Generatoren geben mehr Gas –> der Rotor eilt vor). Die Spannungshöhe bleibt dabei relativ stabil. Hier sind Wirkleistung und Winkel „gekoppelt“. Weiterhin besteht über die Bindleistung die Möglichkeit der gezielten Spannungshebung oder Senkung, die in der Hoch- und Höchstspannung zu entsprechend großen, übertragbaren Momentanleistungen translatiert.
Und das geht auf niedrigen Spannungsebenen, insbesondere an der 400 V, physikalisch nicht. Das Verteilnetz (Ortsnetz) besteht meist aus Erdkabeln oder eng liegenden Leitungen mit relativ geringem Querschnitt. Die Folge ist, dass hier der ohmische Widerstand dominiert und die Induktivität nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Die oben genannten Abhängigkeiten gelten hier nicht, mehr noch, in einem „resistiven Netz“ (ohm’sch dominiert) drehen sich die Abhängigkeiten um.
Hier gilt näherungsweise, dass der Wirkleistungstransport einen Spannungsabfall oder Anstieg (je nach Betrachtungsrichtung) erzeugt. Käme man im 400 V Netz auf die Idee, Leistungstransport über den Winkel zu steuern, dann passiert nahezu nichts, da das das X des Systems zu klein ist, um als Hebel zu wirken. Stattdessen treibt jeder Versuch, Wirkleistung durch die Leitung zu pressen, sofort die Spannungshöhe in die Höhe. Das zulässige Band von +- 10 % nach DIN wird schnell verletzt. Da R hier groß ist, schlägt der Wirkstrom direkt auf die Spannung durch. Dieser physikalische Zusammenhang lässt sich nicht aushebeln.
Hinzu kommen die massiv steigenden Übertragungsverluste, die exponentiell in die Leistungsbilanz eingehen.
Bekanntermaßen ist die physikalische Formel für die Wirkleistung , die Leistung ist das Produkt aus Spannung und Strom. Hieraus resultiert reziprok, dass mit sinkendem Spannungsniveau die resultierenden Ströme I immer größer werden.
Die Verlustleistung ergibt sich weiterhin aus der Formel , in einem vom ohm’schen Widerstand dominierten System.

interessant,aber praxisrelevant?