
Es gibt zwei Arten von Büchern, die ich gern lese: die, die mich intellektuell überzeugen und die, die mich am Herzen packen. Oststolz von Alexander Prinz gehört für mich eindeutig zu Letzteren. Ich halte es für eines der wichtigsten Werke der deutschen Gegenwart, weil es nicht nur analysiert, sondern auch spürbar macht, wie es ist, im Osten nach der Wende großgeworden zu sein. Dabei geht seine Botschaft noch so viel tiefer und weiter. Ganz ohne Schwachstellen kommt aber auch Prinz nicht aus.
Prinz erzählt von seinem Aufwachsen in einem ostdeutschen Dorf in Sachsen-Anhalt, von tatsächlicher Armut, Unsichtbarkeit und den stillen Brüchen in Biografien. Dabei wählt er nicht den lauten, empörten Ton, der so viele Debatten bestimmt, sondern eine persönliche, stellenweise nachdenkliche Erzählweise. Das macht dieses Buch so wertvoll: Es ist ehrlich, nahbar, und es nimmt den Leser mit, ohne ihn zu belehren. Genau das gefällt mir außerordentlich gut.

Parallelen zu anderen abgehängten Regionen
Und obwohl ich selbst ein „Nordi“ bin, habe ich beim Lesen immer wieder gemerkt, dass mir manches vertraut vorkommt. Natürlich nicht deckungsgleich, nicht in der Schärfe, in der Prinz es beschreibt, aber die Mechanismen kenne ich doch, auch aufgrund meiner Arbeit: das Leben der Menschen in abgehängten Regionen, fehlende Perspektiven, ein permanentes Gefühl des Zurückbleibens im Vergleich zu den glänzenden, gehypten Metropolen. Auch im Norden gibt es diese strukturschwachen Gegenden, in denen man die gleichen Muster beobachten kann – wenn auch nicht in der Ausprägung, die Prinz schildert. Das ist dann eben doch der Unterschied, ob man zur Bundesrepublik oder zur DDR gehörte, vor 1990.
Überhaupt die DDR: Prinz ist 1994, also erst nach ihrem Zusammenbruch, geboren worden und kann sie entsprechend auch nicht mehr aus eigener Sicht heraus beurteilen. Trotzdem schafft er es immer wieder, die geschichtlichen Bögen zu spannen zwischen dem, was die DDR tat und war und dem, was heute ist. Dabei sind seine Schlussfolgerungen und Analysen nachvollziehbar und – aus meiner eigenen Sicht heraus – wohl auch die richtigen. Denn, dass wir, die „Wessis“, eben keine Vereinigung zweier Deutschlands versucht haben, sondern stattdessen die DDR der Bundesrepublik schlicht anschlossen, hat sich letztlich als fataler Fehler erwiesen. Warum? Da greife ich dem Autor nicht vor und ermutige lieber dazu, das Buch zu lesen – Prinz erklärt es so, dass man selbst als überzeugter Westgeborener nicht drumherumkommt, ins Nachdenken zu geraten.
Kluge Analysen, ohne laut zu werden

Was mir natürlich besonders gefällt (und was eigentlich nur eine Randnotiz sein sollte): Uns verbindet die Liebe zum Metal. Prinz beschreibt, wie diese Szene für ihn ein Zuhause geworden ist – und genau das kann ich nur unterstreichen. Auch ich habe dort einen Heimathafen gefunden, in dem man mit all seinen Eigenheiten einfach dazugehört. Die Metalszene ist komplex, vielfältig und voller Gegensätze, aber gerade darin liegt ihre Stärke: Man wird so angenommen, wie man ist, ohne Vorbehalte, ohne Schubladen. Dieses Gefühl der Gemeinschaft, das wir beide kennen, schwingt in seinen Schilderungen mit und macht das Buch für mich noch persönlicher und bedeutsamer. Auch, dass Prinz selbst hier kritisch bleibt und nicht ins Schwärmen oder Verklären abdriftet. Denn natürlich ist auch die Metalszene kein Paradies. Sie wird gebildet von Menschen, und wo Menschen sind, sind auch ihre Fehler.
Eine Schwachstelle allerdings hat das Buch dann doch: Prinz nimmt sich zwar ausführlich des Themas Rechtsextremismus und Wahlerfolge der AfD an (unaufgeregt, ohne erhobenen Zeigefinger, mit klaren und nachvollziehbaren Thesen zu den Hintergründen), dass im Osten aber nach wie vor die Erben der SED gewählt werden, und das in einem erschreckenden Ausmaß, wird nicht behandelt. Dabei ist die Linke als Rechtsnachfolgerin der SED die Partei eben jener, die letztlich dafür verantwortlich sind, dass der Osten bei der Vereinigung derartige strukturelle Nachteile aufzuweisen hatte. Schade, ich hätte mir hier doch eine ähnlich kritische Aufarbeitung dieses Phänomens gewünscht. Schließlich ist auch das Teil des Komplexes.
Oststolz ist kein lautes Manifest, sondern ein ruhiges, tiefes und ehrliches Plädoyer. Es ist ein Buch, das über den Osten hinausweist und das Verständnis für Menschen in allen abgehängten Regionen unseres Landes schärft – was Alexander Prinz auch beabsichtigte. Das Buch wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Vielleicht macht Prinz ja einmal eine Lesung bei mir in der Region, ich wäre sofort dabei.
