Wann ist es vorher zu spät? Israel und das Völkerrecht

Shahab-3 by Satyar Emami, Fars News Agency cc 4.0

Ist es völkerrechtlich angemessen, den Iran daran zu hindern, Atomwaffen zu bauen? Die einzusetzen er bereit sein könnte, hätte er sie? Ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags referiert Meinungen, die andere haben, schränkt aber ein, „dass sich die rechtliche Bewertung eines Sachverhalts ändern kann, wenn neue relevante Fakten auftauchen“. Das sind sie bereits, nur tauchen sie in dem Gutachten nicht auf. Michael Wolffsohn ebenso wenig.

Ein Gutachten ist kein Urteil, das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages (WD) stützt sich auf eine „völkerrechtliche community“, auf „Völkerrechtskommentatoren und academic scholars“, auf Einschätzungen politischer Akteure und Dutzende in- und ausländische Presseberichte. Der Versuch einer Gesamtschau auf die öffentliche Diskussion mit zwei Einschränkungen, deren eine: In der Bundesrepublik werde die Debatte „‘weitestgehend instrumentalisiert‘“, es gehe mehr um „‘spezifische Befindlichkeiten in Deutschland‘“ als um völkerrechtliche Grundlagen. Die andere: „Bei der rechtlichen Bewertung von Sachverhalten gibt es aufgrund von Interpretationsspielräumen oftmals keine eindeutigen Antworten“, dies gelte auch hier. Klingt anders als das, was etwa die Tagesschau daraus gemacht hat, sie titelte: „Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Angriffe“.

Zweifel hegen die WD in der Tat, allerdings auch daran, dass es Unrecht sei, das iranische Atomprogramm zu stoppen. Hingegen keinerlei Zweifel an der Unrechtmäßigkeit des iranischen Regimes. In diese Melange hinein die erste der drei Fragen, die völkerrechtlich zentral sind:

Ob denn das iranische Regime tatsächlich „fest dazu entschlossen“ gewesen sei, Atomwaffen einzusetzen gegen Israel, wenn es denn Atomwaffen hätte? Die Frage nach der Intention, sie ist hoch spekulativ  –  mhd. speculieren = ‘sich in religiöse Betrachtung versenken‘. Der „oberste Führer“ des Mullah-Regimes, Ayatollah Khamenei, hat niemals daran zweifeln lassen, dass Israel  –  Zitat Khamenei  –  „ein Krebstumor“ sei, „that must be eradicated and it will be“. In Frage stünde aber nun, ob Khameneis Iran auch Atomwaffen hätte einsetzen wollen, um sein Ziel zu erreichen. Antwort der WD: „In den völkerrechtlichen Blogs wird bezweifelt, ob der Iran seine Zerstörungsabsichten zweifelsfrei mit einem atomaren Erstschlag in Verbindung gebracht hat.“ Im Iran werde eine theologische Debatte darüber geführt, sie sei, so die WD, ein „ergebnisoffener Prozess“. Eine „finale und unumstößliche Absicht“, Atomwaffen zu bauen und sie gegen Israel einzusetzen, lasse sich derzeit „nur mutmaßen“. Bis zum Beweis des Gegenteils.

Zweite Frage: Stand der Iran kurz davor, einsatzfähige Atomwaffen zu bauen? Hier fällt das Gutachten der WD hinter den Stand zurück, der öffentlich zugänglich ist. Am 18. Juni  –  die WD haben Presse- und Medienberichte bis 25. Juni ausgewertet  –  erschien im britisch-stämmigen The Economist ein Artikel, den der Berliner Tagesspiegel am 21. Juni und die Jüdische Allgemeine am 23. Juni aufgegriffen haben. Der Economist hatte Zugang zu Geheimdienst-Informationen erlangt, sie stützen die Ansicht Israels, dass der Iran sein Atomwaffen-Programm zuletzt massiv vorangetrieben hat. Einsatzfähige Atombomben bestehen aus drei Komponenten:

  • Trägerraketen, die der Iran zweifellos besitzt (oder besaß), die Shabab-3-Rakete schafft es auch nach Europa.
  • Hochangereichertes Uran, das der Iran ebenfalls hortet, die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) nennt 400 Kilo, sie allein ergäben rund ein Dutzend Atomraketen. Darüber hinaus hat der Iran, das bestätigt jetzt der Economist, eine Menge nuklearen Materials („quantity of nuclear material“) an der IAEA vorbei „beiseite geschafft“.
  • Sprengkopf, in dem beides, Uran-Kern und Trägerrakete, zusammenkommen. Auch an der Entwicklung dieses komplizierten Verbindungsstücks arbeitet der Iran seit Jahren, das Ziel: Implosionsbomben zu bauen nach dem Modell von „Fat Man“, der Bombe, die August 1945 von den USA über Nagasaki gezündet wurde. Wie weit er auf diesem Weg im Rahmen seines streng geheimen Atomprogramms gekommen ist, zeigt ein Dossier von mena-watch, es fasst die Tausenden Dokumente des iranischen Atom-Archivs zusammen, das der israelische Geheimdienst 2018 gekapert hat.

Jetzt aber habe der Iran, dies die Informationen des Economist, den letzten Bauabschnitt eingeleitet, indem er die Atomwissenschaftler seiner „Special Progress Group“ zusammengeschlossen habe mit den „Kommandeuren der Luftwaffe der IRGC, die für ballistische Raketen zuständig sind“. Dieser Schritt sei „genuinely new“ selbst für die Revolutionsgarde (IRGC), die militärisch maßgebliche Macht im Iran, sie sei erstmals über den geheimen Entwicklungsstand unterrichtet worden, „the missile chiefs being let in on the secret for the first time“. Damit aber hätten die „Planungen für den ‚Verbindungsprozess‘ einer nuklearen Waffe mit einem Raketensprengkopf“ begonnen, die drei Komponenten greifen ineinander.

Wie lange würde es dauern, diese letzten Meter zu gehen, um „Waffenfähigkeit“ zu gewinnen? Dies die dritte zentrale Frage, die von den Wissenschaftlichen Diensten des Bundestages verhandelt wird. Nur dass sie just hier, bei dieser faktisch entscheidenden Frage, nicht das getan haben, was sie sonst in ihrem Gutachten tun, sie haben so gut wie keine Informationen und lediglich eine einsame Einschätzung gesammelt, die lautet: „Liegt genügend spaltbares Material vor, so sind bis zum Bau einer Atombombe laut Proliferationsexperten allerdings noch weitere technische Schritte mit einem entsprechenden zeitlichen Entwicklungsvorlauf von ca. ein bis zwei Jahren erforderlich.“ Beleg für diese Zeitansage: ein Beitrag im Organ der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), einer Stiftung, die sich, maßgeblich aus dem Bundeskanzleramt finanziert, selber unabhängig nennt. Um welche Proliferationsexperten es sich handele, lässt die Autorin des SWP, Azadeh Zamirirad, im Dunkel. Vierzehn Monate zuvor hatte sie nicht von „ein bis zwei Jahren, sondern von „sechs bis achtzehn Monaten“ gesprochen.

Wie prekär es ist, sich in einer solchen Frage auf lediglich eine Stimme zu stützen, wie die WD es nun tun, hat wiederum das SWP bewiesen: In Zamirirads Forschungsgruppe arbeitet Muriel Asseburg, fünfzehn Wochen vor 10/7, dem größten Massaker an Juden seit dem Holocaust, hatte sie der Hamas ein „Recht auf Widerstand“ an deren Stirnbänder geheftet. Jetzt heißt es im Gutachten der WD:

„Ein Selbstverteidigungsrecht besteht nach ganz herrschender Auffassung in Wissenschaft und Praxis erst dann, wenn ein Angriff ‚unmittelbar bevorsteht‘.“ Die Gefahr eines Angriffs müsse sich so verdichtet haben, „dass der Angriff nicht mehr bloß hypothetisch ist, sondern als ein konkret vorhersehbarer, gleichsam unabwendbarer Geschehensablauf erscheint.“

Wann ist es vorher gleichsam zu spät? Völkerrechtlich müsse eine 5-vor-12-Situation gegeben seien, schreiben die WD und meinen eine politische Uhr: Alle Mittel der Politik müssten erst „ausgeschöpft“ sein, um den Bau einsatzfähiger Atomraketen zu stoppen  –  nur wie spät ist es bis dahin auf der Uhr eines Militärs?

Diese entscheidende Frage, die militärlogische, verhandeln die WD nicht. Unter den Quellen, die sie nutzen, taucht etwa der Name von Michael Wolffsohn, ausgewiesener Militärexperte und publizistisch präsent, nicht auf. Wolffsohn überblickt einen Geschehensablauf, der vor einem halben Jahrhundert begann  –  das iranische Atomprogramm und die Drohung, Israel auszulöschen, laufen seit 46 Jahren parallel  –  und nun an einem Punkt gekommen ist, der militärlogisch keineswegs neu oder geheimnisvoll ist, wie die NZZ kürzlich schrieben: Das chinesische Atomwaffenprogramm der 60er Jahre habe gezeigt, dass sich die nicht-nuklearen Komponenten, die einen Uran-Kern ummanteln, „parallel zur Anreicherung des Bombenkerns entwickeln lassen. Sobald genügend waffenfähiges Uran vorhanden ist“  –  und das ist bekanntlich der Fall  –  „kann die Bombe binnen drei bis fünf Wochen zusammengebaut werden.“ Eben diesen Schritt, den Uran-Kern in einem Sprengkopf zu verbauen, hat der Iran, den Informationen des Economist zufolge, kürzlich getan und Israel verhindert.

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtigen bei
guest
2 Comments
Älteste
Neueste
Inline-Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
hase12
hase12
4 Monate zuvor

Auffallenderweise kommen die sogenannten Völkerrechtsexperten (oder was sind das für Leute?) immer dann hervor, wenn es gegen die USA oder Israel geht. Es wäre bestimmt mal interessant zu wissen, ob es da wirklich um Völkerrecht geht oder eher um Untermauerung von antiwestlich-antisemitisch-antifreiheitlichen Positionen. Meines Eindruckes nach, handelt es sich um Letzteres.

nussknacker56
4 Monate zuvor

Die „Stellungnahme“ des „Wissenschaftlichen Dienstes“ wurde von dem Abgeordneten Ulrich Thoden (Die Linke) initiiert. Unter dem Deckmantel des WD lässt sich das als „unparteiische Information“ bestens weiterverbreiten.

Man ist aufseiten der Linken immer bemüht, Stimmen von Israelhassern aus den Lagern von Linksextremen, Rechtsextremen und Islamisten abzufischen. Und man ist sich mit diesen einig: Solange nicht mindestens eine Atombombe auf Israel fällt, sind Präventivmaßnahmen ein Vergehen gegen das Völkerrecht.

Und danach muss man den „Kontext“ beachten.

Werbung