
„Unglücklicherweise stand der Krieg bevor. Das einzige Land, in das wir gehen können, ist Israel“, sagt Jakob Finci, Präsident der Jüdischen Gemeinde Bosnien-Herzegowina.
Scannt man den Algorithmus attraktiver Schnäppchenflüge in NRW, findet man sich schnell in der Leserwahl von National Geographic Travel zum weltweit besten Reiseziel für 2025 wieder: Sarajevo. Was steht auf einer Vedutenpostkarte, die junge Menschen 30 Jahre nach Kriegsende versenden?
Die Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas liegt idyllisch inmitten eines grünen Bergkettenrings sowie auf einem studentischen Low-Cost-Niveau weltlicher Genüsse. Klappernde Kaffeekupferkännchen, aus denen sämig schwarzes Trinkgold fließt, ein Hauch würzig-herbaler Aromanoten osmanischen Tabaks oszilliert vor Wandteppichen, leuchtende Granatäpfel strecken sich exotischen Gaumenfreuden entgegen und Fleischplatten satt sind für gerade mal einen Zehner bei free Wifi im gesamten Stadtkern zu haben.

Im „Jerusalem des Balkans“ gesellen sich Minarette, Kirchtürme und Davidstern konziliant zueinander. Die jüdische Gemeinde genießt hohe Anerkennung, wenn man es an den Worten des Botschafters der Republik Bosnien und Herzegowina in Berlin, H.E. Damir Arnaut, misst: „Die jüdische Gemeinde ist ein integraler Bestandteil des multikulturellen Charakters Sarajevos, das vier Glaubensrichtungen und ebenso viele Gotteshäuser in einem Umkreis von wenigen hundert Metern umfasst. Ihre Wurzeln reichen bis ins Jahr 1492 zurück, als Juden während der Inquisition aus Spanien vertrieben wurden und in Bosnien und Herzegowina einen sicheren Zufluchtsort fanden.“

Dem Bosnienkrieg ging durch den Zerfall Jugoslawiens die Unabhängigkeitserklärung Bosnien-Herzegowinas 1992 voraus. Bis heute gibt es verminte Bergabschnitte. Ottobock, ein deutscher Prothesenhersteller, hat ein Standbein vor Ort.
So friedlich die neue wirtschaftliche Blüte der Hauptstadt scheint, so mahnend spiegeln die Narben in den Häuserfassaden ihre militärstrategische Lage wider. Scharfschützen der Armee der Republika Srpska nutzten das Safaripanorama, um auf der sog. Sniper Alley oder auf den Brücken über der Miljacka auf Zivilisten zu schießen.

Dort am südlichen Flussufer liegt die 1902 erbaute Synagoge der Aschkenasim. Aus Mitteleuropa und Osteuropa wanderten sie Anfang des 19. Jahrhunderts zu, sprachen nur ein seltsames Jiddisch, beteten aber wie die Sepharden. Finci wächst als mehrsprachiges Talent hingegen mit der südosteuropäischen Tradition auf: „Meine Großmutter sprach nur Ladino, besonders in der Küche.“

Wie überlebt man im Krieg, wenn Strom, Gas und jede andere Energiequelle abgestellt wurden? „Um das Mittagessen zuzubereiten, braucht man Feuer. Buchläden wurden geplündert. Man brauchte zwei Bücher, von Marx und Engels, um problemlos seine Bohnen zuzubereiten“, zwinkert Finci.
In einem italienischen Konzentrationslager auf der Insel Rab 1943 geboren ergreift er als Überlebender des Holocaust gezielte Gegenstrategien. Anfang 1991 meldet Finci nach einer Gesetzesänderung La Benevolencija in der Trägerschaft der jüdischen Gemeinde erneut an, die als wohltätige NGO schon seit 1892 bestand. Denn nach dem Krieg 1945 herrschte Sozialismus und es waren nur Arbeiter-, Frauen- und Studentenorganisationen erlaubt.
Mit Informationen aus dem Ausland begann Finci die jüdische Gemeinde auf den Krieg vorzubereiten. Besonnen verschickt er Ende 1991 einen Brief an alle Mitglieder. Beim Innenministerium gingen danach 400 Anträge auf Ausreisevisa für Israel ein, gut ein Drittel der Gemeinde. „In der Lokalzeitung stand ein Artikel, in dem es hieß, wenn Juden die Stadt verlassen, ist das ein schlechtes Zeichen“, fügt Finci hinzu.
Umgehend wird ein Kindertransport eingeleitet, wie es Sir Nicholas George Winton mit jüdischen Kindern kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieg aus Prag nach London organisiert hatte. Es gelingen drei Evakuierungen per Flugzeug, von Belgrad nach Budapest und von Budapest nach Tel Aviv. Bereitwillig zahlt Finci der jugoslawischen Armee ihren Preis in Dollar.
In der Synagoge organisiert er die Ausgabe von lebensnotwendigen Medikamenten. Finci erzählt, dass ein Palästinenser darauf aufmerksam wurde, der mit einem Stipendium des jugoslawischen Staatschefs Tito ins Land kam: „Ihr seid Juden und ich bin Palästinenser. Wir sind fast verwandt. Es wäre sehr gut, eine Apotheke in meinem Krankenhaus zu eröffnen, weil die Menschen aus Dobrinja hinter dem Flughafen eure Apotheken am Flussufer nicht erreichen können.“
Finci erklärt sich bereit zu helfen, stellt aber im philanthropischen Geiste von La Benevolencija klar: „Kein Problem, aber wir haben einige Bedingungen. Erstens: Frag nicht, wer du bist, frag nur, wie wir dir helfen können. Zweitens: Wir erhalten all diese Medikamente kostenlos, und du solltest sie kostenlos abgeben. Und drittens: Gib den Namen der Person an, der du etwas gegeben hast, damit wir unseren Spendern berichten können, was wir mit den Medikamenten gemacht haben.“
Mit einem Handschlag wird die dritte jüdische Apotheke im belagerten Sarajevo besiegelt, die gegenüber dem Nationaltheater auf der anderen Flussseite seitdem von Palästinensern betrieben wird.

Jüdische Personen, allen voran Emerik Blum und Jakob Finci, waren Gärtner der Blüte Sarajevos, bevor der Bosnienkrieg ausbrach. „Ihr Beitrag zur kulturellen, künstlerischen, sprachlichen, politischen, wissenschaftlichen und jeder anderen Sphäre der Stadt war enorm“, ästimiert Arnaut. Im sozialistischen Alltag berät Finci als Jurist 20 Jahre lang Blum, auch ein Überlebender des Holocaust. Mit seinem Unternehmen Energoinvest kultivierte Blum mitten im Titoismus Wohlstand und prägte einen philanthropischen Zeitgeist, der seinesgleichen sucht. Die Regisseurin Jasmila Žbanić widmete seinem visionären Wirken 2024 eine Retrospektive. Zusammen mit Blum gelingt es Finci, die Olympischen Spiele 1984 in Sarajevo auszurichten und die Welt blickt auf diesen kleinen Fleck des Balkans.
Heute, 30 Jahre später, bleiben Konflikte ungelöst. Das Staatspräsidium besteht seit dem Dayton-Abkommen zur Wahrung des ethnischen Gleichgewichts aus einem Vertreter der Bosniaken (meist muslimisch), einem der Kroaten (meist katholisch) und einem der Serben (meist orthodox).
Eine ideale Perspektivierung zeige in den Augen Arnauts Sarajevo als Teil eines NATO- und EU-Mitgliedsstaates mit einer weiteren erfolgreichen Olympiade im Rücken. Der Botschafter in Berlin rekurriert auf das Vermächtnis Fincis, selbst ehemaliger Botschafter in Zürich: „Sarajevo soll auch ein Ort sein, an dem meine Kinder für ein Amt kandidieren können, anstatt – allein aufgrund ihres gemischten ethnischen Hintergrunds – immer noch Diskriminierungen ausgesetzt zu sein, wie sie die Welt seit der Apartheid nicht mehr gesehen hat.“ 2019 vor dem Europäischen Gerichtshofs zwar von Finci federführend nach dem Grundsatz der Gleichheit für alle Bürger der Republik Bosnien und Herzegowina erstritten, ist die politische Teilhabe auch von Juden im höchsten Amt des Landes noch immer nicht ausbuchstabiert.

Krieg, Krieg, schon wieder Krieg. Während in Berlin ein Polizist von pro-palästinensischen Demonstranten bei ihrer Nakba-Kundgebung fast totgetrampelt wird, werden auch in Sarajevo Wassermelonen-Lutscher unter der Flaggenunion Palästinas und der Türkei verkauft, gleich gegenüber der ehemaligen Nationalbibliothek Vijećnica.

Kriegspropaganda zu Gaza findet längst auch auf Social Media statt. Aktivistisches Meinungswissen, was ein Genozid hier ist und dort sei, werden von identitätspolitischen Influencern wie Melina Borčak, großzügig dekoriert mit deutschen Stipendien, in das Ringlicht gebetet. Als eine Art Balkan-Version von Emilia Roig werden Herrschaftslogiken postkolonial mit einer Prise Aggro-Feminismus auf Instagram derartig aufgeladen, dass Geschichtsrevisionismus zum eigenen Geschäftsmodell avanciert.

Jakob Finci erklärt indes als Zeitzeuge und Träger des Bundesverdienstkreuzes: „Alles begann am 7. Oktober. In Bosnien versuchen wir, jedes Problem zu lösen, indem wir Kaffee trinken und diskutieren. Am 10. Oktober trank ich Kaffee mit unserem Großmufti von Bosnien. Wir gaben eine gemeinsame Erklärung ab: ‚Der Krieg im Nahen Osten ist kein Krieg zwischen Juden und Muslimen. Es war nicht einmal ein Krieg zwischen Israel und Palästina. Es ist ein Krieg zwischen Israel und der Hamas, und die Hamas ist eine Terrororganisation, Punkt.‘“

[…] 12.Juni veröffentlichte Ruhrbarone eine Reisereportage über die Stadt auf dem Balkan, deren jüdisches Leben bis tief ins 15. […]