
Ausgerechnet in Sarajevo, dem sog. „Jerusalem des Balkans“, wurde die Europäische Konferenz der Rabbiner (CER) kurz vor knapp gecancelt. Spanische, französische, deutsche, schwedische, chinesische und amerikanische Stimmen tummeln sich fasziniert im Gewimmel des Basars in der Altstadt von Sarajevo – eine vielstimmige Gleichzeitigkeit auf europäischem Boden, mit der sich Sarajevo als multiethnisches Herzstück Bosnien-Herzegowinas um einen Beitritt in die EU bemüht.
„Eine Schande“ wird Pinchas Goldschmidt in der Jüdischen Allgemeinen zitiert, gepaart mit dem freundlichen Hinweis auf die Werte und die Grundrechtecharta der Europäischen Union. Kurzerhand wird der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz und Träger des Aachener Karlspreises 2024 sowie mit ihm ein Dutzend europäischer Rabbiner vor vollendete Tatsachen gestellt, fünf Tage vor dem geplanten Konferenztermin.
Die Einheimischen Sarajevos zeigen sich gewöhnlich gastfreundlich. Ihre zurückgewonnene Heimat seit dem Beschuss durch Scharfschützen der Republika Srpska und ihrer ethnischen Säuberung wie in Srebenica soll der Welt 30 Jahre nach dem Bosnienkrieg zugewandt wieder offenstehen. Was ist also Mittel und Zweck, die höchsten Vertreter jüdischen Glaubens an dem Ort auszuladen, der pars pro toto für interreligiösen Dialog stehen will?
Am 12.Juni veröffentlichte Ruhrbarone eine Reisereportage über die Stadt auf dem Balkan, deren jüdisches Leben bis tief ins 15. Jahrhundert verwurzelt ist. Einen Tag zuvor, am 11. Juni gab der Betreiber des Swisshotel als Veranstaltungsort den betroffenen Rabbinern schriftlich bekannt, dass man auf Anweisung der Behörden die Sicherheit der Mitarbeiter, des Gebäudes und der Gäste nicht garantieren könne.
Auslöser war ein offener Brief von Adnan Delić, einem Arbeitsminister Bosnien-Herzegowinas. Darin bezeichnet er Israel als „völkermörderisches Gebilde“ (engl., genocidal entity). In derselben Pressemitteilung des CER wurde gleich kurz nach der Ausladung durch Sarajevo der neue Austragungsort bekannt gegeben: München – ja da schau an!
Von Regierungsseite, und hier stehen seit dem Dayton-Abkommen im trilateral geführten Präsidium gleich mehrere zur Auswahl, wartet man vergeblich auf eine offizielle Stellungnahme.
Keine 48 Stunden nach diesem politischen Versagen Sarajevos ergreift dafür der Großmufti Bosnien-Herzegowinas das Wort. Reis Kavazović zeigt sich über das Vorgehen des Arbeitsministers und weiterer Funktionäre verwundert: „Ich wusste nichts von dem Ereignis. Wenn jemand böse Absichten gegenüber dieser Stadt, Sarajevo, hatte, dann hat er sie perfekt umgesetzt.“ Zusammen mit Jakob Finci, dem Präsidenten der Jüdischen Gemeinde Bosnien-Herzegowinas, hatte der Großmufti noch im Januar 2024 eine muslimisch-jüdische Friedensinitiative initiiert.

Ein Schadensrisiko, das auf keiner profunden Herleitung gründet, sondern sich einer aktivistisch motivierten Parole („genocidal entity“) bedient, scheint auch in Sarajevo ein probates Mittel zum Zweck, besser bekannt als „Cancel Culture“. Wer zuerst „Genozid“ – oder Aua – schreit, hat schon recht. Dabei wäre Demut vor genau jener Entität geboten. Weder Delić noch all die anderen blauhaarigen „Aktivist:innen“ auf Social Media scheinen die Begriffsgenese zu kennen, wodurch sie erst bei ihrem inflatiönaren Geraune ein identitätspolitisches Totschlagargument verschwurbelt instrumentalisieren können.
Es ist dem jüdischen polnischen Juristen Raphael Lemkin (1900-1959) zu verdanken, mit dem Begriff „Genozid“ die Singularität der Shoah überhaupt mit einem Wort und auch juristisch fassen zu können. Ein definitorischer Gehalt im Übereinkommen der UNO von 1948, von dem alle Völker danach profitieren würden, so auch gerade Bosnien-Herzegowina. Aus pädagogischer Sicht wissen wir, dass sich eine präzise Begriffsbildung, oder besser noch Bildung im Allgemeinen, vom Konkreten zum Abstrakten nur in Stufen entwickelt. Der Schaden für Land und Leute ist jedenfalls angerichtet.
Damir Arnaut, Botschafter von Bosnien und Herzegowina in Berlin, ordnet den Vorfall samt politischer Konsequenzen angesichts des neuen Austragungsortes der CER in München wie folgt ein:
„Als Minister für Arbeit und Soziales, noch dazu auf subnationaler Ebene, hatte Delić in dieser Angelegenheit gar nichts zu sagen. Er wäre besser beraten gewesen, wenn er versucht hätte, die sogenannten Bleiburg-Gedenkfeiern für die mit den Nazis verbündeten kroatischen Ustascha-Soldaten zu verhindern, die oft im herzegowinischen Teil des Landes abgehalten werden, oder sich für die Umbenennung von Straßen, Schulen und anderen Orten einzusetzen, die diese Kollaborateure ehren. Stattdessen hat er selbst unverhohlenen Antisemitismus betrieben. Zwar kann und will er nicht im Namen des Staates Bosnien und Herzegowina sprechen, doch haben Delićs hasserfüllte Äußerungen unmittelbar zur Absage einer Konferenz geführt, die in der besten Tradition des multireligiösen Charakters und der Toleranz Sarajevos gestanden hätte. Der Schaden, den er der Stadt und dem Land zugefügt hat, ist schwerwiegend, und seine Entlassung durch den Premierminister der Entität oder Delićs Parteichef wäre angemessen. Ebenso hoffe ich, dass die Konferenz bald nach Sarajevo kommt und den authentischen Charakter der Stadt zeigt, der im direkten Gegensatz zu Delićs bigotten Äußerungen steht.“

An das historische Erbe Bosnien-Herzegowinas erinnert sich auch der Holocaust Überlebende Jakob Finci, als einziger seiner Familie außerhalb Sarajevos auf der Internierungsinsel Rab geboren: „Die italienischen Faschisten waren ein geringeres Übel als die barbarischen Uštasa.“ Sie ermordeten aus freien Stücken Zehntausende Juden, Serben und Roma. Vor der Shoah lebten gut 12.000 Juden in Sarajevo. Gerade mal 800 sind es heute. Und es war Finci, der während des Bosnienkrieges mit der Hilfsorganisation La Benevolencija stellvertretend alle Kräfte in der Jüdischen Gemeinde mobilisierte, um Kindern, Kranken und Alten unabhängig von Ethnie, Religion und sozialer Herkunft lebenswichtige Medikamente oder einen Transport raus aus dem Kugelkessel zu organisieren. Ja, eine Schande!

Auch Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft e.V., sieht Bosnien-Herzegowina in einer Bringschuld und äußert eine überfraktionelle Würdigung:
„Ein trauriger Vorgang, ein Verrat der Werte der Aufklärung der Europäischen Union. Gut, dass München dagegen ein Zeichen setzt. Wer die Europäische Rabbinerkonferenz wegen Kritik an Israels Kriegsführung auslädt, ist entweder ein waschechter Antisemit oder ein feiger Opportunist. Wir in Deutschland haben auch jede Menge Probleme mit Antisemitismus, aber so etwas würde wohl unter keiner demokratischen Partei in Deutschland passieren. Man muss auch als Grüner anerkennen, dass die Union hier besonders klar ist, gerade auch in Bayern. Ein Vorbild für andere.“
In der Tat, wer sich im politischen Geschäft und mit dem speziellen konjunktivistischen Wesen – „hätte, müsste, könnte“ – deutscher Leitkultur auskennt, muss Markus Söder in diesem Fall als Macher statt als Schnacker gebührenden Respekt zollen. Es ist ein veritables Kunststück, das dem bayerischen Ministerpräsidenten und all den daran beteiligten, blitzgescheiten Kräften im Regierungsstab gelungen ist. Innerhalb weniger Stunden steht die Hauptstadt des bayerischen Kleinstaates mit Großmut entschlossen zusammen und heißt die europäischen Rabbiner bei sich willkommen. Hätte – an dieser Stelle sei ein Konjunktiv mehr erlaubt – Markus Söder nicht schon im Mai 2023 den Jakobovitz Preis der CER erhalten, ihm gebührten noch drei mehr. Denn das, und nur das ist Gastfreundschaft. Das, und nur das ist anständig.
Und während Delić sein gesamtes Land brüskiert und es für jüdische Gäste verschließt, öffnen sich gleichzeitig Chancen für andere. Zwischen Ist- und Soll-Zustand zeigt sich ein Spalt, in den sich Serbien nur allzu bereit pflanzt. Als wäre die Schande für ein so stolzes Volk wie Bosnien-Herzegowina nicht schon groß genug, meldet sich Marko Đurić, seit 2024 als Außenminister Serbiens im Amt, bei Pinchas Goldschmidt, und bietet den einstigen Aggressorstaat als Boden des friedlichen Zusammenhalts für die CER an; ein Nachspiel mit Ansage.
Ende gut, alles gut? Bayern wird als Gastgeber für die Konferenz Europäischer Rabbiner brillieren und eine Herzlichkeit an den Tag legen, die man sonst nur aus dem Süden Europas kennt. Erleichtert schaut CER-Geschäftsführer Gady Gronich auf das, was ist:
„Wir fühlen uns in München sicher und zu Hause.“
In eigener Sache: Nach einem Jahr vieler Stunden ehrenamtlicher freier Presse fühlt sich genau dieser Beitrag als runder Abschluss bei den Ruhrbaronen an. Allen Lesern, Gesprächspartnern und insbesondere Stefan Laurin sage ich dankend: Bussi & Pfiati!