Spurensuche nach einem vergessenen Visionär: Jasmila Žbanić würdigt Emerik Blum

Jasmila Žbanić und Anna Maria Loffredo im Gespräch, Foto: Anna Maria Loffredo

Es gibt Schicksale, die einem das kalte Grauen über den Nacken laufen lassen. Und es gibt Schicksale, die uns zuversichtlich mahnen, über unser eigenes Sein hinaus Demut vor dem Sinn des Lebens zu empfinden. Den Holocaust überlebt geht Emerik Blum zurück in seine Geburtsstadt Sarajevo oder wie man es auch nennt: „Little Jerusalem.“ Im Land des Titoismus gibt es nichts, nicht mal eine befahrbare Straße. Blum gründete 1951 das Unternehmen Energoinvest, das er mit Innovationsgeist und sozialer Verantwortung zu einem internationalen Industriegiganten im sozialistischen Jugoslawien aufbaute. Der Botschafter H.E. Damir Arnaut hat zu einem Screening während des Jüdischen Filmfestivals Berlin-Brandenburg in den Kinosaal geladen, das vom 6. bis zum 11. Mai stattfindet. Mit der preisgekrönten Regisseurin Jasmila Žbanić habe ich darüber gesprochen, was wir in Sachen Menschlichkeit über politische Systeme hinaus von dem Philanthropen Blum heute lernen können.

Anna Maria Loffredo: Wie hast Du Emerik Blum entdeckt, um darüber einen Film zu machen?

Jasmila Žbanić: Jeder, der vor dem Krieg in Sarajevo geboren wurde, hörte von Emerik Blum, weil er eine so wichtige Figur für die Stadt und die Wirtschaft unseres Landes war. So wie ihr vielleicht wusstet, dass es Rosa Luxemburg gab. Das ist ein Teil der Erinnerung. Aber als ich anfing zu recherchieren, wurde mir klar, dass ich fast nichts weiß. Ich kannte nur die oberflächlichen Dinge. Aber wenn man tiefer geht, haben wir unglaubliche Dinge entdeckt. Der Film zeigt nur ein Prozent dessen, was er getan hat und wer er war.

Anna Maria Loffredo: Ich kannte ihn ja auch nicht und bin nun dankbar über Deinen Film.

Jasmila Žbanić: Er hat die Gesellschaft zum Besseren verändert. Es ist unglaublich, dass er immer fünf Schritte vorausgedacht hat, wie er das Leben der Menschen verbessern und einen großen Fortschritt machen kann. Diese Energie von Emerik Blum hat uns durch den ganzen Film getragen, besonders aus der Perspektive des heutigen Bosniens. Das ist eines der ärmsten Länder in Europa.

„Dieser Film zeigt eine Idee von Arbeit, dass alles, was geschaffen wurde innerhalb der Unternehmen, wieder zurück in die Gesellschaft fließen sollte, dass die Arbeit an erster Stelle war, das aber Kunst und Kultur eine sehr wichtige Rolle dabei spielten. Das sind Werte, die wir heute eigentlich auch in Berlin vertreten wollen, aber nicht umsetzen können.“

(Maja Gebhardt, Kulturmanagerin, Literaturkritikerin und Balkanexpertin)

Anna Maria Loffredo: Ich stimme dem voll und ganz zu, denn seine Art des „Longterm Thinking“, das ist sozusagen das „Cathedral Thinking“, indem er etwas schaffen wollte, das über seinen Tod hinaus Bestand hat, gehört auch zu einer guten Führungspersönlichkeit [engl., „Leader“].

Jasmila Žbanić: Ich habe das Gefühl, dass er sich nie als Anführer, gar „Führer“ sehen würde.

Anna Maria Loffredo: Ja, weil er gleichzeitig so bescheiden war.

Jasmila Žbanić: Er hat nie nach Anerkennung gestrebt, wie im Film zu sehen, wenn man ihn fragte: „Wie geht es Ihrer Firma?“ Er wiederholte ständig: „Es ist nicht meine Firma.“

Anna Maria Loffredo: Vielleicht ist er vielmehr ein energetischer Magnet, kein „Anführer“.

Jasmila Žbanić: Genau wie in der Chemie.

Anna Maria Loffredo: Dein Film fordert Zuschauer gleich zu Beginn heraus, weil in den ersten drei, vier, fünf Minuten mindestens drei Sprachen gesprochen werden. Wie schwierig war es, in 45 Minuten einen eigenen Höhepunkt in der Erzählweise zwischen den Sprachen zu entwickeln?

Jasmila Žbanić: Wir haben eine Menge Zeit in den Schnitt investiert, bei dem wir verschiedene Dinge ausprobiert haben. Als erstes haben wir Interviews mit allen Protagonisten geführt und die Storyline aus diesen Interviews übernommen. Und dann wollten wir das, was sie uns erzählt haben, entweder durch das Archiv besser beschreiben oder ergänzen. Das fügt für das Publikum eine weitere Schicht in der Zeitatmosphäre hinzu. Wenn man einen Film über die Vergangenheit macht, gibt es eine Menge Fakten, die man nicht kennt. Es war wichtig, dass wir den Geist der Zeit akzeptieren und fühlen.

Anna Maria Loffredo: Bei dem Found Footage (dt., gefundenes Filmmaterial) hattest Du Glück, dass Du drei Erzählperspektiven über und mit Blum für Deine Erzählung kombinieren konntest, Archivmaterial, die Interviews und sogar Selbstaussagen von Blum.

Jasmila Žbanić: Wir haben viele Tests durchgeführt, nachdem wir die Bearbeitungsversionen erstellt hatten, vor allem mit jungen Menschen. Wir haben sie ins Kino eingeladen, um den Film zu sichten und uns zu sagen, was sie denken, weil sie nichts über diese Zeit wissen. Wir versuchten, die Lücken zu ergründen oder den Rhythmus anders zu gestalten.

Anna Maria Loffredo: Es geht nicht nur um die Vergangenheit, es geht auch um das Heute.

Jasmila Žbanić: Der Kapitalismus frisst uns auf. Was sind die Alternativen? Und jeder Raum seiner Denkweise bot eine Alternative, die wir heute nicht voraussetzen können. Wir können darüber nachdenken, was sind die großen Dinge, die er und natürlich auch das ehemalige Jugoslawien erreicht haben.

Anna Maria Loffredo: Ist das nicht eine heikle Sichtweise, weil insbesondere in Deutschland eine Verklärung kommunistischer Gesellschaften wie der ehemaligen DDR schnell naheliegt?

Jasmila Žbanić: Wir wissen am meisten über den Sozialismus, der nicht funktioniert hat. Was Emerik Bloom und eine Menge Leute in Jugoslawien gemacht haben, war völlig unbekannt – und es war erfolgreich.

Anna Maria Loffredo: Zugegeben, eine Art Pionierdenken.

„Junge Menschen aus Bosnien werden im Film ihr Land gar nicht wiedererkennen: Es sieht so aus als ob von 50 Jahren in die Zukunft gesprochen wird, dabei ist es 50 Jahre in der Vergangenheit.“

(Emir Julius Adler, Senior Software Ingenieur und KI-Entwickler)

Jasmila Žbanić: Als 1948 beschlossen wurde, nicht Teil des Ostblocks zu sein, musste Jugoslawien etwas Besonderes erfinden, um nicht wie Russland zu sein. Das war die Zeit, als die Selbstverwaltung [engl., self-management] als originelle Idee eingeführt wurde.

Anna Maria Loffredo: Dieser Gedanke des Self-Managements ist mir nicht fremd aus der Sicht einer ehemaligen Lehrerin, weil eines der Hauptziele ist es, Schüler zu einem hohen Grad an Selbstorganisation zu begleiten, um Autonomie und Entscheidungsfreude zu fördern.

Jasmila Žbanić: Für mich war es bis jetzt die demokratischste Sache, an der jedes Mitglied der Gemeinschaft teilnehmen konnte, und das ist wirklich etwas Besonderes.

H.E. Damir Arnaut, Botschafter von Bosnien & Herzegowina, und Anna Maria Loffredo beim Screening der Botschaft im Delphi Lux Berlin, Foto: Anna Maria Loffredo

 

Anna Maria Loffredo: Eine Sache ist wirklich wichtig über Emerik Blum zu wissen, nämlich seine Erfahrung als Überlebender des Holocausts. Als ich deinen Film beim Screening der Botschaft Bosnien & Herzegowina gesehen habe, wäre mir zunächst bis zur Mitte des Films gar nicht aufgefallen, dass er diese traumatische Erfahrung gemacht hat. Du wählst nur zwei Minuten intimer Erinnerung, als er die Szene mit dem Kind berichtet, das von einem SS-Mann an den Beinen mit dem Kopf gegen die Wand geschleudert wurde.

Jasmila Žbanić: Wir waren im Schneideraum und haben verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, wie wir es vielleicht am Anfang sagen sollten, damit die Leute wissen, dass er das Trauma mit in sein neues Leben bringt. Aber dann dachten wir, dass er ein so menschliches System geschaffen hat, ein so wunderbares Unternehmen mit Energoinvest, das extrem erfolgreich war. Danach erfahren wir, dass er ein Holocaust-Überlebender war. Er hat seine Familie nie wiedergefunden. Er war allein auf der Welt. Er hat diese schreckliche Erfahrung nicht in etwas Bitteres verwandelt, das ihn blockiert, denn auch wir haben den Krieg überlebt. Ich war während des Krieges in Sarajevo und viele Menschen wurden zu passiven Opfern.

Anna Maria Loffredo: Er war mitfühlend und um das Wohl aller besorgt.

Jasmila Žbanić: Er war nicht nur ein erfolgsorientierter CEO, sondern auch ein Mensch, der mit den Menschen verbunden war, der sich im Sport und in der Kunst engagierte, der Basketballspieler und Filmregisseure unterstützte.

Anna Maria Loffredo: Er verkörperte die Idee von Philanthropie.

Jasmila Žbanić: In Bosnien ist ja alles gemischt, also neben Juden und Christen gibt es auch bosnische Muslime. Als wir anfingen, den Film zu zeigen, rief mich ein Freund, der religiöser Muslim ist, an und sagte, am Freitagsgebet hat der Priester in mehreren Moscheen den Film über Emerik Blum hervorgehoben, dass sie alle ins Kino gehen sollen, weil er das Beispiel von Nächstenliebe ist, dem wir alle folgen sollten.

Anna Maria Loffredo: Das nennt man wohl eine universelle Würdigung.

Jasmila Žbanić: Wo sonst auf der Welt sagt der Priester in einer Moschee, dass man einem Juden folgen soll. Er ist unser Licht, den wir als eine der wichtigsten Personen der bosnischen Geschichte respektieren sollten.

Anna Maria Loffredo: Sein holistischer Blick war beeindruckend.

Botschafterin der Republik Chile I.E. Magdalena Atria beim Q&A mit Jasmila Žbanić und Botschafter H.E. Damir Arnaut, Foto: Anna Maria Loffredo


„I liked most that it recovers parts of history that had been silenced and forgotten.

And it gives account of good experiences in many countries such as in Yugoslavia or Chile a couple of decades ago. As Jasmila said, nowadays we need to recover the memory in order to think of alternatives.“

(H.E. Magdalena Atria, Botschafterin der Republik Chile)

Jasmila Žbanić: Er kaufte für seine Arbeiter Eintrittskarten für Theater- und Kinobesuche, er brachte ein Symphonieorchester in die Firma direkt neben die Arbeitsmaschinen, damit die Arbeiter es hören konnten. Ohne Kultur und Kunst sind wir keine vollwertigen Menschen.

Anna Maria Loffredo: Wo kann man Deinen Film heute oder morgen noch sehen?

Jasmila Žbanić: Er wird heute und morgen beim Jüdischen Filmfestival Berlin-Brandenburg gezeigt. Heute um 15 Uhr ist die nächste Vorstellung.

Anna Maria Loffredo: Definitiv sehenswert.


Poster des Films „BLUM – Masters of their own destiny“, Foto: Anna Maria Loffredo

 

(Das Interview wurde auf Englisch gehalten und für diesen Beitrag von der Autorin übersetzt.)

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