Aladin El-Mafaalani: „Die emanzipatorischen Bewegungen haben alles bekämpft, was gesellschaftlichen Zusammenhalt erzeugt hat“

Aladin El-Mafaalani Foto: Mirza Odabaşı Lizenz: Copyright

Der Dortmunder Soziologen Aladin El-Mafaalani ist der Ansicht, das fast alles was die Gesellschaft bislang zusammengehalten hat, weggebrochen ist. Die zukünftige Entwicklung ist für ihn vollkommen offen.

An die 200 Menschen war am vergangenen Sonntag im idyllisch gelegenen Haus Villigst, zum Auftakt der Sommerakademie der Begabtenförderungswerke zusammengekommen um über die Frage „Welchen Wert hat die Demokratie?“ zu diskutieren. Nach Grußworten, unter anderem von Abraham Lehrer, dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland und einem kurzen Einführungsvortrag von Rainer Forst, Professor für Politische Theorie und Philosophie und Direktor des Forschungszentrums »Normative Ordnungen« an der Goethe-Universität Frankfurt, stand ein Podiumsgespräch auf dem Programm. Es nahmen daran teil die Religionswissenschaftlerin Hannan Salamat, Frederek Musall, Professor für jüdische Philosophie und Geistesgeschichte an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, und Aladin El-Mafaalani, Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Uni Osnabrück.

Hannan Salamat berichtete von Projekten in München, bei denen gläubige Juden und Muslime zusammenarbeiteten, und das nicht nur zum Thema Religion, sondern auch im kulturellen Bereich: Die Menschen, erklärte sie, seien mehrdimensional, man könne sie nicht auf ihre Religion beschränken. Frederek Musall sagte, man müsse sich beim Nachdenken über Demokratie auch mit der Frage beschäftigen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. „Das ist eine Frage, die uns Angst macht.“ Das Publikum hörte eher höflich als gebannt zu, was sich änderte, als der Dortmunder Aladin El-Mafaalani das Wort ergriff. „Ich beschäftige mich tatsächlich kaum mit Werten im engeren Sinne“, sagte El-Mafaalani. Ihn interessiere, warum bestimmte Wertekonflikte, die schon vor 20, 30 oder 40 Jahren erkennbar gewesen wären, damals keine große Rolle spielten. Er interessiere sich dafür, welche Kräfte in einer Gesellschaft die Probleme eine ganze Weile überdeckten. Heute würde von verschiedensten Seiten über den bröckelnden gesellschaftlichen Zusammenhalt gesprochen. „Wenn man sich damit beschäftigt, was früher den gesellschaftlichen Zusammenhalt erzeugt hat, den Kitt der Gesellschaft, dann waren das im Schwerpunkt keine Werte.“ In der Entstehungszeit der liberaler Demokratien sei klar gewesen, dass die Bevölkerung eine gemeinsame Geschichte gehabt hätte, oft auch eine gemeinsame ethnische Herkunft, kulturelle oder nationale Traditionen, die sie verbanden, oder auch ähnliche religiöse Bekenntnisse, eine gewisse Ordnung, was Männer oder Frauen machen und was die richtige Sexualität sei. Nicht auf alle Staaten hätten alle Punkte zugetroffen, aber doch immer mehrere von ihnen. „Das alles haben die Menschen weitgehend geteilt, auch wenn es immer schon emanzipatorische Bewegungen gab, Menschen die dagegen waren, aber man hatte eine ganz große gemeinsame Basis.“ Die habe gesellschaftlichen Zusammenhalt erzeugt und viele verschiedene Konfliktfelder beruhigt. „Alles was ich beschrieben habe“, fuhr El-Mafaalani mit Blick auf die modernen westlichen Gesellschaften fort, „trägt heute nicht mehr. Wir können nicht mehr sagen, dass wir eine gemeinsam ethnische Herkunft, ein gemeinsames religiöses Bekenntnis oder auch nur tragfähige kulturelle oder nationale Traditionen oder ein klares Geschlechterverhältnis haben.“ Alles, was er aufgezählt habe, sei heute weitgehend durch emanzipatorische Bewegungen bekämpft worden: „Das, was einen Großteil des gesellschaftlichen Zusammenhalts erzeugt hat, wurde durch Liberalisierung und Emanzipation abgeschwächt.“ Das beträfe auch die Wirtschaft, die eine starke gesellschaftliche Bindekraft gehabt hätte. Das Versprechen sei gewesen: „Wir sind eine Wachstumsgesellschaft und an dem Wachstum werden alle teilhaben“. Auch das sei ein Zukunftsversprechen, das zurzeit immer weniger gelte. Für die Gesellschaft sei das ein Problem: „Wir haben kaum noch vergangenheits- und zukunftsorientierte Bindekräfte.“

El-Mafaalani sieht daher das Problem, „dass  auf der einen Seite die historischen Gemeinsamkeiten, auf denen die liberale Demokratie gebaut war, nicht mehr tragen. Auf der anderen Seite gibt es noch keine in die Zukunft gerichteten Idee, die Zusammenhalt herstellen könnten. Heute steht die Zukunft für Horror, früher stand sie in der Regel für Hoffnung. Und das heißt, die Zukunft ist gar nicht mehr bindend, sondern für viele die schlimmste Vorstellung überhaupt. Wenn man sich nicht an der Vergangenheit orientieren kann und die Zukunft für Horror steht, dann hat man eine sehr schwierige Gegenwart.“

Dieses Blog bat El-Mafaalani, sich ausführlicher zum Thema Wirtschaftswachstum zu äußern. Immerhin steht Deutschland nicht nur am Beginn einer wirtschaftlichen Strukturkrise, deren Dauer nicht absehbar ist während zeitgleich Vorstellungen von Postwachstumswirtschaft und Degrowth breit disuktiert werden, wie der Erfolg von Ulrike Herrmanns Buch „Das Ende des Kapitalismus: Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind“ zeigt. Der Wissenschaftler ist skeptisch:

„So lange wir keinen Ersatz für Wirtschaftswachstum und Wohlstandmehrung haben, und ich sehe keinen, wird es schwierig. Das Wachstumsversprechen bestand darin, das alle davon profitieren. Dazu gehörte der Aufstieg für die besonders Fleißigen und der Sozialstaat der sich um diejenigen kümmerte, die Hilfe benötigten. Das war wichtig für Zusammenleben und Zusammenhalt in Deutschland, aber an dieses Versprechen glauben immer weniger.“ Wenn man intendiert gegen Wachstum arbeite, würde es schwierig: „Denn Wachstum hat dazu beigetragen, Zusammenhalt in der Gesellschaft zu schaffen. Wenn das wegfällt, wird es problematisch, solange wir keinen funktionalen Ersatz haben. Postwachstum ist dabei ja noch moderat, weil bei dem Ansatz darüber nachgedacht wird, wie man den Wachstumszwang kontrollieren könnte. Bei Degrowth wird es dann schon wirklich heikel. Auf jeden Fall ist bisher nicht nur die Wirtschaft an das Wachstum gekoppelt, sondern auch kulturelle und gesellschaftliche Fragen.“

Aber ist El-Mafaalani nicht der Mann, über den der Spiegel schrieb, sein Bestseller „Das Integrationsparadox“ sei „Das  gute Laune Buch des Jahres“, weil seine Thesen die „deutsche Gesellschaft wachse immer mehr zusammen, die Integration funktioniere besser denn je, Diskriminierungen und Rassismus nähmen ab.“ klug und glücklich mache? „Ich bin immer ein bisschen missverstanden worden“ sagt er zu seinem Publikum in Schwerte. „Alle meinen, ich wäre so optimistisch. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass wir in der Vergangenheit sehr positive Entwicklungen hatten.“

Die Gesellschaft ist divers geworden. Mehr als das, sie ist superdivers geworden. Sie wurde es durch die „emanzipatorischen Bewegungen“, die ihre traditionellen Fundamente bis hin zu der Frage, was ein Mann und was eine Frau ist, in Frage stellten und durch die Zuwanderung von Menschen mit anderen Kulturen, Geschichten und Religionen.

In „The Journey of Humanity – Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende“  schreibt der israelische Wirtschaftswissenschaftler Oded Galor, dass Diversität  nicht einfach gut oder schlecht ist: „Auf der einen Seite vermag Diversität eine gegenseitige kulturelle Befruchtung anzustoßen, Kreativität zu erweitern und eine größere Offenheit für neue Ideen zu wecken; all dies fördert den technologischen Fortschritt. Auf der anderen Seite hat Diversität das Potenzial, das Vertrauensniveau zu senken, Konflikte zu provozieren und die Art von sozialem Zusammenhalt zu behindern oder aufzulösen, die für eine nachhaltige Investition in öffentliche Güter wie Bildung und Gesundheitswesen nötig ist.“

Dabei bilden die Migranten keinen einheitlichen Block. Sie trennt mehr, als sie verbindet. Afghanen haben nicht viel mit Nigerianern zu tun, Griechen sind keine geborenen Freunde der Türken, das Verhältnis von Russen und Ukrainer ist vom Überfall Russlands auf die Ukraine geprägt und in Essen liefern sich Libanesen und Syrer Auseinandersetzungen. Kann es sein, fragte dieses Blog El-Mafaalani, dass wie in den USA, wo vor allem Asiaten als „Neue Weiße“ gelten, Teile der Migranten sich eher an den Biodeutschen orientieren als andere?  „Die besondere Komplexität besteht eigentlich darin, dass es unter den Migranten so viele kleine Gruppen gibt, die die große Menge bilden.“ antwortet der Soziologe. Das Entscheidende sei, dass sich der migrantische Teil der Bevölkerung immer stärker ausdifferenziere: „Anders als vor Jahrzehnten kommen die Menschen aus sehr vielen unterschiedlichen Ländern und entsprechend haben wir es jetzt mit vielen kleinen Communities zu tun. Hinzu kommt, dass viele Nationalstaaten im Hinblick auf Ethnie, Sprache oder Religion nicht so homogen sind, wie wir es häufig annehmen. All das macht die Sache sehr komplex. Und nach der Vereinbarung über Fachkräftezuwanderung werden noch mal Menschen aus Ländern zu uns kommen, von denen wir bislang nicht viele Zuwanderer hatten. Migranten bringen Kompetenzen und Prägungen, aber auch die Konflikte aus ihren Ländern mit nach Deutschland. Damit muss man sich in Zukunft auch viel mehr beschäftigen.“

Bezogen auf die Gruppen würde er tendenziell sagen, dass es keine Gruppe gibt, die sich komplett an den sogenannten Biodeutschen orientiert, und auch keine, die sich daran gar nicht orientiert, sondern die Lage sei wirklich sehr differenziert. „Aber klar, es gibt schon Gruppen, die erfolgreicher sind als andere. Besonders problematisch ist es natürlich, wenn es um Menschen geht, die es bezogen auf Bildung und Kompetenzen ohnehin schon schwer haben und dann auch noch ausländerrechtlich in der Schwebe stehen.“

Deutschland sei nach dem zweiten Weltkrieg sehr homogen gestartet, altere heute stark und hatte viel Migration. „Jetzt haben wir in der jüngeren Bevölkerung eine große und in der älteren Bevölkerung eine eher geringe Diversität. Hinzu kommt, dass von den älteren Migranten fast alle nicht in Deutschland geboren sind, und sie kamen auch nur aus wenigen Ländern. Bei den Jüngeren mit sogenanntem Migrationshintergrund ist die überwiegende Zahl in Deutschland geboren und ihre Eltern kommen aus sehr vielen unterschiedlichen Ländern. Das heißt, dass auch innerhalb der Migrantengruppen die junge Bevölkerung sehr und die ältere weniger divers ist.“

Und in dieser überalterten Gesellschaft seien die Jungen eine Minderheit: „Je nachdem welche Altersgruppe man sich genau anschaut, ob Kinder oder Jugendliche, sind es zum Teil nur noch halb so viele wie die sogenannten Babyboomer. Es sind weniger, sie sind sehr divers und im Augenblick sind die Institutionen in denen sie sich befinden in sehr schlechtem Zustand.“ Wenn man es rein wirtschaftlich betrachte, bräuchte Deutschland jedes Einzelne dieser Kinder. „Aber wir verhalten uns noch so wie vor 20 oder 30 Jahren, als man dachte, man hat sowieso nicht für alle einen Arbeitsplatz, und wir uns damit arrangierten, dass fünf bis zehn Prozent scheitern und noch ein paar andere es sehr schwer haben werden. Egal wie man es sähe, ob es um gesellschaftlichen Zusammenhalt, allgemein kulturelle Fragen oder die Wirtschaft gehe, ist sich El-Mafaalani sicher: „Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen. Kinder und Jugendpolitik sind für mich, wenn man mittelfristig schaut, neben integrationspolitischen Maßnahmen für neu zugewanderte Erwachsene, die wichtigsten Politikfelder.“

Bleibt am Ende die Frage, ob El-Mafaalani irgendeine positive Aussicht sieht oder es für die Gesellschaft einfach nur spannend wird, weil wir durch den Nebel segeln und noch nicht einmal ahnen, wo wir ankommen werden. Auch für den Dortmunder Soziologen ist die Zukunft nicht klar: „Wir bewegen uns auf absolutes Neuland zu. In der politischen Theorie weiß man, das liberale Demokratien ab einem bestimmten Niveau der Liberalisierung ein Problem mit fehlenden Bindekräften haben. Man muss sich damit beschäftigen, wie man zukunftsgerichtet Neues entwickeln kann, das die Gesellschaft zusammenhält. Das geht über Streit, aber auch über wirklich zukunftsorientiertes Handeln. Ich halte Wachstum, Aufstieg, positive Dinge, an welche die Menschen auch glauben und die dann auch wirklich passieren, dabei für sehr wichtig. Ich habe da aber auch keine Lösung. Wir können uns meinem Eindruck nach auch nicht ohne Weiteres an anderen Ländern orientieren. Das ist Neuland, aber es bringt auch nichts, die Augen vor den Herausforderungen zu verschließen und sich mit diesen Fragen nicht zu beschäftigen.“ Streiten sei besser als Parallelwelten entstehen zu lassen. In den USA zum Beispiel habe man sich zu wenig gestritten und sich zu wenig wechselseitig wahrgenommen, weil die Menschen je nach Position regional sehr ungleich verteilt seien. „Das ist in Deutschland mit Ost-West-Gegensatz auch ein wenig so, aber insgesamt ist das bei uns nicht so stark ausgeprägt wie in vielen anderen Ländern. Wenn dann auch noch – wie in den USA – jeder seine Medien hat, lebt man aneinander vorbei und merkt erst dann, wenn Wahlkampf ist, dass man in einem gespaltenen Land lebt.

In Deutschland kann man das im Augenblick nicht feststellen.“ Hier sähe man keine Bipolarisierung wie in den USA, sondern eine Mehrstimmigkeit: „Es ist nicht so, und das zeigen alle empirischen Untersuchungen, dass das Land von den Einstellungen der Menschen und ihren Perspektiven her gespalten ist. Es gibt große Unzufriedenheit und Unsicherheit, aber es führt noch nicht zu einer Polarisierung. Die beiden radikalen Pole, totale offene Gesellschaft und die restaurativen Bewegungen, sind bei uns nicht sehr stark ausgeprägt. Weder von der Intensität noch von der Quantität. Wir haben eine Mitte, die nicht genau weiß, wohin sie will, die aber auch nicht einfach gespalten ist in zwei Blöcke. Ich finde schon, dass wir in vielerlei Hinsicht eine spezifische Situation haben. Wir haben eine politische Kultur die noch stark an der Mitte orientiert ist, auch wenn die Ränder lauter und offensiver werden.“

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Wolfram Obermanns
Wolfram Obermanns
8 Monate zuvor

Aladin El-Mafaalani: „Die emanzipatorischen Bewegungen haben alles bekämpft, was gesellschaftlichen Zusammenhalt erzeugt hat“

Nimmt man in den Blick, dass viele emanzipatorische Bewegungen von Dogmatikern mit engen, unterkomplexen Zielkorridoren vereinnahmt worden sind und gegeninhaltliche Kritik mit kaum mehr als einer fragwürdigen moralischen Überlegenheit verteidigt werden, bleibt außer divide et impera so manches mal wenig übrig.
Man denke z.B. an Gender: gestartet um bornierte Geschlechterrollen aufzubrechen um zu einem freien Spiel zu finden, ist es heute zu einer kleingeistigen Blockwartattitüde verranzt, die ihrerseits meint vorschreiben zu müssen was erlaubt und was verboten ist.
Antirassismus versus rassistischer Wokeness wäre ein weiteres Beispiel.
Die Liste zum Ausleben von Machtphantasien ist lang.

Was wir brauchen ist eine Linke, für die das kritische Bewusstsein wieder eine herausragende Bedeutung hat und weniger Überschussakademiker, die unkritisch Lehrsätze nachplappern.

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