Atomausstieg: „Ich habe damals gehofft, dass die Vernunft sich durchsetzen würde“

Daniel Gräber Foto: Antje Berghäuser Lizenz: Copyright

Wie lief der endgültige Ausstieg aus der Kernenergie unter der Ampel? Cicero-Redakteur Daniel Gräber  wollte es genau wissen und musste  den Zugang zu Akten einklagen.  In seinem Buch „Akte Atomausstieg – Das Ende der Kernkraft und das Scheitern der Energiewende“ hat er seine Recherchen zusammengefasst.


Ruhrbarone:
Ihr Buch liest sich stellenweise wie ein Politkrimi. Da wird gegen alle rationalen Argumente ideologisch an einer Linie festgehalten, die sogar dem Ziel der CO₂-Reduktion widerspricht.

Daniel Gräber: Ja, das ist tatsächlich so. Und als ich angefangen habe, mich intensiver mit der Thematik zu befassen, konnte ich es selbst kaum glauben. Es war 2022, der Ukrainekrieg war gerade eskaliert, russische Truppen waren einmarschiert. Und damit war auf einen Schlag offensichtlich, wie verwundbar die deutsche Energieversorgung in Wahrheit war. Natürlich wusste man vorher schon, dass die Abhängigkeit von russischem Gas ein Risiko darstellte, aber plötzlich wurde das Risiko zur akuten Realität. Die Preise schossen in die Höhe, Versorgungssicherheit stand in Frage, und dennoch hielt man in Berlin an einem Kurs fest, der auf vielen Ebenen fragwürdig war. Der Plan, auf Gas als Übergangslösung zu setzen, war in der Theorie nachvollziehbar, aber in der Praxis durch den Krieg ad absurdum geführt.

Und in dieser Situation dachte ich: Jetzt muss es eine pragmatische Wende geben. Die drei letzten Kernkraftwerke, die noch am Netz waren, mussten weiterlaufen – allein schon, um Engpässe im Winter zu verhindern. Und selbst die drei zuvor abgeschalteten Anlagen wären mit überschaubarem Aufwand wieder hochzufahren gewesen. Ich dachte, dass dieser historische Moment eine neue Nachdenklichkeit bringen würde. Aber das Gegenteil war der Fall.

Ruhrbarone: Und Sie dachten, Habeck würde diesen Moment nutzen?

Gräber: Anfangs schien es sogar so. Habeck äußerte sich ungewohnt offen, sprach von einer neuen Bewertung der Lage, davon, dass alles auf dem Prüfstand stehe. Ich dachte: Jetzt ist der Moment gekommen, in dem jemand wie er – reflektiert, differenziert, literarisch gebildet – die ideologischen Altlasten seiner Partei über Bord wirft. Ähnlich wie Joschka Fischer einst beim Thema Auslandseinsätze eine Zeitenwende eingeleitet hat, gegen heftige Widerstände aus der eigenen Partei. Es wäre ein Moment gewesen, in dem Habeck hätte zeigen können, dass Verantwortung wichtiger ist als Gesinnungstreue.

Ich war zu dem Zeitpunkt wirklich überzeugt: Die Grünen könnten sich von ihrem anti-atomaren Reflex emanzipieren, zumal viele ihrer jüngeren Mitglieder das Thema gar nicht mehr als Teil ihrer Biografie erlebten. Ich glaube bis heute nicht, dass Habeck selbst ein glühender Gegner der Kernenergie ist – eher das Gegenteil. Aber er hat sich dann doch untergeordnet.

Ruhrbarone:Die Anti-Atom-Haltung war also vor allem ein Generationsthema?

Gräber: Absolut. Für die Generation um Jürgen Trittin war das ein zentrales identitätsstiftendes Thema. Der Kampf gegen die Atomkraft war gewissermaßen ihr Gründungsmythos. Für jüngere Grüne ist das anders.. Und genau deshalb hätte es diesen Bruch geben können. Aber er blieb aus.

Ich habe damals gehofft, dass die Vernunft sich durchsetzen würde. Doch dann wurde das Thema zugedeckt – mit einer Mischung aus Desinformation, parteiinterner Disziplin und taktischem Schweigen. Am Ende kam nur eine minimale Verlängerung der Laufzeit heraus, symbolisch und sachlich unzureichend. Und das hat mich als Journalist nicht mehr losgelassen. Ich wollte verstehen: Wer sind die Leute, die im Hintergrund an den Strippen ziehen? Wer beeinflusst diese Prozesse?

Ruhrbarone:Sie sprechen dabei von der Lobbygruppe Agora Energiewende?

Gräber: Ja. Agora ist mehr als eine Denkfabrik. Es ist eine Art Schattenministerium. Dort sitzt ein Netzwerk, das mit enormer personeller Kontinuität die Richtung der deutschen Energiepolitik vorgibt – unabhängig von Wahlen oder Regierungswechseln. Und viele der entscheidenden Figuren – wie Patrick Graichen – haben dort ihre Wurzeln. Sie wurden zu einflussreichen Beamten oder Beratern, oft ohne demokratische Legitimation, aber mit enormem Gewicht.

Was mich dabei besonders erstaunt hat, war die ideologische Geschlossenheit dieses Milieus. Es geht nicht nur um CO₂-Reduktion – was ja ein legitimes Ziel ist –, sondern um ein umfassendes Transformationsprojekt. Ziel ist eine Gesellschaft ohne Wirtschaftswachstum. Die Ursprünge finden sich in den 1970er-Jahren, etwa bei Amory Lovins in den USA. Sein Ziel war nicht nur Effizienz, sondern bewusste Verknappung – die Idee, dass weniger Energie uns zu besseren Menschen macht. Diese Vision wurde in Deutschland nahezu eins zu eins übernommen – inklusive der romantisierenden Rückkehr-zur-Natur-Rhetorik. Nur: Diese Denkweise steht in völligem Widerspruch zur Realität einer globalisierten Welt. In stark wachsenden Wirtschaftsmächten wie China und Indien wird sich entscheiden, ob der Klimawandel aufgehalten werden kann. Und Verzicht ist für die Menschen dort aus guten Gründen keine Option.

Ruhrbarone: Und Sie haben daraufhin Akten angefordert?

Gräber: Ja. Ich wollte es genau wissen. Ich habe Akteneinsicht beantragt – beim Umweltministerium unter Steffi Lemke und beim Wirtschaftsministerium unter Robert Habeck. Die Antwort fiel sehr unterschiedlich aus. Das Umweltministerium war, sagen wir, vorsichtig kooperativ. Ich bekam einige Unterlagen, teilweise geschwärzt, aber brauchbar. Das Wirtschaftsministerium hingegen mauerte von Anfang an. Erst nach einer Klage wurden einige Papiere herausgegeben – viele davon banal, manche fast demonstrativ nichtssagend. Aber eine zentrale Passage war hochbrisant: Ein interner Vermerk aus der Fachabteilung, in dem empfohlen wurde, die Laufzeit der verbliebenen AKWs zu verlängern, wurde handschriftlich gestrichen – offenbar von Patrick Graichen persönlich. Dieser Vorgang war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, aber wir haben ihn mit rechtlichen Mitteln ans Licht gebracht.

Ruhrbarone: Das klingt nach direkter Einflussnahme.

Gräber: So ist es. Graichen war nicht irgendein Beamter, sondern der maßgebliche Architekt der Energiepolitik im Habeck-Ressort. Und er hat offenbar gesteuert, welche Informationen den Minister erreichen – und welche nicht. Ob Habeck alles wusste, lässt sich schwer beurteilen. Aber ich halte es für ausgeschlossen, dass er völlig ahnungslos war. Spätestens im Sommer 2022 lagen genügend Hinweise vor. Dass dennoch am Kurs festgehalten wurde, hat mehr mit parteipolitischen Überlegungen als mit sachlichen Argumenten zu tun. Es war ein Ausdruck von Mutlosigkeit.


Ruhrbarone: Die Betreiber der letzten drei Reaktoren hätten also weitermachen können?

Gräber: Ja, daran bestand zu keinem Zeitpunkt ein Zweifel. Sowohl ENBW als auch PreussenElektra haben sehr früh signalisiert, dass ein Weiterbetrieb technisch machbar und sinnvoll wäre – und zwar nicht nur für ein paar Monate, sondern für mehrere Jahre. Und bei ENBW ist ja der Einfluss des grünen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, sehr groß. Das Land hält ja fast die Hälfte der Anteile.  Die Anlagen waren auf dem neuesten Stand, die Sicherheitsüberprüfungen aktuell, das Personal motiviert. Viele der Beschäftigten hätten sich sofort bereit erklärt, weiterzumachen – zum Teil aus Überzeugung, zum Teil aus Verantwortungsgefühl. Sie wussten, dass es nicht nur um ihren Job ging, sondern um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe in einer Ausnahmesituation.

PreussenElektra etwa hatte ein detailliertes Konzept für eine Laufzeitverlängerung vorbereitet, inklusive Zeitplan, Sicherheitsnachweisen und Personalstruktur. Dieses Konzept wurde an das Ministerium übermittelt – und, soweit wir rekonstruieren konnten, dort von Graichen abgeblockt. RWE war zurückhaltender. Die hatten wirtschaftliche Interessen, wollten sich stärker auf Kohle und Erneuerbare konzentrieren. Aber auch dort hätte ein klares Signal aus der Politik etwas bewirken können. Es war alles vorbereitet. Es hätte gereicht, die politische Entscheidung zu treffen – doch genau das unterblieb.

Ruhrbarone:Und stattdessen wurde die Entscheidung getroffen, die letzten Reaktoren abzuschalten?

Gräber: Ja, mit einem geradezu demonstrativen Eifer. Dabei war die Argumentation teilweise absurd. Es hieß, eine Verlängerung sei technisch zu riskant oder rechtlich zu komplex. Das stimmt so nicht. Die Verfahren wären überschaubar gewesen – auch aus juristischer Sicht. Und man hätte mit klaren politischen Beschlüssen vieles vereinfachen können. Es wurde so getan, als gäbe es keinerlei Spielräume – dabei war das Gegenteil der Fall.

Ein weiteres Argument war die sogenannte fehlende Brennstoffverfügbarkeit. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Die Unternehmen hatten darauf hingewiesen, dass es durchaus Möglichkeiten gab, neue Brennelemente zu beschaffen – wenn man nur früh genug angefangen hätte. Stattdessen wurde die Entscheidung hinausgezögert, bis man sich darauf berufen konnte, es sei nun „zu spät“. Das war politisches Theater.

Ruhrbarone: Und trotzdem setzen viele politische Akteure jetzt auf Kernfusion. Ist das nicht widersprüchlich?

Gräber: Es ist nicht nur widersprüchlich – es ist ein nahezu grotesker Gegensatz. Im Koalitionsvertrag steht, dass Deutschland eine führende Rolle beim Bau des weltweit ersten Fusionsreaktors übernehmen soll. Das klingt visionär, fast futuristisch – aber gleichzeitig schafft man die bewährte Technologie ab, mit der man heute Versorgungssicherheit gewährleisten könnte. Man propagiert eine Hochtechnologie, die frühestens in Jahrzehnten verfügbar sein wird, während man eine funktionierende, klimaneutrale und sichere Technologie in die Tonne tritt.

Die Realität ist doch: Fusionsforschung ist wichtig, keine Frage – aber sie darf kein Feigenblatt dafür sein, dass man sich vor den Problemen der Gegenwart drückt. In den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren müssen wir unser Stromsystem stabilisieren, die Industrie mit verlässlicher Energie versorgen, Netze ausbauen, Speicher entwickeln. Dafür braucht man Realismus – nicht technologische Träumereien.

Ruhrbarone: Aber innerhalb der Grünen scheint es erste Anzeichen eines Umdenkens zu geben?

Gräber: Es gibt zumindest zaghafte Signale. Tarek Al-Wazir zum Beispiel hat sich als er noch Minister in Hessen war, technologieoffen gezeigt. Auch beim Thema Fusion. Das ist erfreulich. Es zeigt, dass zumindest ein Teil der Partei erkennt, dass Ideologie allein nicht reicht, um komplexe Probleme zu lösen. Aber es bleibt abzuwarten, ob das Einzelstimmen bleiben oder ob sich daraus wirklich ein neuer Kurs entwickelt.

Was wir brauchen, ist nicht nur eine andere Tonlage, sondern eine echte politische Kurskorrektur. Es müsste möglich sein, Entscheidungen zu revidieren, wenn sich die Lage verändert – ohne dass das als Gesichtsverlust gewertet wird. Politik muss lernfähig sein, nicht starr. Und leider ist genau das in Deutschland nach wie vor selten der Fall.

Ruhrbarone: Gibt es aus Ihrer Sicht Hoffnung auf einen echten Kurswechsel?

Gräber: Hoffnung gibt es immer. Und manchmal verändern sich Dinge schneller, als man denkt – gerade wenn externe Schocks auftreten. Sollte es zu Engpässen kommen, zu Blackouts, zu massiven wirtschaftlichen Einbußen, dann wird auch das Thema Kernenergie wieder auf die Tagesordnung kommen. Derzeit kippt ja schon die öffentliche Meinung. In Umfragen spricht sich eine wachsende Mehrheit für den Wiedereinstieg in die Kernenergie aus – vor allem unter Jüngeren. Das zeigt: Die Bevölkerung ist pragmatischer als viele Politiker glauben.

Auch personell gibt es interessante Entwicklungen. Die Berufung von Katharina Reiche etwa – eine Frau mit Erfahrung, mit Sachkenntnis, mit Kenntnis der Branche. Sie hat früher offen für Kernkraft plädiert, kennt die Akteure, spricht die Sprache der Wirtschaft. Das könnte ein Signal sein. Wenn die Bundesregierung bereit ist, solche Stimmen wieder stärker einzubinden, dann ist auch ein Kurswechsel möglich. Aber er wird nicht von allein kommen. Es braucht Druck – aus der Öffentlichkeit, aus der Wissenschaft, aus der Industrie.

Daniel Gräber: Akte Atomausstieg Das Ende der Kernkraft und das Scheitern der Energiewende
Herder, 20 Euro

 

Transparenzhinweis: Das Interview führte Stefan Laurin. Er ist freier Autor bei Cicero

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MausF
MausF
5 Tage zuvor

Oh je, «Das Ende der Kernkraft und das Scheitern der Energiewende» ist halt nur ideologisches Wunschdenken. Auch wenn der Herr Gräber Schwierigkeiten hat, die Realität zu akzeptieren: Die Karawane zieht weiter.

MausF
MausF
5 Tage zuvor

Ich glaube eher der Wissenschaft als Ideologen: «Erneuerbare Energiequellen werden immer stärker genutzt. Besonders stark wuchsen in den vergangenen Jahren die Kapazitäten im Bereich Solar- und Windenergie. Zwischen 2010 und 2023 stieg die global installierte Leistung im Bereich Solarenergie laut „World Energy Outlook 2024“ um das Vierzigfache von 40 Gigawatt auf 1610 Gigawatt. Die Leistung im Bereich Windkraft nahm um das Sechsfache von 181 GW auf 1 015 Gigawatt zu. Der größte Teil der Kapazitäten konzentrierte sich auf die Europäische Union, China und die Vereinigten Staaten. Auch die Bedeutung anderer erneuerbarer Energiequellen nahm zu: Die Leistung im Bereich Biomasse stieg von 74 auf 188 GW um das 2,5-fache, im Bereich Wasserkraft um das 1,4-fache von 1 028 auf 1 411 GW».

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