150 Jahre Rudolf Steiner – „Aber ich hab’ doch nichts davon gewusst!“

Rudolf Steiner um 1905 (Quelle: wikipedia)

Am 27. Februar 2011 feiert Rudolf Steiner, Begründer der Waldorfschulen, seinen 150 Geburtstag. Doch nicht überall huldigt man dem „Universalgenie Steiner“. In der Neuen Zürcher Zeitung, NZZ, erschien eine Artikelserie, die es Steiner- und Waldorf-Anhängern unmöglich macht, weiter zu behaupten: „Aber ich hab’ doch nichts davon gewusst!“ Von unserem Gastautor Andreas Lichte.

Endlich! Endlich schreibt auch eine „normale“ Tageszeitung Klartext über Rudolf Steiner. Andreas Hirstein, Ressortleiter Wissen der NZZ, legt eindrucksvoll dar, was bereits auch bei den Ruhrbaronen zu erfahren war: Dass Steiner ein selbsternannter Hellseher und notorischer Rassist ist.

Andreas Hirstein, NZZ, über den Hellseher Rudolf Steiner, „Ein Jesus aus Nazareth und einer aus Bethlehem“:

„(…) Wirkliche Erkenntnis sei immer übersinnlich [Zitat Steiner]: «Das müssen wir uns immer wiederum vor die Seele stellen, dass wir nicht aus Urkunden schöpfen, sondern dass wir schöpfen aus der geistigen Forschung selbst», sagt er. Oder: «Meine Erkenntnisse des Geistigen, dessen bin ich mir voll bewusst, sind Ergebnisse eigenen Schauens». Steiner formuliert offen einen hellseherischen Anspruch, eine Quelle des Wissens, die nur Initiierten wie ihm offensteht und die ihn zu ganz neuen Erkenntnissen (…) führt. (…)“ Sein „Wissen will Steiner dem geistigen Weltgedächtnis, der Akasha-Chronik, entnommen haben. (…)“

Andreas Hirstein, NZZ, über den Rassisten Rudolf Steiner, „Rassistische und antisemitische Tendenzen“:

„(…) Problematisch bei Steiner ist aber, dass sein Rassismus aus den von ihm postulierten Evolutionsstufen der Menschheit folgt. Will man das Rassendenken loswerden, droht das gesamte Gedankengebäude zusammenzubrechen.

(…) Die weisse «Rasse» ist in Steinerscher Terminologie die am «Geiste schaffende Rasse» – die Avantgarde der Menschheit also: «Die Menschen würden ja, wenn die Blauäugigen und Blondhaarigen aussterben, immer dümmer werden, wenn sie nicht zu einer Art Gescheitheit kommen würden, die unabhängig ist von der Blondheit. Die blonden Haare geben eigentlich Gescheitheit.» Die übrigen «Rassen» sind in diesem Sinne nur überflüssige Abfallprodukte der Evolution. Indianer sieht er als «degenerierte Menschenrasse», schwarze Afrikaner seien eine zurückgebliebene Rasse. (…)“

„Töne wie aus einer undichten Gummizelle!“

„Töne wie aus einer undichten Gummizelle!“ sagt Harry Rowohlt über Rudolf Steiner. Was hat der, Zitat wikipedia, „Schriftsteller, Kolumnist, Übersetzer, Rezitator und Schauspieler“ mit Steiner zu tun? Harry Rowohlt hat eine Erfahrung gemacht, und beschreibt sie hier, Seite 2

Ist Rudolf Steiner psychisch krank? Wenn ja, wie lässt sich das feststellen? Wie wäre es damit, Steiner zu lesen? Unten ein link zu einem Vortrag Steiners, der unzweifelhaft rassistisch ist. Aber spannender als diese Feststellung ist die Frage, wie Steiner sein Programm „Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse“ begründet:

Warum ist das so, Zitat Steiner: „Auf der einen Seite hat man die schwarze Rasse, die am meisten irdisch ist. Wenn sie nach Westen geht, stirbt sie aus. Man hat die gelbe Rasse, die mitten zwischen Erde und Weltenall ist. Wenn sie nach Osten geht, wird sie braun, gliedert sich zu viel dem Weltenall an, stirbt aus.“

Besuchen Sie Steiner in seiner „Gummizelle“, seien Sie Zeuge von Steiners „Kampf zwischen Vorderhirn und Hinterhirn im Kopf“. Und sagen Sie bitte nicht mehr: „Aber ich hab’ doch nichts davon gewusst!“

link zu: Rudolf Steiner, „Vom Leben des Menschen und der Erde – Über das Wesen des Christentums“, GA 349, Dritter Vortrag, Dornach, 3. März 1923

Ruhrbarone zu Waldorfschule, Rudolf Steiner, Anthroposophie – kleine Auswahl:

„Waldorfschule: Vorsicht Steiner“, Interview mit Andreas Lichte

„Wie gut sind Waldorfschulen?“, Erfahrungsbericht einer Mutter

„Waldorfschule: Curriculum und Karma – das anthroposophische Erziehungsmodell Rudolf Steiners“, von Prof. Klaus Prange, Erziehungswissenschaftler

Fashionweek: Gestörtes Körperbild – next Level

Es war eine dieser kleinen Pseudosensationsmeldungen bei „Punkt zwölf“ auf RTL: „Das hat es bei der Fashionweek auch noch nie gegeben“, lispelt Katja Burkard in die Kamera. Und fügt hinzu, dass immer mehr Designer männliche Models in ihren Damenkollektionen auf dem Laufsteg schickten. Und natürlich erklärt der nachfolgende Bericht angeblich, warum das so sei. Von unserem Gastautor Honke Rambow

Dieses Versprechen wird bei RTL wie so oft nicht eingelöst. Tatsächlich aber geht es hier nicht um den Versuch drittklassiger Designer sich durch eine Transenshow in die mediale Öffentlichkeit zu zwängen. Auch Gaultier lässt Männer in Kleidern laufen und selbst das Traditionshaus Givenchy setzt in seiner aktuellen Kampagne auf einen gut versteckten Crossdressing-Effekt. Es geht nicht darum, dass das Spiel mit den Geschlechtern vorgeführt wird – den meisten Betrachtern wird es gar nicht auffallen. Zu perfekt sitzt das Makeup, es gibt keine angeklebten Gummibrüste, die Frauen-Haute-Couture schmiegt sich perfekt um die ausgezehrten Männerleiber und die etwas zu muskulösen Arme sind wir von Madonna gewöhnt.

Die chronisch blauäugigen Reste einer Schwulenbewegung, werden hier bereits wieder einen weiteren Schritt der Akzeptanz sehen. Aber der Weg in den Mainstream ist das nicht, denn im KIK-Katalog sucht man Crossdressing vergeblich. Da der Geschlechterwechsel nicht offen zur Schau getragen wird, geht es hier sicher nicht um ein Plädoyer für die Akzeptanz von Transgender. Es geht noch nicht einmal um Schock oder Skandal.

Tatsächlich spielt der Trend zu Travestie-Models in eine ganz andere Richtung. Er ist ein nächster Schritt in der Mager-Model-Debatte, beziehungsweise der Versuch, diese auszuhebeln. Weibliche Models ohne erkennbare Oberweite stehen in der Kritik. Also lasse ich Männer als Frauen laufen, denn die haben naturgegebenermaßen keine störenden Brüste. Genauso wie sie auch keine Hüften haben. Sie geben also ein perfektes präpubertäres Kindfrau-Bild ab, das bei echten Frauen nur durch krankhafte Magersucht zu erreichen ist. Dass auch die männlichen Models längst keine normalen Körperformen mehr haben, wird immer noch geflissentlich übersehen, da Essstörungen eher ein weibliches Problem sind. In der europäischen Herrenmode dominiert aber auch schon lange das Bild vom schmalschultrigen dürren Knaben, der die hormonellen Wirren noch vor sich hat. Körperformen werden in beiden Geschlechtern weggehungert.

Der Effekt ist fatal: Ist schon das weibliche Model ein kaum erreichbares Schönheitsideal für gesunde Frauen, so ist es das männliche Model in Frauenkleidung auf gar keinen Fall mehr. Was die tatsächliche Kleidung angeht, haben Designer schon seit Jahren für die Straße kaum noch Relevanz. Die Trends werden längst von H&M und Streetwearfirmen gesetzt. Doch das Körperideal wird immer noch in den Haute-Couture-Schauen geprägt. Und da wird gerade ein weiterer Schritt in eine katastrophale Richtung getan.

Theater Oberhausen: Draußen ist Sehnsucht, draußen ist Angst

Intendant Peter Carp verzahnt in einer Doppelpremiere am Theater Oberhausen Dennis Kellys „Waisen“ und Anton Tschechows „Drei Schwestern“ zu einem hundert Jahre überspannenden Diskurs über Familie. Von unserem Gastautor Honke Rambow.

Das Theater Oberhausen ist ein kleines Haus: 120 Mitarbeiter, 420 Plätze und ein knapper Etat, von dem in der aktuellen Spielzeit 750.000 Euro zusätzlich eingespart werden. Eigentlich Grund genug, um zu jammern. Doch seit Peter Carp vor zweieinhalb Jahren das Haus übernahm, benimmt es sich ganz wie ein großes. Das Schauspiel-Ensemble umfasst gerade mal 22 Personen. Bei den meisten Produktionen im großen Haus ist eher die Frage „Wer steht heute nicht auf der Bühne“. Dazu wird der Malersaal regelmäßig bespielt, Außenprojekte wie die des „Kunstlügners“ Hans Peter Litscher, „Peterchen‘s Mondfahrt“ im Gasometer und „Get Away!“ in einem leerstehenden Ladenlokal kommen hinzu. Und ganz selbstverständlich wird in Oberhausen international vernetzt, ohne dass daraus gleich ein Marketing-Claim oder ein Spielzeit Motto wie in anderen Theatern geschmiedet wird. Für Peter Carp war von Anfang an klar, dass auch eine kleinere Stadt wie Oberhausen mehr verdient als langweiliges Stadttheater-Repertoire – auch wenn das sicherlich oft einfacher wäre. Viel mehr überregionale Beachtung täte dem Haus bestimmt gut und hätte es verdient. Doch das gibt das deutsche Feuilleton nicht her. Kritiker wohnen halt lieber in Köln und da ist der Weg nach Oberhausen weit.

Jetzt hat am 14. und 15. Januar Peter Carp eine Doppelpremiere im großen Haus hingelegt. Ist das der endgültige Größenwahn? „Eigentlich zwingen uns die geforderten Etatkürzungen dazu, eine Produktion zu streichen“, erzählt der Intendant, „aber das wollten wir dem Publikum nicht zumuten.“ Die einzige Möglichkeit: zwei Stücke in der gleichen Zeit und im gleichen Bühnenbild zu proben. „Dazu kam, dass ‚Waisen‘ von Dennis Kelly ein Kammerspiel für drei Schauspieler ist, das allerdings unbedingt auf die große Bühne gehört. Ich wollte aber auch mit den anderen Schauspieler des Ensembles arbeiten.“ Das Ensemble und das technische Team ließ sich auf die ungewöhnliche Herausforderung ein – ohne zu wissen, ob es nicht eine Überforderung werden würde.

Ursprünglich war ein Doppelprogramm mit „Liebe und Geld“ – ebenfalls vom britischen Autor Dennis Kelly – geplant. „Irgendwann in der Planung stellten wir aber fest, dass das zwar ein gutes Stück, aber kein so brilliantes wie ‚Waisen‘ ist.“ Deshalb entschloss sich Carp als zweite Premiere seinen Tschechow-Zyklus mit „Drei Schwestern“ fortzusetzen – ein Klassiker, der die Herausforderung noch einmal verschärfte.

Die inhaltliche Klammer zwischen beiden Stücken ist, dass es um die Strukturen von Familie geht. In „Waisen“ ist es die moderne Kleinfamilie. Danny und Helen haben sich gut eingerichtet. Sie haben beide Jobs – was in London schon eine Leistung ist – einen Sohn, und Helen ist gerade wieder schwanger. Gerade haben sie sich zu einem entspannten Abendessen an den Tisch gesetzt – der Sohn ist bei der Oma ausquartiert –, da steht plötzlich Helens Bruder Liam in der Wohnung. Völlig mit Blut beschmiert. Warum? Das ist erstmal schwer aus ihm herauszubekommen. Er quatscht drauflos, aber die wichtigen Informationen kommen nur stückchenweise zu Tage und so richtig glauben mag das niemand, was Liam da erzählt. Während Helen versucht, von ihrem wegen einer Jugendsünde vorbestraften Bruder Probleme fern zu halten, will Danny einfach nur klären, was „da draußen“ vorgeht. Es ist wohl nicht das beste Viertel, in dem sie leben. Aber ihre Ängste vor der Außenwelt entstehen auch aus dem Übereifer, ihre eigenen schöne Welt zu schützen. Dass die gar nicht so heil ist, wie sie selbst glauben, zeigt sich immer mehr, je weiter sie in Liams Geschichte vordringen. Am Ende stehen sie vor dem Scherbenhaufen ihrer Beziehung, aber auch das ignorieren sie beharrlich. „Mach es weg“, sagt Danny und meint das ungeborene gemeinsame Kind. Dann geht er raus. Helen bleibt einfach sitzen.

Dennis Kelly schreibt hier einen aufregenden Psychokrimi, der sich von einer Überraschung zu nächsten manövriert. Nach einer Viertelstunde glaubt der Zuschauer, er wüsste, wo es drauf hinausläuft, aber schon dreht sich die Geschichte wieder. Das ist alles sehr klug gebaut, aber wie so oft im angloamerikanischen Theater schaut manchmal auch die Konstruktion etwas zu deutlich durch. Trotzdem packt der Abend den Zuschauer über zwei Stunden. Das ist vor allem Martin Hohners Liam zu verdanken. Wie Helen und Danny lässt er auch den Zuschauer immer im Unklaren, was nun Lüge und was Aufrichtigkeit ist, er ist anstrengend, nervig und prollig, aber nie unsympathisch und fast ist man versucht, ihn in Schutz zu nehmen. Henry Meyers Danny ist ihm ein gleichwertiger Gegenspieler. Der rechtschaffende Bürger, der nur die Ordnung wieder herstellen will. Beide gehen mit der sehr artifiziellen Sprache des Stückes ganz selbstverständlich um. Dennis Kelly schreibt eine Umgangssprache, die oft aufs nötigste reduziert ist und in ihrer Bruchstückhaftigkeit hochmusikalisch. Damit hat Manja Kuhl, die mit der Helen die wichtigste, weil variabelste Rolle in diesem Thriller einnimmt, zunächst Schwierigkeiten. Ihr gelingt es nicht immer, sich diese Sprache zu eigen zu machen, einen Rhythmus zu finden.

Hundert Jahre früher, wieder eine Familie, diesmal eine sehr verzweigte. Und das Draußen ist nicht bedrohlich, sondern Sehnsuchtsort: Moskau, die große Stadt. Gerade in der Kopplung der beiden Stücke zeigt sich, wie irreal Vorstellungen von der Großstadt sind. Es sind bloß Bilder – die Realität ist wahrscheinlich eine ganz andere. Würden die drei Schwestern irgendwann wirklich nach Moskau gelangen, stellten sie vielleicht fest, dass es in Wahrheit Dennis Kellys London ist. Kaspar Zwimpfers Bühnenbild sieht an diesem zweiten Abend zunächst gar nicht so anders aus als die Wohnung von Helen und Danny. Ein paar Tapeten und Möbel sind hinzugekommen. Erst im Verlauf von „Drei Schwestern“ zeigt das Modulsystem seine enorme Wandlungsfähigkeit. Während Peter Carp sich in „Waisen“ darauf beschränkte, den Schauspielern Raum zur Entfaltung zu geben, zeigt er in „Drei Schwestern“ eine deutlich stärkere Regiehandschrift. Gleich zu Beginn macht er klar, dass es hier nicht um eine in Melancholie dahindämmernde russische Seelenlandschaft geht. Diese Familie balanciert am Rand der Hysterie und verfällt manchmal plötzlich in eine eisige Schockstarre. Zum Beispiel als Werschinin auftaucht. Der gutaussehende Mann aus Moskau, der die Sehnsüchte aktiviert. Jürgen Sarkiss verkörpert ihn perfekt, er ist ein Spieler, der weiß, dass er irgendwann wieder weg sein wird. Ganz selbstverständlich bricht er in diese Provinzwelt ein und scheint bewusst darüber hinwegzusehen, dass er sie eigentlich zerstört. Seine Schuld ist es nicht, marode war diese Familie auch schon vor seinem Eintreffen.

„Drei Schwestern“ zeigt in Oberhausen ein weiteres Mal, dass die Stärke des Hauses in seinem durchweg sehr guten Ensemble besteht. Elf Darsteller bestreiten dieses große Panorama, ohne dass einer gegen den anderen abfallen würde. Manja Kuhl zeigt sich als Mascha wieder ganz auf der Höhe, die Herren-Rollen sind bei Peter Waros als Baron Tusenbach, Martin Müller-Reisinger als Soljony, Klaus Zwick als Tschebutykin, Mohammad-Ali Behboudi als Anfissa in besten Händen. Anja Schweitzers Olga schwankt zwischen Grande Dame und verhärmter Jungfer und Angela Falkenhans Irina ist das Kind, das tragisch altert, ohne dabei recht erwachsen zu werden. Unmittelbarer als bei Martin Hohner und Henry Meyer, die wiederum Bruder und Ehemann von Manja Kuhl spielen, kann sich die Qualität eines Schauspielers aber kaum zeigen. Mit großer darstellerischer Lust zelebrieren beide ihre enorme Wandlungsfähigkeit. Nora Buzalka als Natalia allerdings, ist die Gewinnerin des Abends. Wenn sie nach der Pause von der geschmacklosen Provinz-Schnepfe zur Business-Zicke mutiert, übernimmt sie nicht nur das Haus der drei Schwestern, sondern auch die ganze Bühne. Sie ist ständig anwesend, modernisiert, baut um, dirigiert und macht alle anderen nur noch zu Positionen in ihrem Business-Plan. Am Ende verfrachtet sie die drei Schwestern in ihr frischeröffnetes Callcenter. Das ist ein radikales Bild, das Peter Carp da am Ende den Zuschauern vorsetzt. Das mag manchem Tschechow-Connaisseur zu viel Regie sein, aber anders als bei Carps „Kirschgarten“ geht es hier perfekt auf – auch, weil der Abend im Rhythmus klar darauf zusteuert und Carp noch mal einen drauf setzt und Henry Meyer als Karnevalsprinzen Kamellen ins Publikum schmeißen lässt. Radikaler Spaßradau, der die Tschechowsche Tragik brutal zuspitzt. In diesen „Drei Schwestern“ findet Peter Carp, der als Intendant von Anfang an Großartiges in Oberhausen geleistet hat, nicht nur enorm viele eindrucksvolle Bilder, sondern auch als Regisseur zu einer klaren Handschrift.

Das sind die Energien, auf deren Freisetzung Peter Carp hoffte, als er sich auf die Überforderung einer Doppelproduktion einließ. Das Experiment ist mehr als geglückt. Trotzdem wollte der Intendant das nach der Premiere nicht als Modell für die Zukunft sehen. Die Selbstausbeutung dieses Teams darf nicht zur Regel werden. Wohl auch ein Zeichen an die Politik, dass hier alles getan wird, um auch in einer finanziell maroden Stadt höchste Qualität zu liefern, aber weitere Einsparungen nicht ohne schwerwiegende künstlerische Verluste möglich sind.

Werbung
Werbung


„Die Menschen geben um jeden Preis für die Liebe auf“

Ein Chinesisch-Deutsches Literaturquiz von unserer Gastautorin Xinying

Xinying hat ein Gedicht gelesen. Unten ihre Inhaltsangabe der Legende, die im Gedicht erzählt wird. Wie heisst das Gedicht?

Das Gedicht bezieht sich auf eine alte Geschichte, deren Inhalt so traurig ist:

„…“ ist die schönste Jungfrau, die eine Tochter vom „…“ ist.

„…“ wird gezwungen, durch ihr schönes Gesicht und ihr wundersames Lied den Schiffer anzuziehen.

Und der Schiffer verliebt sich in „…“

„…“ ist so schön, dass der Schiffer nicht auf die Gefahr aufpasst.

Schließlich stösst das Schiff an die Riffe, und alles sinkt.

Auch „…“ springt schliesslich in den „…“, um sich von dem Zaubertrick zu befreien.

Die Menschen geben um jeden Preis für die Liebe auf.

Das historische Foto

Am 24. Juli 2010, dem Tag der Loveparade, erhält Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland eine Minute nach halb fünf eine SMS auf sein Smartphone. Der erste Bürger der Stadt hält sein Handy in der Hand, sein Blick ist kritisch auf das Display gerichtet. Die SMS macht offenbar eine schnelle Entscheidung notwendig. Eine Geschichte zum historischen Foto aus dem 2. Print-Ding der Ruhrbarone. (Das ganze Print Ding mit langen, sauteuren Stories kann hier bestellt werden. klack)

von Thomas Meiser

Auf dem Foto steht neben Oberbürgermeister Sauerland der Spaßmacher Oliver Pocher, er will in diesem Augenblick ein funky Kurzinterview mit dem Politiker machen. Auf der anderen Seite von Pocher steht Kulturhauptstadt-Popdirektor Dieter Gorny – auch der soll reden. Die Nummer soll über BILD Online laufen. Hier wird ein Videostream des Medienpartners BILD abgespielt. Die drei stehen oben auf einer Brücke über dem Party-Gelände auf dem alten Güterbahnhof gegenüber der Hauptbühne. Ein Pulk von Knipsern will genau hier und jetzt das Bild vom Tage machen: Strahlende Sonne, Love and Peace. Im Vordergrund die Promis, im Mittelgrund die ravende Masse, im Hintergrund die Loveparade-Bühne, schön bunt illuminiert. DJane Monika Kruse spielt ihr Set.

Eine oder zwei Minuten zuvor hatte Sauerlands persönlicher Referent Josip Sosic seinem Chef etwas ins Ohr geflüstert. Danach hatte sich der Adlatus sofort wieder aus dem Focus gedrängt. Ist etwas passiert?

Dieter Gorny sagte später, Sauerland sei per SMS aufgefordert worden, irgendwo anzurufen. Irgendwas sei passiert. Mehr wisse er auch nicht.

Ähnlich äußert sich Sauerland selber. Es sei eine unbestimmte SMS gewesen, die er da bekommen habe. Man habe ihn gebeten, sich zu melden. Da es sehr laut gewesen sei, habe er den Rückruf um ein paar Minuten nach hinten verschoben.

Bernd Dix, ein Kollege, der beim WDR schafft, stand schräg hinter Sauerland. Gerade nicht im Bild. Er konnte die SMS lesen, sagt er. Die wenigen Worte seien ihm im Gedächtnis geblieben: „Sofort im Krisenstab anrufen“, habe dort gestanden.

Sauerland muss sich entscheiden.

Ein belangloses Interview mit dem Online-Boulevard durchziehen, und tun, was eine Meute Knipser von ihm erwartet?

Oder jetzt sofort auf die drängende SMS auf seinem Smartphone reagieren?

Beraten kann sich Sauerland zu diesem Zeitpunkt mit Niemanden. Seine Mitarbeiter sind zu weit weg. Selbst auf Armlänge kann man kaum jemand ohne technische Hilfsmittel verstehen. Es groovt, es kracht, es ist außer Kontrolle. Und Sauerland muss sich entscheiden. Er ist Oberbürgermeister. Er ist im Amt. Er ist der Chef. Am Pressecounter liegen den Mädels vom Dienst so eine Art Steckbriefe vor, die Fotos mit Namen darunter fordern Spezialbetreuung für Prominente. Darunter das Bild von Sauerland.

In der Ankündigung zum Pocher-Interview auf der Pressebrücke vor der Bühne stand: „17.30 Uhr. Statements zum Tag und offizielle Verkündung der Besucherzahlen.“

Auf dem Foto kurz vor dem angekündigten Statement kann man fast erkennen, wie es in Sauerland arbeitet. Wie seine Entscheidung reift.

Krisenstab oder Kamera? Jetzt sofort losgehen und zurückrufen, oder eine gute Viertelstunde vertändeln, mit der Bekanntgabe von gefälschten Besucherzahlen? Es ist ein Symbol für den Umgang mit Verantwortung, wie der Duisburger Oberbürgermeister sie versteht.

Sauerland gibt Pocher ein Signal. Er hat sich entschieden.

Dann redet der Oberbürgermeister in das Mikrofon.

Für den Livestream von BILD-Online von der Brücke über der Katastrophe herab. Was er sagt, ist längst vergessen.

Ein paar Stunden später wird Sauerland den Opfern der Loveparade vorwerfen, sie wären aus Leichtsinnigkeit in den Tod gestürzt, weil sie über Absperrungen hinweg geklettert seien.

Kulturhauptstadt-Popdirektor Dieter Gorny wird sich kurz nach dem Pocher-Interview aus allem raushalten, was mit der Loveparade zu tun hat. Zwar wird er später noch einmal im Backstage-Bereich einer desaströsen Sauerland-Pressekonferenz hocken, als dort überlegt wird, ob Gorny als Vertreter der Kulturhauptstadt gemeinsam mit Sauerland auf das Podium soll, um für die Katastrophe gerade zu stehen. Aber Gorny wird nicht gehen. In den kommenden Wochen wird er fragen, was die Kulturhauptstadt schon mit der Loveparade zu tun gehabt habe?

Sein auf dem Bild dokumentierter Auftritt ist Gornys letzter Gig als Repräsentant der Loveparade im Ruhrgebiet.

Der Popdirektor macht heute in Kreativwirtschaft.

Nach dem Pocher-Interview damals verließen Sauerland und Gorny die Presse-Brücke nach rechts.

Im Promizelt ging die Party der VIPs übrigens stundenlang weiter, als wäre nichts gewesen. Das Pilsbier wurde für lau aus Plastikbechern gesoffen.

Die Handys schwiegen ansonsten. Das Netz war zusammengebrochen.

Pocher ist danach nie wieder in Sachen Loveparade aufgefallen.

Terror in der Nachbarschaft – Brandanschlag auf die Moschee in Berlin-Wilmersdorf

Berlin, Wilmersdorfer Moschee, Brienner Straße Foto: Axel Mauruszat

Der siebte Brandanschlag auf Berliner Moscheen innerhalb weniger Monate lässt die Ermittler ratlos zurück. Von Andreas Lichte.

Yasir Aziz, 27, geboren in Pakistan, studiert in Schweden. Vor einem Monat kommt er nach Berlin, um in Ruhe an seinen Masterabschlüssen in Marketing und in Weltpolitik – Spezialisierung in Menschenrechten – zu arbeiten. Am Samstag, 8. Januar 2011, um 1:45 Uhr nachts, ist es mit Ruhe und Menschenrechten vorbei, Aziz sagt:

„Ich arbeitete gerade am Computer, als ich lautes Knallen hörte. Zuerst dachte ich: »vielleicht die Sicherungen, ein Kurzschluss«, aber dann schaute ich aus dem Fenster und sah das Feuer vor der Tür.“

„Die Tür“ ist die Tür zum Wohnhaus des Imam, direkt neben der Moschee. Dort ist Aziz für 2 Monate zu Gast.

Aziz ruft die Polizei, und versucht selber das Feuer zu löschen. Die Polizei-Streife, die schon nach 3 Minuten da ist, kann mit ihrem Feuerlöscher den Brand der Haustür erfolgreich bekämpfen.

Aziz sagt: „Ich war geschockt.“ Was wäre passiert, wenn er geschlafen hätte, und die Polizei nicht so schnell am Einsatzort gewesen wäre? Aziz: „Wenn es erst einmal brennt, dann gibt es für das Feuer keine Grenzen mehr. Von der Tür hätte das Feuer leicht auf die Holzfenster darüber übergreifen können …“

Und auch die Kriminalpolizei nimmt den Anschlag ernst, untersucht 5 Stunden lang den Tatort, obwohl der Brandsatz dilettantisch aus Gaskartuschen, Spiritusflaschen und Silvesterböllern gebastelt war. Der Hintergrund, die Berliner Morgenpost schreibt:

„Schon von Juni bis Dezember 2010 hatte die Polizei in Berlin insgesamt sechs Brandanschläge auf islamische Einrichtungen registriert. Im Juni, zweimal im August und im November war die Sehitlik-Moschee am Columbiadamm Ziel gewesen. Weitere Anschläge wurden im November auf die Neuköllner Al-Nur Moschee und im Dezember auf ein islamisches Kulturzentrum in Tempelhof verübt.“

Also sagt ein Polizeisprecher zum Fall der Wilmersdorfer Moschee: „Ob ein Zusammenhang mit Brandanschlägen oder versuchten Brandanschlägen auf Moscheen in der Vergangenheit besteht, wird derzeit geprüft.“

Ich wohne in Sichtweite der Ahmadiyya-Moschee, der unter Denkmalschutz stehenden, ältesten Moschee Deutschlands in Berlin-Wilmersdorf. Ich liebe ihre Architektur: Ein UFO in der biederen Villen- und Reihenhausbebauung.

Im Winter letzten Jahres kam ich abends nach Hause, der Feuerwehr-Grosseinsatz war nicht zu übersehen, die Strasse war gesperrt. Mein erster Gedanke: „Die Moschee!“ Nein, damals war es nur ein Wohnhaus in ihrer Nähe. Aber was ist da los, dass ich jederzeit mit einem Anschlag rechnete?

Und das war noch bevor „Deutschland schafft sich ab“ des geistigen Brandstifters Thilo Sarrazin das ganze Land in Hysterie versetzte.

Das eigene Fremde – Anspruch und Wirklichkeit der Kulturhauptstadt Ruhr 2010

In ein Meer von Fahnen und plakativen Optimus getaucht, ein ganzes Jahr und noch viel mehr, bestimmte das dauerleuchtende Event bis Advent die Kulturhauptstadt auf Ruhr. Für die mediale Aufmerksamkeit hatten Marketing- und PR-Agenturen die Haut der Träume zugeschnitten und der Ruhrmetropole ein buntes, pauschalisertes bisweilen niveauvolles Unterhaltungsprogramm verpaßt: Mitmachspiele ohne Grenzen, sonntags geöffnete Realzeitmuseen, Kunstachterbahnen,…, kurz, die standartisierte Einkleidung kultureller Identität, maßgeschneiderte Kulturhauptstadt -Trachten und Betrachtungen. Von unserem Gastautor Herbert Schero

Zwanghaft bemüht, dem eigenen Bewahrungswillen und Gestaltungsinstinkt gerecht zu werden, es zudem noch möglichst allen recht zu machen: Wetten, dass? – schickten die Kulturhauptstadtmacher den tradierten Themenvorrat des Ruhrgebietes, Denk- Ideal- Kult- und Heimatfiguren, internationale Stars und provinzielle Utopien ins Rennen. Zeitgleich wurde die gemeinhin hochgelobte soziale Integrationskraft des Wettbewerbes unterwandert: Propheten im eigenen Land, kritscher Eigensinn, Kunst- und Problemfiguren erhielten Startverbot. Und die Würde des Fragens, Kulturpolitik also, hatte fragwürdigen Zielen und Verblendungs- zusammenhängen dienlich zu sein. Die Rede ist von der Politik der Ekstase und ihren katastrophalen Fehlentscheidungen, von Seilschaften, ihrem Geltungsdrang, Karrieredenken und Wirtschaftsbeschaffungsmaßnahmen auf allen Ebenen. Kleiner Mann – grosse Ruhr 2010 GmbH: Was ist geblieben vom Anspruch: “…kulturelle Leuchttürme, Höhepunkte mit internationaler Strahlkraft zu schaffen, die die Kulturhauptstadt Europas 2010 weithin sichtbar machen.”? Wo und wie wurde der Möglichkeits- und Wirklichkeitssinn der vier Themenschwerpunkten: “…neue Formen der Urbanität, kreatives Milieu, integrierte Migrantenkultur und schließlich ein kreativ-ökonomisches Modell für Europa zu schaffen.” eingelöst?

Blick zurück, ohne Zorn. Die Leistungsschau der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 (GmbH) stellte von Beginn an medienwirksame Großevents in den Fokus der Öffentlichkeit, ihre Guinness-Politik der Rekorde die Aufwertung des Wirtschafts- u. Freizeitortes:  “RUHR 2010 hat die Vision, aus der regionalen Gemeinschaft von 53 Städten eine Metropole neuen Stils zu bilden.”

“Wir malochen für das Ruhrgebiet” hatte BILD das Engagement des Ruhr 2010 Direktoriums gelobt, das sofort kurz nach der Hauptpressekonferenz loslegte und sich ungeniert mit fremden Federn, mit der ehrenamtlichen Arbeit unzähliger Kultur- und Heimatvereine, mit den alltäglichen Kulturveranstaltungen des Ruhrgebietes schmückte. Wo die Hütte brannte, das hob die WAZ täglich hervor. Ihr Satellit, NRW-TV, strahlte die zu Local Hero-Wochen umbenannten Kulturhauptstadt-Wochenmarktangebote zu besten Sendezeiten in die digital empfangenden Haushalte: Illuminationen von Du zu Du, Lyrik von Nachtwächtern und Müllmännern, soziale Skulpturen und ihreTränen des Eros. Die Montagsandacht der Steuerzahler und die Solidaritätsparty der Banker&Sponsoren in den maroden Kommunen der Ruhr-Verbundenheit wurden live von Televisonsampeln übertragen. Das ZDF-Kulturprogramm strahlte Aspekte der Traumzeit- und Schnittkultur aus: 66 (+ -) türkische Modells in Brautkleidern ohne Kopftuch; made in Marxloh, Geisterfahrer&Geistreiche gingen auf Sendung. Das philosophisch-phallokratische Quartett vor dem Kiosk Dortmunder U diskutierte über das Paarungsverhalten der Kohlenpöttler, Revierhasen und Schützenkönige.

Jeden Monat neu aufgelegt, strotzten dickleibige Veranstaltungsprogramme der Ruhr 2010-GmbH vor Anglizismen, suggerierten Wirgefühle und versprachen eine nie dagewesene Alchemie der Gefühle: Metaxa & metexis am Abend mit Goldrand, feurige Stahlabstiche und die Twilight – Kunstlichtshow im Hafen der Kulturhauptstadt. Feierabende, an denen die Goldene Sieben in Spielhallen aufleuchtete, der Mariacron-Stern über dem Tresen. Und so ging tatsächlich jeden Tag für die Liebhaber der Television in der Börse der quadratische Horizont auf. Es fiel das angekündigte, das entscheidende Tor und die Freunde der Kulturhauptstadt &Fußballweltmeisterschaft, vereinten sich. Kulturen&Nationen. In der Arena der Geschichte wurde The day of songs zelebriert! Alles gab es per se und für lau noch oben drauf: Manzonis eisgekühlter Mittelstürmer, Klarer mit Speck aus dem Hieronymus Bosch-Kühlschrank Garten der Lüste. Und Poetische Nächte auf der Halde, da kam nämlich der Steiger und erzählte Grubenmärchen gegen den Kohldampf. Vom Gläsernen Hut mit Mercedesstern obendrauf, von der Brücke der Solidarität und so.

Night&day lief die Kulturmaschine Ruhr 2010 GmbH auf Hochtouren. Respekt. Himmelstürmende Lichtprojektionen auf alten Rathausmauern und Feuermusiker am Werk, illuminierten den Flug des Feuervogels. Ja, es hat ihn gegeben, den Himmel aus glühendem Stahl, sie, die Götterdämmerung, in der Gebläsehalle. Ja, der von Herrn Krupp-Beitz gesponserte Neubau des Museum Folkwang steht seit langem, wie `ne Eins, in Essen. Der im Volksmund genannte “Schukasten”, der Dachaufbau für das Museum Küppersmühle in Duisburg, Kosten mit Nachbesserung 20 – 40 Millionen, ist in der Mache I. Ebenso das Zwei-drei-Straßen- Projekt von Jochen Gerz. Idee&Realisierung muten wie das Haus ohne Hüter an, wie so viele der medial aufgeblasenen Ruhr 2010-Kunstprojekte. Ob die von Gerz für 2011 angekündigte Print-Dokumentation des Wohn- u. Interaktionsprojektes, ihr Wirklichkeitsversprechen einlösen wird? Schon in den Siebzigern, “einst vor Jahren, zur Zeit der Allerseelenstürme” hatte Aktionskünstler HA Schult anläßlich seiner TOUR-de-RUHR eine gleichgeartete Livingroom-Kunstmitmach-Idee artbissiger und weniger artig im Kohlenpott realisert. Ja, damals kochte Max von de Grün Literatur im Pott und Ruhrkomiker lösten immer noch Smokealarm aus.

Kulturhauptstadtschlagzeilen und  Aufsehen erregte der Auftritt der Duisburger Symphoniker, die in leerstehenden Wohnungen sogenannter “Stadtteile mit sozial-kulturellem Erneuerungsbedarf” ohne Kohle so überzeugend musizierten, dass die Zuhörer glaubten, die Auflösung der hochsubventionierten Symphoniker stünde bevor; zumindest die Streichung der Streicher.

Der drastische Kulturabbau im Namen der Kultur, das Streichkonzert der Einsparungen mit Zensureffekt, war schon 2009 über die Bühne gegangen. Den schätzungsweise 50.000 im Ruhrgebiet lebenden Kreativen der Freien Kulturszene verweigerte die Ruhr 2010 GmbH die Teilhabe an der Kulturhauptstadt, das Mitsprache- und Selbstvertretungsrecht.  Schon im Jahr 2007 waren zweitausend Kreative blauäugig der Aufforderung der Ruhr 2010 GmbH gefolgt und hatten Projektideen zur Kulturhauptstadt eingereicht, nicht ahnend, dass alle Fördermittel längst verplant waren und pro forma nur zwei Dutzend kleinere Projekte einen Kulturcent erhalten würden. Im Herbst 2009 folgte dann der finale Schachzug der NRW-Regierung.                -2-

Ministerpräsident Rüttgers  bewilligte den Ruhrkommunen – einen Euro pro Einwohner – zweckgebundene Kulturhauptstadtmittel, die nur für Projekte der Ruhr 2010-GmbH verwendet werden durften. Grub so der Kultturszene Ruhr auch noch auf kommunaler Förderebene das Wasser ab.  Besonders junge, kritische und ungewöhnliche Kulturansätze mit partizipativem Anspruch, hohen Risiken und großen Chancen stehen – im Gegensatz zur institutionellen, etablierten Kultur – im Ruhrgebiet oft ohne jede Chance auf öffentliche oder private Unterstützung da. Warum das so ist, versuchte im Kulturhauptstadtjahr die Ruhr Universität mit einer soziologischen Erkundung der solidaritätsmüden Kunst- und Kulturszene Ruhr herauszufinden. Das Thema wirft viele Fragen auf: Wie kann die sogenannte “Freie” Kulturszene überhaupt in einer Gesellschaft existieren, deren kulturspezifische Erziehung nach Auschwitz den Terrror der Selbstverwirklichung predigt? In der nicht das feuilletonistische Zeitalter des Glasperlenspieles den Geist der Utopie durchtönt, vielmehr der Homo Sociologicus und seine erlernte Hilflosigkeit dem entfremdeten Sehnsuchtsbild des Homo Ludens begegnet, der sich in der Moderne zu tode spielt! Gibt es dort die vorbildliche Freiheit der Andersdenkenden? Die neuen wilden Jünger von Egon Fridell, Manés Sperber, André Malraux, Hilmer Hoffmann, Peter Weiss: die Traditionen des ästhetischen Widerstandes, den Aufruhr in den Museen der Imagination? Wo also finden wir die pantagruelischen Freigeister, die Traumzeiten- und Grenzgänger, die ihre Wunden zeigen, nicht die Lügen der Malerei und in ihren kreativen “Labyrs” (Labyr:Laboratorium&Labyrinth. Begriffsschöpfung des Bochumer Künstler Andre Thomkins; Erschaffer der Knopfeier & Palindrome: DOGMA IAM GOD) Utopiate backen, dabei den Baudelaire singen: “Es ist weniger anstrengend zu arbeiten, als sich zu amüsieren.”?

Engagierte Kulturschaffende, die  das Wahrlügen (L.Aragon) lesen und sich den Strategien “ästhetischer Doppelmoral” (S.Sontag), ) verweigern, werden ausgegrenzt. So erhielt die 1. Ruhr Biennale zeitgenössischer Kunst, deren Themenschwerpunkt Aqua Futurbana – Zukunft des Wassers und der Lebensräume – nach vierjähriger Vorbereitungszeit Werke&Konzepte von 57 Künstlern aus 12 Nationen, Kunst im Aussenraum, Filme,Videos, Atract etc. und Künstler des Ruhrgebietes ausstellte, keine öffentlichen Fördermittel. Nach 2 1/2 Jahren Bedenkzeit kam von der Ruhr 2010 Gmbh eine Kooperationsabsage. Derweil der Rat der Stadt Duisburg die jährlichen Fördermittel (120.000,- EUR) für die Projkete der Freien Kulturszene strich. Die  zunächst von der Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum erteilte Aufstellungsgenehmigung für die  Ruhr Biennale – Skulpturen “Wasserhahn” und TV-Sessel im Kantpark, wiederrief Direktor Raimund Stecker zwei Tage vor dem geplanten Aufbau. Begründung: Er bevorzuge statt temporärer Kunstwerke mehr  Spaziergänger im Park.

Parteiübergreifend machen die Kulturverwalter immer drastischer deutlich: selbstreferenzielle Kultur, die von der Differenz zur Politik lebt, ist unerwünscht. “Die Banalität betritt die Bühne”(Jeff Kons). Statt sinnstiftender Denkmodelle dominieren Nullikonen – Ruhr-Edelstahlwürfel & Marmorkugeln – öffentliche Plätze; der Nullgrad der Textlichkeit durchtönt digitale News-Schaufenster. Vorbei an warenästhetischen Botschaften durchfahren Menschen auf Rolltreppen die begehbaren Filme urbaner Architektur. Auf heißen Stühlen und geliftet Kunstinstallation für Autobahnfahrer. Die durften an einem restgrünen Rasenstreifen der Ruhrautobahn an eine Hundertschaft leerer, nur mit deutschen Städtenamen bedruckter Liegestühle, vorbeirasen, anläßlich der Kunst am Bau – Auschreibung Paradoxien des Öffentlichen. So also sieht sie aus, die institutionalisierte Kulturbewußtheit auf der Flucht vor sich selbst also, macht sie deutlich, wer die kulturphlegmatischen Permanentszenen des rasenden Stillstandes, die angesagten Mythen des Alltags und die sinnentleerten Symbole ihrer Geltungs- und Wirkungsformen zu verantworten hat.

Das Kulturhauptstadtjahr ist ausgeklungen. Was ist aus den Kulturverbindlichkeiten der Twins- und Melez-Veranstaltungen geworden; was klingt noch nach vom Impetus der tausend Chöre, vom Sprach- und Heimfindungsvermögen kultureller und integrativer Identität?  Was wird aus den unter Berücksichtigung des Kunstmarktranking eingekauften, millionenschweren Kunstinseln?, jenen Atollen auf dem Essen-Baldeneyer See, die nur von denen bestaunt werden konnten, die ein Boot, Helikopter, Fernglas oder Feuilleton zur Hand hatten. Das A40 Stilleben aneinandergereihter Flohmärkte und Miniaturbühnen hat es ins weltweite Guinessbuch der Rekorde geschafft. Eins ist sicher: die Liebhaber des Glückauf – Pils-Gesanges werden sich an die gelben Schachtzeichen-Ballons zur Pflege des Traditionbewußtseins, an Zechen,Thyssenbarone, Dahlbuschbomben und Unglücke erinnern. Das Trauma der Loveparade -Tragödie und der sie begleitende Mangel an ziviler und politischer Courage, die schmerzhafte Kultur nie gekannter Verantwortungslosigkeit und sozialer Amnesie wird auf unbestimmte Zeit im kollektiven Gedächtnis nachwirken.

P.S.  “Dem Bürger fällt vom spitzen Kopf der Hut. In den Lüften hallt es, wie Geschrei, Dachdecker fallen von den Dächern und fallen entzwei.” ( J.van Hoddis)

Ein Drittel des auf  70-150 Millionen Euro geschätzten Ruhr 2010-Budget haben Berater& Werbeplattformen verschlungen. In einem kritischen Artikel der WAZ (Okt. 2010) ist nachzulesen, dass allein die  Dieter Gorny Internetplattform artlab Fördermittel in Millionenhöhe erhalten hat (überdies auch für das Jahr 2011). Ironie der Geschichte. Der Medienbunker Hamborn produziert für ARTLAB Beiträge, u.a. eine filmische Dokumentation zur 1. Ruhr Biennale, die bis dato nicht ins Netz gespeist, vermutlich  zensiert wurde. Ein weiteres Drittel der Kulturhauptstadtmittel schüttet die GmbH an ihr Personal, darunter Herrn Gorny, gerne eben zusätzlich für die Projekte ihrer Juroren & Direktoren aus. Im Falle des Architekten Prof. Karl-Heinz Petzinka, zuständig für den Bereich Bildende Kunst, bleibt unklar, ob der von ihm mit Kulturhauptstadtmitteln geförderte mehrstöckige Ausbau des denkmalgeschützten Zechengebäudes in Gelsenkirchen, das noch einen Marcus Lüpertz-Herkules auf´s Dach bekommt, als “Wirtschaftsbeschaffungsmaßnahme”, Zweckentfremdung von Fördergeldern oder “normaler Vorgang im Bereich kultureller Befugnishoheit” einzuordnen sein wird. Das im Bau befindliche Vorhaben wird, so pfeifen es die Spatzen von den Dächern, von des Architekten eigener Baufirma realisiert und vermutlich mit Mitteln aus dem kleinsten, dem Etat für Kultur- Kunstprojekte u. Sonderausgaben, finanziert.

H.Schero, Kurator der 1. Ruhr Biennale, Vorsitzender des AortA Kunst- u. Kultur eV

Werbung
Werbung


Bar Südwest. Berlin. Schnee.

Eine musikalische Flucht. Aus Deutschland. Und aus dem Schnee. Von Andreas Lichte.

„Grönemeyer“

„Der Poet?“

Das dauert, bis Marianne den „Poeten“ eingeordnet hat. Sie entscheidet sich für die „Ernst“-Schublade: „Ja, der Poet!“

Diala schaut nur zu, sie kennt Grönemeyer nicht. Die Glückliche! Schon von Vorteil, keine Deutsche zu sein.

„Hab’ Flugzeuge im Bauch“

„Das heisst doch »Schmetterlinge«?“ fragt Diala.

„Das ist Poesie – das ist Grönemeyer.“

„Solche Texte musst du erst mal schreiben! Und so singen! Ich habe geheult …“, sagt Marianne.

Was ist Scham? Ich mache Diala den Grönemeyer: „…“ [hier versagt die Tonaufzeichnung]

„Hör dir Grönemeyer mal auf YouTube an. Aber denk bitte nicht, dass dein Deutsch schlecht ist: Grönemeyer ist sowas wie Gianna Nannini, nur dass ich als Deutscher Gianna Nannini verstehe, und Grönemeyer nicht.“

Marianne: „Mein Freund hatte mich zu dem Konzert eingeladen, wir haben kein Wort gewechselt, aber ich war so …“, fast fliessen wieder die Tränen.

„Also ich hab meine Freundin zu … zu … wie hiessen sie noch? Les Rita Mitsouko! eingeladen: »Dis-moi oui – Andy!«“

„Hat noch jemand Zigaretten?“

Nein.

„Für den Automaten brauchst du eine Freigabe.“

„Ich habe einen Führerschein. Französischer Pass, aber Deutscher Führerschein.“

Sie schiebt ihn in den Automaten und es leuchtet: „Ihre Fahrerlaubnis ist gültig.“

„Cool! Dann können wir ja losfahren!“ Und ich drehe am Lenkrad:

„Kennst du den song »Route Nationale 7«?

Wer sich an feingeistigen musikalischen Gesprächen beteiligen möchte … wer, Zitat Christian, Barkeeper, „ein ehrliches Getränk“ wie „Marlowe’s Gimlet“ schätzt … oder live-Jazz mag:

(Fast) immer Montags spielen Giorgio Crobu (git) und Wolfgang Obert (sax, flute) „great jazz in a small bar“:

Bar Südwest, Südwestkorso 64, 12161 Berlin, Telefon: 030 – 82 70 13 00, open: 19.00 – 02.00 Uhr

Nahverkehr: Alternative Carsurfing?

Abseits der Hauptroute zwischen Dortmund und Duisburg ist der Nahverkehr im Ruhrgebiet dilletantisch organisiert. Ist Carsurfing eine Alternative? Von unserem Gastautor Reinhard Wiesemann.

Mit einem besser funktionierenden Nahverkehrsystem würde die Qualität unseres Lebens besser, weil wir nicht die zufällig benachbarten Angebote (Kino, Theater, Ärzte, Shopping, Arbeit,…) nutzen müssen, sondern 30 Minuten entfernt zu dem Ort fahren könnten, der genau das bietet, was viel besser zu uns paßt. Qualität hängt in ganz vielen Bereichen des Lebens auch mit der Größe des Angebots aus dem wir wählen können zusammen.

Deshalb fordern kluge Zeitgenossen seit Jahren ein besseres Nahverkehrssystem an der Ruhr, doch denken sie meist daran, den herkömmlichen Bus- und Bahnverkehr zu verbessern. Das ist sicher sinnvoll, aber ich möchte anregen, auch einmal über einen Ansatz nachzudenken, der vor fünf Jahren noch nicht möglich war, jetzt aber „reif“ zu sein scheint: Genauso, wie Millionen von Menschen über das bekannte Couchsurfing in der ganzen Welt bei Fremden übernachten, wäre es jetzt an der Zeit, das „Mitfahren“ über Internet-Techniken in großem Stil zu ermöglichen.

Städte oder ÖPNV-Unternehmen könnten ein System aufbauen, über das Fahrer und Mitfahrer eine Historie und eine Bewertung bekommen, um Sicherheit zu schaffen. Und dann bringt man beide über Smartphones zusammen. Ich wette: Wenn es möglich wäre, in sein Smartphone einzugeben, wohin man will und diese Information vorbeifahrenden Fahrzeugen übermittelt wird, dann muß man nur wenige Minuten am Straßenrand warten, bis ein Auto anhält, das genau dorthin fährt. Mit einem solchen System könnte eine Region wie das Ruhrgebiet zu einem Vorreiter und zu einer Pilgerstätte für Stadtplaner aus der ganzen Welt werden. Und das zu einem Bruchteil des Preises, den andere Metropolen früher für die Nahverkehrssysteme ausgegeben haben, die damals aktuell waren.

Reinhard Wiesemann ist der Macher des Unperfekthauses in Essen