Ein zurückgespultes Leben

Foto: Sebastian Hoppe
Foto: Sebastian Hoppe

Am Bochumer Rottstr5-Theater inszeniert Kerstin Krug EIN TOTENGEBET nach Ilse Aichingers „Spiegelgeschichte“ als stürmisch-tragischen One-Woman-Monolog.

Das Licht zum Abbau ist kalt und grell, die letzten Premierenzuschauer sind gegangen, um noch die zweite Halbzeit des Fußballspiels zu sehen, jemand rollt ein Kabel zusammen. Janina Sachau, zurzeit festes Ensemblemitglied am Düsseldorfer Schauspielhaus, kommt noch einmal heraus und sucht auf der Bühne ein paar Requisiten zusammen. Kaum kann man glauben, dass diese kleine, zierliche, freundliche, aufgeräumt wirkende Frau dieselbe Person ist, die eben noch schreiend, weinend, zitternd, singend, zynisch lachend und mit Spielzeug um sich werfend die Geschichte eines kurzen, fehlerhaften Lebens rückwärts erzählt und damit das Publikum über eine Stunde lang in Atem gehalten hat.

Von der Beerdigung bis zur Geburt: Stationen von Jungsein und Schmerz

Wie fühlt sich Leben an, mit allen dramatischen Fehlern, falschen Entscheidungen und brutalen Erfahrungen, wenn man die Geschichte von hinten nach vorne erlebt und dabei am Rand steht und beim Erzählen tatenlos zusehen und zuhören muss, obwohl man selbst die Hauptfigur ist auf dieser Fahrt in die eigene Vergangenheit? Von der Beerdigung eines Mädchens bis zu dessen Geburt geht die Reise, die an fast unerträglich schmerzhaften Stationen wie einer gefährlichen Abtreibung, der ersten Liebe und dem trügerischen Traum von einer schönen Zukunft halt macht. Der Leichenwagen kehrt wieder um, die Tote wacht im Krankenhaus wieder auf, läuft im „wieder gewonnenen“ Todeskampf durch die Straßen – und los geht’s ins Verderben. Alles wird zurückgespult, alles ist verkehrtherum. Der Jugendliebe zum allerersten Mal zu begegnen heißt: für immer Abschied nehmen. Denn man sieht sich ja nur einmal zum ersten Mal. Und weiter geht’s – unbarmherzig schnell schnurstracks Richtung Kindheit.

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Ein Prinz sieht rot

Foto: Privat

Hans Dreher inszeniert in der Bochumer Rottstraße Lessings Antikriegs-Drama PHILOTAS als intensives Kammerspiel

Ein schwarz-violetter Raum, ein paar archaische Pferdeköpfe, ein kleiner Altar und starke, eindringlich gespielte Charaktere ergeben die konzentrierte Reflektion eines sehr persönlichen inneren Konflikts ausgelöst durch einen äußeren: Krieg.

Der Königssohn Philotas wird in seiner ersten Schlacht vom gegnerischen Herrscher gefangen genommen. Dadurch wird sein Vater erpressbar, Philotas sieht sich als Verräter an seinem Volk, das Dilemma ist komplett. Was er erst später erfährt: auch der Sohn des gegnerischen Königs ist eine Geisel. Es entsteht eine klassische Pattsituation. Trotzdem fasst der heißblütige junge Prinz einen radikalen Entschluss, in der Hoffnung seinem Vater im Konflikt zur Oberhand zu verhelfen – Selbstmord.

Psychologie einer Reise: vom jammernden Verlierer zum überzeugten Selbstmörder

Lessings Trauerspiel von 1759 beschreibt facettenreich menschliches Denken und Handeln auf zwei Ebenen, die zeitloser kaum sein könnten. Zum einen geht es um die große Bühne, auf der Macht, Herrschaft, Verantwortung, Moral und Krieg ihren Schauplatz finden. Zum anderen um die Emotionen der Figuren, die in ihrer menschlichen Schwäche mit diesen Dingen umgehen müssen, die in ihrer Verwicklung in große Konflikte oder in ihrer Position als Machthaber (oder als Sohn eines solchen) von Zweifeln, Wahn, Angst, fehlgeleitetem Pflichtbewusstsein oder pulsierendem jugendlichem Übereifer getrieben sind. Es ist eine Außenansicht der Strukturen großer Politik und eine Innenansicht der persönlichen Konflikte von Menschen, die mit dieser konfrontiert sind.

Felix Lampert stellt als Philotas überzeugend die Psychologie einer Reise vom jammernden Verlierer zum entschlossenen

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Trainspotting: Glitzer und Zerstörung im Rottstr5-Theater

Es ist immer Zufall, aber die Bahn scheint genau im richtigen Augenblick über die Schienen zu  donnern und das Gewölbe unter den Gleisen zu erschüttern – das intensiviert die auf der Bühne sich entfaltende Mischung aus 90er-Beats, Drogenrausch, Neon-Tights und Nachdenklichkeit. Eine aktuelle Adaption des Romans beziehungsweise der Bühnenfassung von Irvine Welsh (nicht etwa des Danny-Boyle-Films mit Ewan McGregor) sorgt zurzeit für gut gefüllte Sitzreihen in Bochums Off-Szene.

Das aus acht Newcomer-Schauspielern bestehende „young `n rotten“-Ensemble, Do-it-yourself-Jugendtheater der Rottstr.5, erzählt die Geschichte von Freunden, die sich alle gefährlich nah am sozialen Abgrund bewegen: entweder haben sie ihn knapp überwunden, sind kurz vor dem Absturz oder erleben gerade das geballte Beschissenheitspotential des Lebens. Das Stück berührt Grundthemen menschlicher Existenz – Verlust, Versagen, Verlangen, Verzweiflung. Von Euphorie bis Selbstaufgabe. Von Freundschaft bis Fehlgeburt.

Alle Darsteller überzeugen, obwohl es für viele die erste professionelle Bühnenerfahrung ist. Thomas Kaschel als Ex-Junkie Mark Renton kommentiert in fast unbeteiligtem, sarkastisch-resigniertem Ton, aber umso exzessiver gespielten Rückblenden den eigenen (Über)Lebenskampf und den seiner Freunde im tristesten Teil von Edinburgh. Der immer am Rande des Wahnsinns taumelnde Frank Begbie dagegen (Akbar Paktin) strahlt so viel aggressive Energie aus, dass die Zuschauer in den ersten beiden Reihen gut beraten sind, nicht ohne das passende Nervenkostüm anzutreten. Die eigentliche Geschichte aber handelt von Tommy (Ricardo Hopf ), dem Einzigen, der am Anfang über dem Sumpf aus Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Beziehungsproblemen und Drogensucht zu schweben scheint – und am Ende am tiefsten drinsteckt.

Alles auf der Bühne scheint eine mehrdimensionale Metapher für vertane Chancen, fürs Verlieren auf ganzer Linie zu sein. Typen verlieren ihre Mädchen, Freunde ihren besten Freund, Junkies die Kontrolle, Absteiger ihr letztes Bisschen Stolz. AIDS und Schlägereien sind genauso präsent wie Angst und Abhängigkeit. Zu loben ist die Musikauswahl, die – für geschulte Ohren zu erkennen – hauptsächlich aus dumpfen Pionier-Techno-Tracks der Neunziger Jahre besteht und die durch den Theaterraum kriechende Stimmung aus Sucht, Lust und Entzugskampf perfekt untermalt. Aber keine Sorge, obwohl man durchaus emotional erschöpft den „Bunker“ verlässt, haben wir es nicht mit einer post-modernen Untergrund-Tragödie zu tun. Auflockernde Situationskomik und Wortspiele sind in gesunder Regelmäßigkeit eingestreut.

Wie setzt man Sucht auf der Bühne um? Wie verhindert man das redundante Bild der Koks-Line, der Spritze oder des Teelöffels überm Feuerzeug? Das Problem der Darstellung zahlloser bewusstseinserweiternder Substanzen mit den unterschiedlichsten Aggregatzuständen wurde (durch ein Brainstorming der gesamten Besetzung) intelligent und wirkungsvoll gelöst: eine Flüssigkeit aus Goldstaub und Wasser, in die die Junkies auf der Bühne immer wieder ein und im Rausch wieder auftauchen, steht für alle im Stück genannten Drogen von Speed bis H. Die auffallend häufig rottönige Beleuchtung und der Einsatz von Stroboskoplicht tun ihr Übriges.

Stellenweise wirkt die Inszenierung leicht übersteuert, „lauter“ und greller als sie sein müsste: ein Publikum mit von der Bühne gebrüllter Vulgärsprache zu schockieren, ist seit Jahrzehnten kaum noch nötig oder gar möglich. Und doch ist dies eines von vielen Elementen, die verhindern, dass der theaterfreundliche Bildungsbürger es sich zwei Stunden lang in seinem Sitz gemütlich machen kann.

Trainspotting erzählt vom Dilemma, das Jungsein in vollen Zügen auskosten zu wollen und dann doch im Kreislauf aus Benommenheit, Sex und Langeweile auf der Stelle zu treten.

Davon, wie leicht es ist abzurutschen und wie schwer wieder aufzusteigen. Am Ende ist es ein Stück über das, was das Leben gut macht und das, was es zerstört – und die komplizierte Welt dazwischen, in der man sich so leicht verlieren kann.

Mehr Infos: Rottstr5 Theater