Ein Grund für den Afghanistan-Krieg

Die Alliierten werden Afghanistan verlassen. Der Krieg ist nicht mehr zu gewinnen. Die Taliban haben gewonnen.

Wichtig scheint jetzt allen Beteiligten auf Alliierter Seite die Gesichtswahrung und nicht mehr die Durchsetzung militärischer und politischer Ziele. In ein paar Jahren soll die afghanischen Regierung auch die militärische Verantwortung übernehmen. Eine Bande korrupter Drogenhändler und Wahlfälscher – sie werden sich nicht lange halten können. Der Westen hatte in Afghanistan keine Partner, um das Land aufzubauen. Um eine Demokratie aufzubauen. Der Krieg war nicht zu gewinnen.

Die Taliban werden, kurz nach dem, Abzug der letzten alliierten Kampfeinheiten die Macht übernehmen.  Wer sich in den vergangenen Jahren dem Westen geöffnet hat, wird einen hohen Preis zahlen. Viele werden sterben und über die  Zukunft solcher Ideen wie Schulen für Mädchen müssen wir nicht mehr reden. Es wird dunkel werden in Afghanistan – noch dunkler.

Und die Niederlage des Westens wird vielen Lust auf mehr machen. Sie wird all die fundamentalistischen Kämpfer in ihrem Glauben bestärken, dass der Westen schwach und schlagbar ist. Der Krieg wird sich verlagern. In andere Länder und auch ein wenig mehr zu uns hin.

Denn bei allen Argumenten gegen den Krieg in Afghanistan , die hier auch schon ausführlich diskutiert wurden, hatte dieser Krieg eine Berechtigung: Gotteskrieger aus aller Welt kamen nach Afghanistan um gegen die Alliierten zu kämpfen. Und die Truppen der Alliierten verhalfen vielen dazu, Märtyrer zu werden. Sie lernten, dass der Westen nicht ganz so schwach ist, wie sie es erhofft haben. Sie lernten es durch Drohnen, Schnellfeuergewehre und  Daisy-Cutter.

Gotteskrieger aus Deutschland, Frankreich, England, Saudi-Arabien, dem Jemen, Pakistan und vielen anderen Länder zog es in die afghanischen Berge. Dort führte der Westen seinen Krieg gegen sie – auf fremden Territorium. Das war – auch wenn es zynisch klingt – für uns in Europa und den USA ein Vorteil. Daheim war es weitgehend ruhig, das Schlachtfeld war weit weg.

Wenn der Westen Afghanistan verlassen haben wird, wird dieser Konflikt mit den Gotteskriegern nicht vorbei sein. Er begann vor dem letzten Krieg in Afghanistan und wird mit dem Rückzug nicht enden. Er wird nur an anderen Orten geführt werden. Nicht mehr in der Nähe des Flughafens von Kabul, sondern vielleicht in der Nähe des Flughafens Frankfurt. Oder in New York und London. Der Abzug der Alliierten aus Afghanistan ist nicht das Ende des Krieges. Es ist der Beginn einer neuen Phase des Krieges.  Über den  Satz von Struck, die Freiheit des Westens wird auch in Afghanistan verteidigt, kann mich sich gut lächerlich machen. Falsch ist er nicht.

„Anklickkästen“: Unergonomische Irreführung, um mehr Klicks zu generieren.

Bild

Klick Dich doch endlich tot, Du blöde Sau!

so denken Online-Produktmanager im Geheimen. Der User soll so oft wie nur irgendwie erzwingbar klicken – außer bei Abofallen natürlich, da macht man es ihm leicht, Abzock-Angebote wahrzunehmen.

Mich nervt das ziemlich, da es unnötig Zeit kostet und mir zudem weh tut. Ich habe Probleme mit der Pfote von der dauernden Scheißklickerei. Auch die berüchtigten klickschindenden Foto- oder inzwischen auch Textstrecken („die 500 besten Chef-Witze“) erfordern normalerweise unbedingt einen Mausklick – nur selten tut es die weniger schmerzhafte Rechts-Taste auf dem Keyboard, obwohl die für die Werbeklicks genauso zählt.

Was aber mehr als auffällig ist: Es werden in letzter Zeit immer mehr überflüssige, extra mit der Maus (und natürlich nur mit der Maus, es muß ja gefälligst wehtun!!!) anzukreuzende Kästchen in irgendwelche Vorgänge eingebaut.

So beispielsweise bei jedem, aber wirklich jedem Online-Paketportodruck bei DHL Immer ist irgendwo ganz unauffällig ein Kästchen eingebaut „Ich habe die AGB von DHL gelesen, verstanden und akzeptiert“, das man mit der Maus anpeilen und ankreuzen muß. Ja Himmel! Reicht es denn nicht, die einmal zu lesen und zu akzeptieren? Muß man es jedesmal aufs Neue tun und das auch noch immer mit einem rechtsverbindlichen Mausklick bestätigen?

Na klar, denn ein Klick bedeutet mehr Werbeinnahmen: Jeder übersieht das Kästchen beim ersten Mal, es erscheint eine fehlermeldung, die Seite muß also neu geladen werden, wenn man Pech hat, muß man sogar etliche Eingaben (Paßwort etc.) neu machen -> mehr Seitenzugriffe und damit mehr Werbegeld. Denn Werbung ist heute auf Webseiten überall, selbst wenn man bereits Kunde ist und bereits beispielsweise eine Paketmarke kauft oder eine Bahnfahrkarte, soll man mit Zappel-Ads am liebsten noch aus dem Zahlvorgang herausgelockt werden, diesen abbrechen, um doch lieber etwas anderes zu kaufen!

Oder das da oben. Auf „Stimmen Sie den Nutzungsbedingungen der eBay Community zu“ klickt natürlich jeder auf „Ich bin einverstanden“. Das ist logisch, das ist ergonomisch. Aber das ist natürlich die Klickfalle: Man muß zuvor auch noch „Ich akzeptiere den Grundsatz zur Nutzung der Community.“ ankreuzen. Auch wenn den niemand kennen wird. (Er ist unter diesem Satz als Link versteckt). Das übersieht jeder, die Seite wird ein zweites Mal geladen -> mehr Werbeeinahmen.

Und warum wollte ich überhaupt auf diese Ebay-Seite? Um die Ad-Choice-Werbung abzustellen. Doch dazu ein andermal.

„Meine Mutter suchte die Wahrheit“

In seinem Zimmer hat Dennis nur das Nötigste. Ein Bett, eine kleine Kommode und einen Schreibtisch. Die Wände sind in gelben und grünen Pastelltönen gestrichen. Es gibt weder Bilder noch Fotos. Außer eines. Direkt über dem Bett. Dort hängt ein Bild aus Metall an einem kleinen Nagel. Es zeigt eine junge Frau im Seitenprofil mit langen Haaren und einer brennenden Kerze. Dieses Bild gehörte der russischen Journalistin Nadezhda Chaikova. Seiner Mutter.

Dennis setzt sich auf sein Bett. Er hat kurze leicht gelockte Haare, trägt weite Jeans und einen blauen Kapuzenpullover. Er nimmt einen Schluck aus einer Plastikfalsche. Dann blickt er auf den Boden und fängt an zu erzählen. „Sie war auf der Suche nach der Wahrheit. Mitten im Krieg. Sie ist nach Tschetschenien gefahren, um über die Geschehnisse von dort zu berichten. Von ihrem Blickwinkel. Dabei hatte sie Kontakt mit sehr gefährlichen Leuten. Ein Mal hat sie schlechtes Glück gehabt und ist nicht zurückgekommen.“

Seine Mutter schreibt damals für die russische Wochenzeitung „Obshchaya Gazeta“. Zwischen 1994 und 1996 fährt sie regelmäßig nach Tschetschenien, um über den Krieg mit Russland zu berichten. Sie will wissen, was die Menschen in der Kaukasusrepublik bewegt. Dafür spricht sie mit beiden Seiten. Sie trifft sich mit tschetschenischen Rebellen und interviewt russische Sicherheitskräfte. „Meine Mutter hat sehr intensiv gearbeitet. Sie war immer weg und hat mich bei Freunden gelassen. Aber ich wusste nie wo sie ist oder was passiert. Niemand hat mir was gesagt. Manchmal bin ich im Kindergarten bis spät nachts geblieben. Ganz alleine.“

Seine Verwandten kümmern sich zwar um ihn, aber oft ist Dennis auf sich selbst gestellt. Sein syrischer Vater lebt zu dieser Zeit nicht mehr in Moskau, sondern wieder in seiner Heimat. Trotz der großen Belastung macht er seiner Mutter keinen Vorwurf. „Ich war nie sauer. Ich wollte nur wissen, wieso sie nicht da ist. Und ich habe bis heute keine Antwort auf die Frage.“

Wenn seine Mutter von ihren Reisen zurückkommt, ist die Freude groß. Daran kann Dennis sich noch gut erinnern. Doch irgendwann gibt es kein Wiedersehen mehr. Seine Mutter geht immer größere Risiken ein. Sie arbeitet verdeckt, kleidet sich wie eine Tschetschenin. Offenbar gelingt es ihr brisantes Videomaterial zu sammeln, das die russischen Truppen schwer belastet. Es soll den Überfall des russischen Militärs auf das tschetschenische Dorf Samashki zeigen. Im Frühjahr 1996, kurz nach den Aufnahmen, wird Nadezhda Chaikova entführt und ermordet. Das Video verschwindet. Damals ist Dennis sechs Jahre alt.

Seine russischen Verwandten sind mit der Situation vollkommen überfordert. „Als sie gestorben ist, hat meine Familie mir gar nichts davon erzählt. Weil sie das selber emotional nicht hantieren konnten, mir zu erzählen, dass meine Mutter tot ist.“ Aber auch ohne Worte versteht Dennis, dass seine Mutter nicht mehr lebt. „Ich habe einfach gefühlt, dass sie tot ist…ich habe sie vermisst.“   Am Tag ihrer Beerdigung ist die öffentliche Anteilnahme groß. Im Zentrum von Moskau sind die Straßen voller Menschen. Alle nehmen Abschied von der jungen Journalistin. Außer ihr Sohn Dennis. Er ist nicht dabei. Die Verwandten schweigen beharrlich. Der verpasste Abschied beschäftigt ihn bis heute. Erst ein Jahr später, als er bei seinem Vater in Syrien lebt, sagt der ihm die Wahrheit. „Die Verwandten von meiner Mutter haben nichts gesagt und er hatte Angst. Wie soll ich meinem Sohn das erklären? Ich kann mich erinnern, dass ich fast nicht geweint habe. Ich hab’ gesagt, ich wusste das schon lange. Aber ich wollte das dir nicht erzählen, weil ich Angst hatte, dass du traurig wirst.“

Zwei Jahre bleibt Dennis bei seiner syrischen Familie. Für ihn eine besonders schöne und wichtige Zeit. „Ich habe gute weibliche Vorbilder in meinem Leben gehabt. In Syrien. Die Schwestern von meinem Vater waren immer für mich da. Statt meiner Mutter.“ Später lebt er wieder in Russland und zieht 1999 mit seinem Vater nach Schweden, der dort als Dolmetscher arbeitet.  Heute spricht Dennis fünf Sprachen. Eine Muttersprache kennt er nicht. Wie er denkt und träumt hängt immer davon ab, wo er sich gerade aufhält. In seiner Freizeit treibt er Kampfsport und beschäftigt sich mit der Malerei. Plötzlich steht er auf und zieht eine große Mappe unter dem Bett hervor. „Hier sind einige meiner Zeichnungen“. Er klappt die Mappe auf und legt ein Bild auf den Laminatboden. Es zeigt einen Mann mit einem Schnurrbart, der ein Mikrophon in der Hand hält. Der Blick ist starr. Aus seinem Mund läuft Blut. „Das Blut könnte symbolisch für seine Nachricht stehen. Aber eigentlich ist es besser, wenn ich nicht erkläre, was ich male. Dann verliert es an Wirkung. Der Betrachter soll es deuten.“

Neben dem Malen und dem Sport ist der Zugang zum Internet für ihn sehr wichtig. Dort kommuniziert er mit seinen Freunden in Schweden und verfolgt, was in den Medien passiert. Denn auch vierzehn Jahre nach dem Tod seiner Mutter riskieren viele Journalistinnen und Journalisten in Russland immer noch ihr Leben. 2006 wird Anna Politkowskaja vor ihrer Wohnung erschossen. 2009 wird Natalja Estemirowa entführt und ermordet. Und Anfang des Monats wird der Journalist Oleg Kaschin brutal zusammengeschlagen. „Ich denke, dass sie sehr mutig sind. Aber es gibt keine Wahrheit im Krieg. Es gibt keine Wahrheiten da. Die Sachen sind, wie sie sind. Im Krieg. Die Leute, die im Krieg sterben, sind nicht die Leute, die vom Krieg profitieren. Die Versteckten hinter den Kulissen retten ihre Ärsche immer.“

Auch im Fall seiner Mutter gibt es bis heute keine Wahrheit. Der Mord wurde nie aufgeklärt. „Meine Mutter hat eine kleine Notiz hinterlassen, dass wenn ihr was passiert, dass wir nicht die tschetschenischen Rebellen beschuldigen sollen, sondern den russischen Geheimdienst. Darüber kann man viel spekulieren. Also beide Seiten hatten genug Motive. Vielleicht waren es doch die Rebellen. Keine Ahnung.“  Dennis möchte wissen, wer seine Mutter umgebracht hat. Aber er will nicht, dass dieser Wunsch sein Leben bestimmt. Denn auch das Wissen um die Wahrheit könnte ihm seine Mutter nicht zurückbringen. „Für meine Mutter wäre es wichtiger gewesen, dass es keine Kriege mehr gibt, als dass ihr Mörder gefunden wird. Das wäre in ihrem Sinne. Dass es endlich Frieden gibt.“

Ärztemangel: Wie mit einem Promille am OP-Tisch

Krankenhäuser in NRW können gefährliche Orte sein. Foto: Bilderbox

Der Besuch eines Krankenhauses ist in NRW kann gefährlich werden. Über 90 Prozent der Kliniken im Land halten sich nicht an das Arbeitszeitgesetz für Ärzte. Die stehen häufig übermüdet am OP-Tisch. Ein Risiko für Patienten und Ärzte.

Ulrich M. ist Gynäkologe. Er arbeitet als Oberarzt in einem Krankenhaus im südlichen Ruhrgebiet. Und das tut er häufiger, als ihm und seinen Patienten gut tut: „Vom Zeitaufkommen  her habe ich eigentlich zwei Jobs. Zusammen mit meinen Diensten arbeite ich 60 bis 70 Stunden die Woche.“ Und das oft deutlich mehr als 12 Stunden hintereinander. M. ist keine Ausnahme. Im Sommer kontrollierten die Arbeitsschutzbehörden des Landes  40 Krankenhäuser – jedes zehnte in NRW. Das Ergebnis kam durch eine kleine Anfrage des FDP-Landtagsabgeordneten Dr. Stefan Romberg heraus: In 37 der überprüften Kliniken kam es zum teil zu massiven Verstößen gegen die Arbeitszeitgesetz:  In 22 Krankenhäusern arbeiteten der Ärzte mehr als 10 Stunden am Stück. In 15 Krankenhäusern sogar länger als 24 Stunden hintereinander. Dazu kamen  noch Verstöße bei den Ruhezeiten und verweigerte Ruhetage. 101 Verstöße in 37 Krankenhäusern wurden so gezählt.

Für Dr. Stefan Romberg, selbst Neurologe, liegen die Gründe auf der Hand: „Die Kontrollen sind zu lax und die Konsequenzen bei Verstößen nicht hart genug. Es kann doch nicht sein, dass ein LKW-Fahrer und seine Spedition bei Verstößen gegen die Lenkzeiten härter bestraft werden als ein Krankenhaus, dass seine Ärzte bis zum Umfallen schuften lässt.“ Das sieht auch die Landesregierung so. Auf eine Anfrage der Welt am Sonntag erklärt das Arbeitsministerium künftig Krankenhäuser stärker kontrollieren zu wollen. Im Moment fehle allerdings das Personal: „ Seit der Verwaltungsstrukturreform 2007, die vom damaligen FDP-Innenminister Wolf umgesetzt wurde, sind ca. 20 Prozent der Fachleute in der Arbeitsschutzverwaltung abgebaut worden. Dies bleibt natürlich nicht ohne Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit der Arbeitsschutzverwaltung.“

Die Überlastung ist längst der Normalfall geworden. Fast drei Viertel aller Befragten Klinikärzte haben in einer Befragten gegenüber der Ärztekammer Westfalen-Lippe haben eingeräumt, häufig gegen das Arbeitszeitgesetz zu verstoßen und länger zu arbeiten oder arbeiten zu müssen als zulässig.

Zum Nachteil nicht nur der Ärzte, die durch den Druck und die Belastung in ihrem Beruf ein hohes gesundheitliches Risiko eingehen. Auch für den Patienten ist der übermüdete Arzt eine Gefahr: Nach 24 Stunden ohne Schlaf ist er in seiner Leistungsfähigkeit so eingeschränkt, wie mit einem Promille Alkohol im Blut.

Aber Romberg hat noch einen weiteren Grund für die Probleme in den Krankenhäusern ausgemacht: „Es gibt zu wenige Ärzte. Und das wird sich so bald auch nicht ändern. Das Problem wird in Zukunft größer werden.“

Das bestätigt auch der Marburger Bund, in dem sich viele Klinikärzte zusammengeschlossen haben. 6.000 Ärzte fehlen schon heute in Deutschland – allein in NRW sind es weit über 1000. Und weil in den 90er Jahren die Zahl der Studienplätze von 12.000 auf 8.000 gesenkt wurde, ist von den Hochschule kaum Entlastung zu erwarten: „Damals“, sagt Michael Helmkamp  Sprecher des Marburger-Bundes in NRW, „gingen alle von einer Ärzteschwemme aus. Das war ein Fehler. Heute haben wir einen Ärztemangel. Und der wird schlimmer werden. In den kommenden fünf Jahren werden 71.000 Ärzte in den Ruhestand gehen. Nur 40.000 Ärzte  rücken nach.“ Und das auch nur in der Theorie: Viele Mediziner wollen nach dem Studium nicht in einem Krankenhaus oder einer Praxis arbeiten. Heute gehen 40 Prozent der Absolventen nach dem Studium zu Unternehmensberatungen oder in die Pharmaforschung.

Der Beruf des Arztes ist nicht mehr attraktiv genug. Zwar liegt das Einkommen noch immer über dem Schnitt anderer akademischer Berufe, aber der Preis, den die Ärzte dafür zahlen, ist hoch. Der Beruf lässt sich schwer mit dem Familienleben vereinbaren: Viele Überstunden gehören zum Alltag. Die finden häufig in der Nacht und am Wochenende statt und sind oft schlechter bezahlt als der normale Dienst.

Vor allem viele Absolventinnen, über die Hälfte der Medizinstudierenden  sind weiblich, und wollen nicht nur für ihren Beruf leben.

Auch der demographische Wandel wird keine Entlastung bringen. Zwar wird in den kommenden Jahrzehnten die Bevölkerung immer kleiner werden. Aber sie wird auch älter. Mehrfacherkrankungen und altersbedingte Krankheiten wie Demenz und Diabetes werden allerdings zunehmen. Es wird volle in den Krankenhäusern und Praxen.

„Der Arztberuf muss wieder attraktiver werden“, fordert Stefan Romberg. Er selbst arbeitet auf einer Viertelstelle als Neurologe in einem Krankenhaus. Eine Ausnahme. „Wir müssen viel mehr Teilzeitstellen für Ärzte in den Krankenhäusern anbieten.“

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums ist die Zahl der Teilzeit in den vergangenen zehn Jahren stark angestiegen. Sie hat sich zwischen 1999 und 2009 von 1.537 auf 5.301 mehr als verdreifacht. Teilzeitbeschäftigt waren demnach 2009 15,8 Prozent der Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus. Zum Vergleich:  1999 waren es nur 5,4 Prozent. Im Ländervergleich liegt NRW damit leicht über dem Durchschnitt. Im Ministerium glaubt man dass eine Steigerung der Teilzeitstellen um weitere zwei oder drei zusätzliche Prozentpunkte möglich ist.

Der Marburger Bund fordert daher auch die Entlastung der Ärzte von Verwaltungsaufgaben. Die sollen sich wieder mehr um die Patienten kümmern können. Im Moment ist das nicht der Fall. Ein Arzt verbringt zur Zeit drei bis fünf Stunden am Tag mit dem Ausfüllen von Formularen und dem Schreiben von Berichten. Zeit, die er nicht für seine Patienten arbeiten kann.

Das Problem der fehlenden Klinikärzte ist in NRW ungleich verteilt. In attraktiven Städten wie Köln, Düsseldorf oder Bonn haben die Krankenhäuser noch keine Probleme Ärzte zu finden – auch wenn sie bei immer geringeren Bewerberzahlen kaum noch auswählen können, wer künftig ihre Patienten behandeln soll.

Im Sauerland, Ost-Westfalen und dem nördlichen Ruhrgebiet ist die Lage schon heute schwieriger. Hier ist das kulturelle Angebot klein, hier gibt es  wenig Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten – wer kann, meidet solche Regionen.

Das macht sich schon heute in zahlreichen Praxen bemerkbar. Vor allem auf dem Land finden sich immer seltener Ärzte, die eine Praxis übernehmen wollen.

Krankenhäuser fangen zumindest einen kurzfristigen Mangel durch Honorarärzte auf. Die sind Freiberufler, werden von speziellen Agenturen vertreten und bekommen bis zum Dreifachen des Honorars eines normalen Klinikarztes. Freies Wohnen oder auch mal ein Fahrrad obendrauf sind keine Seltenheit. Und den Normalen Mangel fangen die Kliniken mit Überstunden und Diensten auf – auch gegen das Gesetz.

Abhilfe wird nach der übereinstimmenden Meinung von Stefan Romberg und dem Marburger Bund nur ein Bündel an Maßnahmen bringen: Neben mehr Teilzeitstellen und einer Entbürokratisierung der ärztlichen Arbeit müssen auch wieder mehr Studienplätze geschaffen werden. Ärztefunktionäre fordern schon seit langem einen neuen Studienstandort für Ärzte im ostwestfälischen Bielefeld. Ohne teuren Uni-Klink-Neubau sollen die Medizinstudenten ihre Praxis in verschiedensten Krankenhäusern sammeln, wie es in Bochum schon der Fall ist. Das dortige Uniklinikum besteht aus der Kooperation mehrer Krankenhäuser. Aber ob und wann die Pläne für einen neuen Medizinstudienort Wirklichkeit werden, steht in den Sternen.

Vielleicht hilft ja ein anderer Vorschlag Rombachs, den Mangel an Klinikärzten in Zukunft zu verringern. Der Liberale wünscht sich, dass sich die Universitäten bei der Auswahl der Medizinstudenten künftig weniger stark am Notendurchschnitt orientieren. Das Verfahren würde die Frauen bevorzugen, die im Durchschnitt bessere Abiturnoten als die Männer hätten – aber auch kein so großes Interesse, später in einem Krankenhaus zu arbeiten.

Der Artikel erschien in ähnlicher Form in der Welt am Sonntag

Werbung
Werbung


Gaza: Bloggerinnen leben gefährlich

Asmaa Alghoul

In Gaza werden Bloggerinn bedroht. Ein Beispiel stellt unsere Gastautorin Annina Schmid vor.


Die Bloggerin und Journalistin Asmaa Alghoul aus Gaza, die ich während des Young Media Summits in Kairo kennengelernt habe, hat eine Morddrohung erhalten: Jemand, der sich ‚Masirek‘ nennt, drohte damit, sie vor den Augen ihres Sohnes zu verbrennen. Lina Ben Mhenni, die ebenfalls Teilnehmerin des Summits war, veröffentlichte einen Post, in dem sie ihre Solidarität mit Asmaa bekundet und Masireks verbale Attacke zu recht verurteilt. Asmaa kämpft gegen sogenannte Ehrenmorde und für die Rechte palästinensischer Frauen. Da sie auf Arabisch bloggt, kann ich leider derzeit nicht sagen, welche ihrer Äußerungen die Morddrohung provozierte. Vielleicht kann jemand helfen?

Drohungen gegen Blogger sind übrigens nicht selten. Es gab auch in Deutschland Fälle schlimmer Schikane, die so weit ging, dass sich die Polizei einmischen musste. Auch in Asmaas Fall wurde die palästinensische Regierung bereits in Kenntnis gesetzt. Es ist wichtig, sich stets darüber im Klaren zu sein, dass Drohungen, auch wenn sie nicht in die Tat umgesetzt werden, erstens strafrechtlich relevant und zweitens eine Form der Misshandlung sind. Auf Girls Can Blog gab es erst neulich einen kurzen Post, der das Thema Verbal Abuse behandelte.

Annina Schmidt ist Herausgeberin des Blogs Girls can Blog. Dort ist der Text auch auf Englisch zu lesen.

Guttenberg verleiht Gefechtsmedaillen: Lasset uns stolz sein!

Guttenberg in Afghanistan Foto: Bundeswehr/RC North PAO/Tom McCarthey

Militärisch sei in Afghanistan nichts zu gewinnen, so eine weit verbreitete Redensart. Musste schon bislang der Wahrheitsgehalt dieser Aussage zumindest als zweifelhaft betrachtet werden, lässt sich spätestens seit diesem Wochenende klipp und klar feststellen: Falsch! In Afghanistan ist sehr wohl militärisch etwas zu gewinnen.

Und zwar, wie der „Spiegel“ jetzt in Erfahrung gebracht hat, eine Gefechtsmedaille. Endlich wird ein Kämpfer-Orden für Bundeswehrsoldaten eingeführt. Am 25. November geht es los. Schon in zehn Tagen wird Freiherr von und zu Guttenberg die ersten Exemplare des neuen Ehrenzeichens an auf dem Schlachtfeld gestählte Fighter verleihen. An gestählte wie auch an weniger abgehärtete; denn die Tapferkeitsmedaille soll auch nach dem Tod verliehen werden können.

Entscheidend ist, dass der Soldat sich überhaupt im Kampf erweisen konnte. Mit dieser neuen Regelung reagiert der Bundesverteidigungsminister nunmehr auf den unhaltbaren Zustand, dass jeder Jeti und Pleti die stinknormale Einsatzmedaille der Bundeswehr erhält – allein dafür, dass er oder sie einmal auf Kosten des Steuerzahlers eine Auslandsreise mitmachen durfte. Wirklich wahr: jeder Teilnehmer eines Bundeswehr-Auslandseinsatzes bekommt diese Medaille an die Brust geheftet. Um nicht missverstanden zu werden: kein Wort gegen das Küchenpersonal, nichts gegen die liebenswürdigen Krankenschwestern – ohne ein gut organisiertes Feldlazarett macht auch der schönste Krieg keinen richtigen Spaß. Natürlich: die Ärzte. Es ist wahrlich nichts dagegen einzuwenden, dass so ein Arzt eine Medaille bekommt.

Doch nicht jede deutsche Hand ist zum Wickeln eines Verbands oder zum Führen eines Skalpells geschaffen. Manchmal muss es eben eine G36 sein, das Heckler & Koch – Sturmgewehr für die Infanterie. Gerade im Krieg. Wenn Sie in der Industrie Mitarbeiter besonders hervorheben wollen, denken Sie ja wohl auch zunächst an die Ingenieure und Facharbeiter und nicht an die Putzfrauen und Pförtner. Oder den Betriebsarzt. Na also! Dennoch musste erst ein Mann aus dem Adelsgeschlecht den Ministersessel besteigen, um dem in der Truppe stets verbreiteten gesunden Gefühl für Ehre, Rang und Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen. Karl Theodor zu Guttenberg hat jetzt dieser ehrlosen Gleichmacherei ein Ende bereitet und das neue Ehrenzeichen eingeführt.

Der Kämpfer-Orden stellt eine Sonderstufe der Einsatzmedaille der Bundeswehr dar und darf nur an jene Soldaten verliehen werden, die „mindestens einmal aktiv an Gefechtshandlungen teilgenommen oder unter hoher persönlicher Gefährdung terroristische oder militärische Gewalt erlitten“ haben. An echte Kämpfer eben; sagt man an „Helden“, wird man ja gleich wieder schräg angeguckt. Wie dem auch sei: der Bundespräsident hat dieser wahrhaft überfälligen Reform bereits zugestimmt, und die Truppe hat sowieso diesen Schritt sehnsüchtig erwartet. Ja, es stimmt: es gibt bereits das „Ehrenkreuz für Tapferkeit“. Das haben Soldaten erhalten, die unter Lebensgefahr verletzte Kameraden in Afghanistan geborgen hatten. Respekt! Durchaus. Das können Sie aber nicht mit den Kämpfern auf eine Stufe stellen, die höchstpersönlich den Feind – sagen wir mal: geschwächt haben.

In anderen Nationen kennt man ein sog. „Verwundetenabzeichen“. Nun ja. Ich meine: überlegen Sie nur einmal, welchen Eindruck das hinterlassen könnte, wenn Sie mit sowas in der Heimat – ein Jahr später oder zwanzig Jahre später – bei irgendeinem x-beliebigen Schützenfest aufkreuzen. „Besonders begrüßen möchte ich N.N., Träger des deutschen Verwundetenabzeichens in Bronze, der 2011 bei einem Einsatz in Afghanistan ein Bein verloren hatte!“ – Peinlich, so etwas. Das kam auch weder für das Verteidigungsministerium noch für das Bundespräsidialamt ernsthaft in Frage. Die mussten ihre Ablehnung freilich ein wenig schicklicher begründen. Ein Verwundetenabzeichen für die deutschen Soldaten, haben sie dann mitgeteilt, sei deshalb auszuschließen, weil Verwundungen keine „besondere durch den Soldat zu erbringende Leistungen“ seien.

Na eben. In den Krieg ziehen und als Krüppel zurückkommen kann ja schließlich jeder. Da muss man dann nicht auch noch groß stolz drauf sein. Und wenn man es doch ist: viel Spaß auf dem Schützenfest! Stolz sein kann man im Krieg nur dann, wenn man direkt in der Gefechtssituation dem Feind gezeigt hat, was Sache ist. Wenn man ein paar Taliban oder wen auch immer höchstpersönlich ausgeknipst hat. Dann, aber auch nur dann, hat auch kein Mensch etwas dagegen, wenn man im Kampfe verwundet wird. Oder auch den Löffel abgibt. So etwas gehört dazu. Kein Thema. Wie gesagt: die Gefechtsmedaille gibt es bei Bedarf auch posthum. Für die Gattin, soweit vorhanden. Oder für die Mutti. Dieses Ehrenzeichen wird richtig was darstellen. Auf einem schönen Platz im Wohnzimmer platziert, kann dann auch der Papa auf den Filius so richtig stolz sein.

Der kleine Heimwerker präsentiert: „Wir basteln uns ein Atomkraftwerk“

BildMan hat mich gebeten, das doch bitte sein zu lassen. Aber leider höre ich nicht so gut, seitdem ich meine letzte Atombombe in Nachbars Garten getestet habe und dann die Überreste im ICE abtransportieren mußte, weil Sixt entgegen seiner Werbung einfach viel zu teuer ist…

Nein, bei Atomsachen hört der Spaß definitiv auf. Mir ist es auch völlig unverständlich, wieso ausgerechnet Sixt, die normal schon für Fußspuren auf dem Schweller eine „Sonderreinigung“ vom doppelten Mietpreis heimlich nachträglich abbuchen und sich jeder Diskussion verweigern, so angetan von der Idee sind, auf ihren Auto-Sitzen zukünftig auch leuchtende Uran-Krümel vorzufinden.

Doch es gibt leider Mitmenschen, denen es nicht reicht, ein Atomkraftwerk aus Pappe zu bauen. Die den richtigen Wumms wollen.

Wer mich kennt, sollte allerdings wissen, daß das Folgende keinesfalls zur Nachahmung gedacht ist, sondern als warnendes Beispiel, daß Genie und Doofheit mitunter Hand in Hand gehen.

David Charles Hahn war ein Pfadfinder. Ein besonders aktiver. Sogar ein radio-aktiver. Er wollte jede mögliche Auszeichnung, insbesondere das Atomenergie-Ehrenband. Das bekam er auch, mit 14, im Jahre 1991. Die Eltern waren froh, daß er nun kein Nitrogycerin mehr herstellte. Doch er hatte nicht aufgegeben, er wollte lediglich noch mehr.

Zunächst wollte er eine kleine Neutronen-Kanone herstellen. Dazu gab er sich als Physiklehrer aus und befragte alle Atomfachleute. Dann zerlegte er 100 US-Rauchmelder, die im Gegensatz zu den hierzulande erlaubten mit radioaktiven Präparaten arbeiten.

Da er keine halben Sachen macht, kaufte er als nächstes Tausende von Gasglühstrümpfen, die früher aus radioaktivem Thorium 232 bestanden, und veraschte diese. Dann mischte er das Thorium mit dem Lithium aus Lithium-Batterien im Wert von einigen tausend Dollar. Taschengeld hatte er genug.

Auch das führte noch nicht zur ersehnten Strahlenwaffe. Nun kaufte Hahn alte Radium-Uhren auf. Radium-Zifferblatter strahlen Jahrtausende, auch wenn sie nur einige Jahre leuchten – dann hat die Strahlung den Leuchtstoff zerstört. Obwohl schon in den 20er-Jahren Ziffernblattmalerinnen qualvollst an Verstrahlung starben, weil sie von ihren Chefs dazu aufgefordert waren, die mit Radium getränkten Pinsel regelmäßig abzulecken, waren diese Ziffernblätter bis in die 60er-Jahre üblich.

Wenn man genügend Scheiße zusammenrührt, fängt diese schließlich auch irgendwann an zu kochen: Nachdem Hahn auch noch Uran aufgetrieben hatte, baute er in der Gartenhütte alles zu einem Reaktor zusammen. Dieser wurde so radioaktiv, daß er die Radioaktivität schon von weitem messen konnte.

Nun wurde Hahn das Ganze doch unheimlich, und er packte den Reaktor in den Kofferraum seines Sixt-Mietwagens, um ihn wegzuschaffen. Dabei wurde er um 2.40 Uhr nachts am 31. August 1994 von der Polizei aufgehalten. Nachdem er gestand, wurde für 120.000 $ der gesamte Garten seiner Eltern dekontaminiert und abtransportiert. Die 40.000 umliegenden Einwohner von Michigan waren nicht begeistert.

Danach diente Hahn auf der USS Enterprise, nein, nicht dem Raumschiff, sondern einem Flugzeugträger mit acht Atomreaktoren. Ob er auch hier wieder „Experimentiermaterial“ abzweigte, ist unbekannt.

Dazugelernt hat David Charles Hahn nicht. Er schrieb Bücher über seine Experimente, sein Unfug wurde auch mehrfach verfilmt, doch 2007 zerlegte er wieder Rauchmelder. Das Foto zeigt ihn, nachdem er sich mit radioaktiver Strahlung das Gesicht verbrannt hatte und erneut festgenommen wurde.

Kinder, Drogen nehmen ist gar keine so schlechte Idee…eure Nachbarn.

Die EstNische (6): Lauter Gefahren*

Ich lebe gefährlich in der Stadt an der See. Ich leuchte nicht, wenn es dunkel wird. An mir baumelt keine Reflektorscheibe. Dabei ist das Pflicht. Ich haste durch die Straßen, drücke mich in Hauseingänge, bleibe am liebsten gleich zuhause aus Angst vor der Patrouille. Was, wenn ich auffliege?

„Junger Mann, wo haben wir denn unseren Reflektor gelassen?“ – „Hab keinen, Herr Wachtmeister“ – „So könnenwirse aber nich frei herumlaufen lassen, dann kommense gleich mit aufs Revier!“

Und das auf Estnisch. Eine Erfahrung, die ich nicht unbedingt machen möchte.

Das gilt auch fürs Häuser fotografieren. Hatte neulich diesen Einfall, den verfallenden Holzhäusern Estlands ein Denkmal zu setzen. Am besten mit Plattenkamera. Zum Sonnenaufgang vor das Haus stellen, vorher Probeaufnahmen, Belichtungsmesser, dann nur noch den richtigen Tag abpassen mit wolkenverhangenem konturlosen Himmel. Becher reloaded im Osten. Problem – woher weiß ich, dass die Häuser wirklich unbewohnt sind und nicht plötzlich ein kurzhaariger Angehöriger einer nationalen Minderheit meine Arbeit auffällt. Was, wenn er Dima heißt oder Wladi oder Serg. Oder sein Boss. Oder der Boss seines Bosses?

Im Ausland lauern Gefahren an jeder Ecke. Zum Beispiel Esten zu sagen, das sie nicht Singen können. Dass es sich zumindest nicht so schön anhört. In unseren Ohren. Esten würden das nicht verstehen. Sie haben die „Singende Revolution“ gemacht. Haben die Sowjetrussen aus ihrem Land vertrieben, friedlich, mit Menschenketten, mit Kumbaya und dem Songfestival im Olympiastadion von 1980. Hunderttausende stimmten die Nationalhymne an. Eine rührend schöne Geschichte – das Problem: die Musik, die mir im Radio oder Fernsehen begegnet. Coverbands, die uralte internationale Hits nachspielen mit schlecht gestimmten, mies gespielten Instrumentalteilen und knödelig rausgepresstem Gebrüll.

Ich denke dann, die Esten können besser kochen als singen. Wir saßen in diesem fensterlosen Dorfkrug im Nationalpark. Wir waren die einzigen Gäste, blieben lange sitzen. Die junge Kellnerin hinter der Theke trug Tracht, surfte im Internet und ließ dazu einen Mix estnischer Lieder auf uns los, der unglaublich war. Betrunkene Volkssänger am Schifferklavier waren die Höhepunkte, der Rest klang wie Tony Marschall.

Wir hatten schon Mittags dort gegessen, weit und breit gibt es keinen anderen Gasthof. Wir aßen ausgezeichnete Fischsuppe, Pfannkuchen, Himbeerkonfiture und in Ei ausgebackene Heeringsfilets mit Stampfkartoffeln und ließen dazu krachschlechte Folks-, Schlager- und Popmusik über uns ergehen. Die Frau hinter der Theke blieb ungerührt, sie muss schwerhölrig sein oder die Musik springt nur per Bewegungsmelder an, wenn sich Wanderer dem Lokal nähern. Trotzdem ein entsetzlicher Arbeitsplatz.

Horst Köhler war hier mal zu Besuch in dem Dorfkrug von Altja. Das Foto (bundespraesident.de) zeigt ihn zusammen mit dem estnischen Ex-Ministerpräsidenten, sie haben im Dauerregen die Mittsommernacht gefeiert. Köhler hatte wieder diese weit aufgerissenen Augen, als ob er vor irgendetwas Angst hatte. Neben der Theke hängt einer dieser übergroßen Hüte, die der aus dem Amt geschiedenen Bundespräsident gerne auf dem Kopf hatte. Vielleicht flüchtete er aus der Gastwirtschaft, ließ seinen Hut zurück, nur um dieser Musik zu entkommen.

Vielleicht war es auch mit der „Singenden Revolution“ ganz anders. Wieder Altja, 1987, Esten feiern die Mittsommernacht am Lagerfeuer, es regnet, sie wollen die Unabhängigkeit, in Russland herrscht Tauwetter. Sie schweigen. Dann sagt einer: „Vielleicht können wir singen!?“ – „Singen? Weshalb Singen? Wir können doch gar nicht singen“, grummelt es im Chor der Unabhängigkeitsbewegung.

„Eben.“

* 2010, Ruhrgebiet ist fast vorüber. Das nächste Ding heisst Tallinn 2011, Geschichten von der See. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Werbung
Werbung


Gorleben: Polizei nervös

Der Castor-Transport nähert sich Gorleben. Mahnwachen sind geplant. Es gibt neue Blockaden. Für uns vor Ort: Martin.

8.11. 19.03 Uhr Die Polizei ist nervös. Bei Laase wurden 30 Demonstranten die sich der Straße näherten, auf der der Castor-Transport stattfinden wird, näherten von 300 Polizisten gestellt. Wasserwerfer fuhren auf, Schlagstock und Pfefferspray wurden angedroht.

8.11. 12.00 Uhr: 600 Demonstranten haben sich in Spieltau versammelt und werden über die Geschehnisse der vergangenen Nacht informiert. Ab 16.00 Uhr sind Mahnwachen an der Castor-Strecke geplant. In Gorleben gibt es Blockaden. Ein Problem: Im Vergleich zu gestern ist es sehr kalt.

8.11. 8.25 Uhr: Die Blockade in Harlingen wurde von der Polizei geräumt. 1500 Menschen sind unter freiem Himmel gefangen genommen worden. Viele leiden nach der kalten Nacht an Unterkühlung. In Harlingen wartet nun der Reparaturzug darauf, die Schienen kontrollieren zu können. An der Strecke nach Gorleben sind allerdings zahlreiche neue Blockaden entstanden.

7.11. 20.10 Uhr: Die Blockade in Harlingen besteht weiterhin. Mittlerweile ist die Polizei wieder aufgetaucht. Scheinwerfer wurden aufgebaut und beleuchten die nach wie vor ruhige Szene. Es geht das Gerücht, dass die Polizei nicht genug Einsatzkräfte mobilisieren kann. Es gibt wohl zu viele Blockaden im Wendland und zu viele verschiedene Einsatzorte .

7.11. 17.09 Uhr: Bei Harlingen im Wald sind 5000 Leute auf den Schienen. Die Polizei hat sich zurückgezogen. Die Stimmung ist gut. Die Demonstranten rechnen damit, dass erst kurz vor dem Eintreffen der Castoren geräumt wird.

7.11. 15.20 Uhr: Die Schotter-Aktionen sind scheinbar beendet worden. Bei Harlingen blockieren 2000 Menschen die Schienen, Das ganze in Partystimmung: Ein mobiles Soundsystem ist auch dabei.

7.11. 13.20 Uhr: Martin: Der Kessel bei Leithagen wurde von der Polizei mittlerweile wieder aufgelöst. Die Polizei hat Platzverbote ausgesprochen und zum Teil die Personalien festgestellt. Die Polizei fährt einen Doppelstrategie: Im weiteren Umfeld um die Castro-Strecke agiert sie zurückhaltend. Die Strecke selbst wird allerdings mit allen Mitteln gehalten. Wasserwerfer sind im Einsatz. Die Polizei setzt Tränengas ein.

7.11. 12.20 Uhr Meldung von Martin: „Im Wendland ist viel Bewegung mit tausenden Leuten. Unklar ist, wie erfolgreich die Aktionen sind. Westlich von Leithagen wurden 200 Leute von der Polizei eingekesselt.“

6.11. 15.20 Uhr: Die Polizei in Dannenberg ist prügelnd auf  eine Gruppe Demonstranten losgegangen. Die hatten versucht eine Straße zu unterhölen.

6.11. 15.04 Uhr. In Dannenberg ist das Netz zusammengebrochen. Der Ort der Demonstration ist „rappelvoll“, Staus gehen bis Lüneburg. Die Polizei hält sich bislang vor Ort zurück.  Wenn wir die nächste SMS bekommen, geht es weiter. Ansonsten empfehlen wir den Ticker der Kollegen von der taz.

Künast gegen Wowereit – Dieser Wahlkampf bestimmt nicht nur die Zukunft der Hauptstadt

Wenn ich in Berlin gewesen wäre, dann hätte ich von meinem Loft-Büro im Wedding direkt auf den Gebäudekomplex  schauen können, in dem die Berliner Grünen den Nominierungsparteitag für Renate Künast veranstaltet haben. Es sind die ehemaligen BVG Werkstätten die zu Zeit mit dem Geld der Lottostiftung zum Zentrum für zeitgenössischen Tanz ausgebaut werden. 100% Zustimmung für ihre Kandidatur fuhr sie ein und setzte lauthals auf Sieg. Damit ist der Berliner Wahlkampf eröffnet.

Wowereit hat schon  viel früher seine erneute Kandidatur verkündet. Seine Ambitionen auf eine mögliche SPD-Kanzlerkandidatenschaft liegen offensichtlich seit längerem auf Eis. Seine darauf zurückgeführte  und von den Medien immer wieder behauptete  Amtsmüdigkeit hat ihm aber bislang nicht sonderlich geschadet. Mit der nun offiziellen Kandidatur  von Renate Künast  wird sie jedoch, egal ob real oder nur gefühlt,  ab sofort zu Ende sein. Zum ersten Mal hat Wowereit einen ernst zu nehmen Gegner, und wenn er verliert ist es auch mit seinen Bundesambitionen aus.

Renate Künast, obwohl nicht in Berlin geboren und aufgewachsen sondern im Ruhrgebiet, gilt als waschechte „Berliner Schnauze“. Was nicht verwunderlich ist, denn wenn es zwei  Menschengruppen in deutschen Landen gibt die sich mental und vom sprachlich Duktus erstaunlich ähnlich sind, dann sind es die Ruhris und die Hauptstädter.  Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Berliner sich zur Zeit auf dem  auf- und die Revierbürger trotz allem Kulturhauptstadtgeschwurbels immer noch auf dem absteigenden Ast befinden.

Wichtiger aber für den Ausgang der Wahl ist, dass die Berliner mehrheitlich  der Überzeugung sind,  dass sie ihren Wiederaufstieg eben diesem  „Und das ist gut so“ Wowereit verdanken. Er personifiziert das neue Berlin wie Niemand anders, egal ob er sich dabei gerade müde fühlt oder nicht. Er hatte nicht nur den ganz persönlichen  Mut sich als schwul zu outen sondern auch den politischen Mut zu einer Koalition die sich in Deutschland bislang aus gutem Grund nur wenige trauen. Die damit verbundene politische und mentale Integrationsleistung im wiedervereinigten Berlin wird ihm jedoch einmal historisch als eine seiner größten politischen Leistungen angerechnet werden.

Deswegen ist, obwohl die Grünen zu  Zeit auch in Berlin auf ihrem Allzeithoch schweben, das persönliche politische  Risiko für Frau Künast nicht zu unterschätzen. Sie hat es  durch ihre Sieg-und-nur-Sieg-Position obendrein ohne Not erheblich erhöht. Die Berliner sind aus ihrer wechselvollen Geschichte besonders misstrauisch gegenüber Leuten, die nur dann  für sie aktiv bleiben wollen, wenn sie zu den Gewinnern gehören.  Sie wollen dass man ohne Wenn und Aber zu ihnen und ihrer Stadt steht. Und sie haben es verdient.

Inhaltlich, und da hat die CDU in ihren ersten Verlautbarungen recht, hätten die Grünen in der Regierungsverantwortung in Berlin nicht allzu viel anders gemacht, als die jetzige rot-rote Koalition. Wahrscheinlich hätten sie auch die Stadtautobahn weiter gebaut und beim Projekt Media Spree haben sie sich sowieso nicht mit Ruhm bekleckert. Es ist also ein Kampf innerhalb des Lagers links von den Christdemokraten, das  in der Hauptstadt sowieso schon seit längerem das kulturelle und politische Sagen hat.

Aber da geht es um nicht weniger als den Führungsanspruch. Und das nicht nur in Berlin sondern im ganzen Land. Berlin ist hier „nur“ der erste Aufschlag  und das in einer Zeit in der die Grünen nicht nur die SPD zu überholen beginnen sondern Anstalten machen, auch wieder zur Bewegungspartei zu werden. Nicht umsonst wurde das Parteitreffen  im Wedding um einen Tag verschoben, damit die Delegierten und vor allem die Parteiprominenz sich auch mal wieder als Straßenkämpfer präsentieren konnten.

Gegen eine Atompolitik die durch die von purem Lobbyismus getriebene  Dummheit und Dreistigkeit dieser Bundesregierung  diesen rigorosen Protest geradezu herausfordert. Stuttgart scheint nur der Anfang gewesen zu sein. Deutschland gerät (wieder) in Bewegung und das wird am Berliner Wahlkampf nicht spurlos vorbei gehen. Der nun beginnende, von zwei auch deutschlandweit  als prominent, eloquent und beliebt geltenden Politikern  geführte  Streit  über die Zukunft der Hauptstadt wird nicht ohne Wirkung auf die Politik in ganzem  Land bleiben und umgekehrt. Egal wie er stimmenmäßig ausgeht.