Die Estnische (4): Ein Umrechnungskursus*

In meinen ersten Semesterferien saß ich in der Toscana neben meiner Isomatte und stoppte, wie lange Ameisen brauchen, die Matte zu überqueren. In der Mittagshitze stellte ich fest, dass das Insekt, auf Menschengröße vergrößert, in einer Sekunde umgerechnet 80 Meter zurücklegen würde, anders gesagt, die Ameise rast mit 260 kmh über den Waldboden. Die Esten lieben solche Geschichten. Auch das kleine Land mit seinen knapp 1,3 Millionen Einwohnern rechnet sich gerne hoch.

Spielt Estlands Nationalmannschaft Fußball trifft das Land fast immer auf übergroße Gegner, etwas anderes als eine deutliche Niederlage ist also nicht zu erwarten. Zum Beispiel Italien mit gut 60 Millionen Einwohner, darunter 1,5 aktive Millionen Fußballer. Ging es fair zu in der Welt und im Sport könnte Estland nicht auf rund 40.000 Fußballer, sondern auf zwei Millionen zurückgreifen. Mit dem Faktor 50 multipliziert hätte auch die Partie gegen den dreimaligen Weltmeister anders ausgesehen. Es hätte nicht drei, sondern 150 glasklare Torchancen für Estland gegeben, das Spiel wäre 50 zu 2 ausgegangen, wobei strittig ist, ob Gegentore überhaupt gefallen wären. Unklar auch, ob 50 nicht gegebene Elfmeter gezählt worden wären oder der Schiedsrichter der Fußballgroßmacht Estland die Strafstöße nicht mehr verwehrt hätte.

Gegen Usbekistan das gleiche Spiel, immerhin kam in dem ungerechten Größenvergleich ein Unentschieden mit sechs Toren heraus, darunter ein direkt in den Torwinkel gezirkelter Eckstoß. Aber Usbeken gibt es 27 Millionen. Estland mal neunzehn hätte im Duell der einstigen Sowjetrepubliken die Asiaten vermutlich nicht geschlagen, sondern vom Platz gejagt.

Ihre Rechnung machen die Esten auch mit der Geschichte auf. Eigentlich war das Land immer besetzt. Erst von Dänen, den deutschen Ordensrittern, dem deutschstämmigen Adel, Schweden, Russen, Sowjets. Es gab ein wenig Republik nach dem ersten Weltkrieg und seit 19 Jahren das moderne Estland. Für die Esten ist das eine tolle Sache, erst Recht nach dem Beitritt zu EU, NATO und der Einführung des Euro in knapp vier Monaten. Damit sie sich nicht vertun mit dem neuen Geld kriegen alle Haushalte jetzt Post von den estnischen Großbanken mit, genau, Umrechnungstabellen.

Es stand noch nie so gut um die estnische Sache wie heute. Trotzdem sind die Verbrechen der sowjetischen Besatzer, die sowjetisch-russische Okkupationszeit, vielen Esten noch so vor Augen, als ob es gestern war. Vermutlich auch deshalb, weil das russischstämmige Drittel der Bevölkerung und die Nähe der Grenze sie täglich daran erinnern. Und typisch estnische Umrechnungen: In aktuellen Publikationen wird der Rote Terror der Sowjets geschildert, der wirklich grausam wütete. 30.000 Esten wurden verschleppt, mehr als tausend wurden zwischen 1941 und 1944 und nach dem Krieg hingerichtet. Als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, werden auch die Opfer hochgerechnet. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wäre es den Esten so gegangen als hätte Deutschland 14 Millionen Menschen verloren, Großbritannien 8, die USA gar 22 Millionen.

Das Rechenexempel mit dem schaurig-großen Nachbarn im Osten führt schnell zu Anklagen, wie sie ein ehemaliger Premierminister Estlands vorträgt: Sowjetrussland habe einen Völkermord an den Esten verübt. Doch anders als die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber den Juden habe sich Russland nie entschuldigt, die Verantwortlichen liefen frei herum, statt sich vor einem internationalen Gericht zu verantworten. Verständlich wütend, aber ein unzulässiger Vergleich und eine verdrehte Arithmetik: Wer hat sich bei den Millionen russischer Opfer des Stalinismus entschuldigt?

Auch heute trägt das kleine Estland erstaunliche Lasten – vor allem militärische. Estland war im Irakkrieg dabei und stellt eine Einheit von 150 Berufssoldaten im afghanischen Süden. Schwierige Einsätze. Gerade kam der elfte estnische Soldat ums Leben, die Regierung würdigte den jungen „Kämpfer“ und appellierte an die Heimat, die Truppen weiter emotional zu unterstützen. Trotzdem, elf tote Esten, acht in Afghanistan ist ein ziemlicher Hammer. Rechnet man auf estnische Art hätte Deutschland nicht 50, sondern 500 tote Soldaten in Afghanistan betrauern.

*2010, Ruhrgebiet ist so gut wie vorüber. Das nächste Ding heißt Tallinn 2011, Geschichten von der See. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Links draußen – Höger, Dierkes, Steinberg & Co.

Neuerdings gelten sie als zu lasch: Linke-Politiker wie Norman Paech, Wolfgang Gehrcke oder Annette Groth, die sich selbst als »israel-kritisch« bezeichnen. Im Umfeld der Partei werden sie beschimpft…

… denn eine seit wenigen Wochen kursierende Unterschriftensammlung mit dem Titel »Menschen- und Völkerrecht sind unteilbar« geht noch weiter und fordert die Einstellung aller Annäherungen der Partei an Israel. Zugunsten einer vermeintlich propalästinensischen Solidarität. Dass im April die Bundestagsfraktion ein Papier verabschiedete, in dem sie sich zum Existenzrecht Israels bekennt und unter anderem das »sofortige Ende des palästinensischen Raketenbeschusses« fordert, bringt die Freunde eines harten Kurses gegen den jüdischen Staat noch mehr in Rage.

Als Initiator des »Menschen-und Völkerrechtspapiers« gilt Thomas Immanuel Steinberg, ein sich seit Jahren im Milieu tummelnder selbsternannter Publizist. Die Parteiprominenz, auch ihr »israelkritischer« Teil, fehlt unter den über 150 Unterschriften fast völlig. Einzig Inge Höger, die Bundestagsabgeordnete, die Ende Mai zur Besatzung der umstrittenen Gaza-Flottille gehörte, hat signiert. Von »Apartheidähnlichen Verhältnissen« in Israel ist die Rede, der Zionismus sei Rassismus und basiere auf dem europäischen Kolonialismus. Daher solle Deutschland keine Waffen nach Israel liefern, und Produkte, die in den besetzten Gebieten oder Ostjerusalem hergestellt werden, dürften nicht nach Europa exportiert werden. Sogar, dass die Palästinenser das Recht hätten, ihren »Befreiungskampf bewaffnet zu führen«, ist da zu lesen. Das gehe »gegen die Repressionsorgane der Unterdrücker«, sagt Mitinitiator Steinberg, der das Papier auf seiner Webseite präsentiert. Wer wen bedroht, ist für Steinberg klar: »Die israelische Seite ist somit Täter, die palästinensische Seite Opfer.« Wolfgang Gehrcke, der als strategischer Kopf der »Israelkritiker« gilt, sieht für Steinbergs Petition hingegen keinen Bedarf: »Das Positionspapier der Fraktion Die Linke ist klar und eindeutig.« Dem Obmann der Partei im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags genügt das: »Deswegen werde ich gegenwärtig keine weiteren Positionspapiere unterzeichnen.«

Bei den als Pro-Israel-Fraktion geltenden Kräften in der Partei bleibt man trotz Steinbergs Kampagne gelassen. Das Papier gebe nur die Meinung einiger weniger Mitglieder der Linkspartei wieder. Nicht mal den Sprung auf Tagesordnungen von Parteiveranstaltungen habe es geschafft, sagt man beim BAK Schalom, dem Bundesarbeitskreis in der Linksjugend, der für die israelfreundlichsten Thesen in der Partei steht. »Die große Mehrheit der Partei vertritt in Bezug auf Israel jene Positionen, die die Fraktion im Bundestag am 20. April in Form des Positionspapiers formuliert hat«, heißt es im BAK. Gleichwohl rüsten die Kräfte auf, die einen Ausverkauf der internationalen Solidarität wittern, wenn Linke israelische Sicherheitsinteressen ernstnehmen. Steinbergs Petition gehört zu dieser Kampagne, auch ein mit viel Aufwand vertriebenes Buch des umstrittenen Duisburger Lokalpolitikers Hermann Dierkes und der Publizistin Sophia Deeg, Bedingungslos für Israel?, gehört dazu. Und abgewickelte DDR-Professoren wie Detlef Joseph tingeln mit Buchtiteln wie Vom angeblichen Antisemitismus der DDR durch die Lande. Der Umstand, dass im Nahen Osten ein jüdischer Staat existiert, löst bei einigen innerhalb und außerhalb der Links-Partei Obsessionen aus.

Nicht zuletzt deswegen sieht Samuel Salzborn, Politologe und Antisemitismusforscher, bei der Partei Die Linke ein »handfestes Antisemitismusproblem«. Zwar finde sich in den Papieren der Steinbergs, Dierkes’ und Josephs ein »Sammelsurium von linksextremen, israelfeindlichen Parolen der letzten Jahrzehnte«, und die Unterzeichner seien oftmals Personen, »die gern wichtig wären – für die sich aber politisch letztlich niemand wirklich interessiert«. Aber, fügt Salzborn hinzu, immer wenn Petra Pau oder der BAK Schalom den Israelhass in ihrer Partei thematisieren, begegnet ihnen eine erstaunlich breite Front des Widerstands.

Der Artikel, den ich zusammen mit meinem Kollegen Martin Krauss von der Wochenzeitung „Jüdische Allgemine“ verfasst habe, erschien zuerst hier.

Im Dunkeln munkeln knipsen

Low-Light-FotografieZum Fotografieren braucht man zunächst mal Licht. Was aber, wenn grad keins da ist und man auch nicht mit eigenen Lichtquellen die einzigartige Stimmung zerstören will?

Die besten Partybilder erhält man bekanntlich, indem man das Licht löscht, 20 Sekunden wartet und dann mit Blitz fotografiert!

Sonst ist Blitzlicht allerdings nicht unbedingt das Mittel der Wahl, wenn es um Aufnahmen bei wenig Licht geht.

Wie es besser geht, erläutert das Fachbuch „Low Light Fotografie“ (eigentlich ein Untitel, es müßte schon „Low Light Photography“ heißen!) des Amerikaners Michael Freeman, das Markt & Technik übersetzt auf Deutsch herausgebracht hat. Gerade das Richtige für jemanden wie mich, der gerne ohne Blitz fotografiert.

Etwas überraschend für Einsteiger – das Buch ist für mittelerfahrene Fotografen bestimmt, nicht für Vollprofis – ist, daß sich mehr als die Hälfte des Buches gar nicht mit dem Fotografieren beschäftigt, sondern mit der Nachbarbeitung der Aufnahmen am Computer. Doch dies ist auch meine Erfahrung: Aufnahmen bei schlechtem Licht werden meist erst dann etwas, wenn man sie im RAW-Format macht und das Ergebnis anschließend nachbarbeitet – im Originalzustand sind Rauschen, Weißabgleich und Belichtung bei Schwachlichtaufnahmen einfach katastrophal.

Auch sind manche Aufnahmen nur mit Ständer Stativ möglich – und da kann man auch so einiges falsch machen.

Neben Romantikern, die gerne bei Mondlicht fotografieren, ist das Buch auch für Reporter, Konzertfotografen & Co. relevant – oft darf ja nicht geblitzt werden oder der Blitz würde die Stimmung „töten“.

Zum Überblick hier das Inhaltsverzeichnis:

einführung 6

kapitel 1
Low-Light 8
licht und sensor 10
grenzen und kompromisse 16
lichtquellen 18
kontrast 20
lichter retten 22
schatten öffnen 26
natürliche schatten 30
farbtemperatur 32
weissabgleich und farbton 34
kameraeinstellungen
für low-light 36
natürliches low-light 38
künstliches low-light 48
farbtemperaturen mischen 58
farbe selektiv ändern 60
farbprofilierung 64

kapitel 2
freihändig fotografieren 66
freihändig oder fest? 68
stabilisieren 72
Stative und zubehör 78
elektroniSch StabiliSieren 82
lichtStarke objektive 86
Schärfe bei offener blende 90
Schärfe definieren 92
techniSche bearbeitung 94
unSchärfe finden 96
unSchärfe korrigieren 104
Schärfentiefe auSweiten 110
bewegungSunSchärfe
korrigieren 112
objektiv- und bewegungSunSchärfe
korrigieren 116
extreme bewegungSunSchärfe 118
bilder in
ebenen kombinieren 120
mitziehen für Schärfe 124
gezielte bewegungSunSchärfe 126
raw bei Schwachem licht 128
raw zweimal entwickeln 132
freihändige hdr-aufnahmen 136
PSeudo-hdr 138
rauScharten 142
rauSchen reduzieren 146
blitzlicht 156

kapitel 3
statisch fotografieren 158
Stative 160
Stative im einSatz 164
StativköPfe 166
befeStigungSmaterial 170
bewegungSunSchärfe mit Stativ 172
langzeitbelichtung
und rauSchen 174
aufnahmeSerie für
rauSchreduzierung 178
kontraStumfang 180
globaleS überblenden 184
manuelleS überblenden 186
emPfindlichkeit überblenden 188
überblenden-Software 190
hdr-aufnahmen 194
hdr-aufnahmen montieren 196
tonemaPPing 200
Photomatix 204
PhotoShoP 206
fdrtoolS 208
eaSyhdr 210
geiSterbilder 212

Freude ist…wenn ein animiertes GIF von 2 x 1 m crasht…

P1030025crEs gibt ein festes Gesetz in Deutschland: Werbung ist erst dann gut, wenn sie nervt, ärgert, auf den Sack geht. Deshalb rülpst und gackert es im WWW auch auf den meisten Seiten in Flash.

Leider werden diese rüden Sitten inzwischen in das Offline-Leben übernommen – und da gibt es keinen Flash-Blocker. Aber manchmal zumindest einen ‚Browser-Crash‘.

Aus anderen Ländern kennt man die „Cannes-Rolle“ mit den lustigsten Werbefilmen. In Deutschland gibt es im Kino auch mal eine witzige Werbung, die meiste Werbung ist aber „für total Doofe“. Im Fernsehen genauso, es wird brüllend laut, man muß einfach sofort den Ton abstellen, damit einem nicht die Bücher aus dem Regal fallen und die Nachbarn die Bullerei holen.

Übers Radio schweigen wir besser, im Zeitalter der Stationstasten hilft hier eine schnelle Reaktion. Im Internet zappelt und röhrt es auch auf allen Seiten, „Flash“ heißt hier das Mittel der Qual.

„Holzmedien“ und Plakate sind dagegen immerhin noch statisch. Normalerweise.

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Leider auch nicht immer: Aus der Computerzeitschrift purzelt garantiert beim Einsteigen in die gerade noch erwischte U-Bahn ein 1&1-Einleger auf den Bahnsteig („Junger Maaaann! Sie haben gerade etwas verloren, würden Sie das bitte wieder aufheeeben?!!!i“). Und Plakate bewegen sich inzwischen leider auch. Vordergründig, um mehrere Werbeflächen verkaufen zu können – tatsächlch, weil Bewegung aufregt, alarmiert, zum Hingucken reizt. Deshalb sind bewegte Plakate an Straßen auch in Deutschland verboten.

Nicht so in Bahnhöfen. Wenn man so in Gedanken zum Zug rennt und sich plötzlich vor einem der Boden hebt, daß es einen vor Schreck fast hinlegt, so denkt man erst einmal an ein Erdbeben oder einen Bombenanschlag. Ist aber nur ein Plakat, das eine ganze Wandsäule bedeckt und gerade nach oben rollt. Nerv!

Ab und zu verheddert sich so ein Teil aber mal. Ist nämlich reine Mechanik, gepaart mit einer Menge an Leuchtstofflampen, bei der so manches Solarium vor Neid erblassen würde. Und dann ist Schluß mit der Großflächen-Animation – und es wird in den dunklen Gängen plötzlich taghell.

Leider gibt es keine (legale) Methode, diese Werbeplakate abstürzen zu lassen.

Aber immerhin die Freude, daß am nächsten Tag wieder eins gecrasht war – und diesmal auch die anderen mit anhielt:

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Die EstNische (3): Bärentöter

2010, Ruhrgebiet ist so gut wie vorüber. Das nächste Ding heißt Tallinn 2011, Geschichten von der See. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Achtung jetzt wird’s schmutzig: Auswandern ist kein Zuckerschlecken.

Estland, sagte mir Vannu, Estland sei nicht Tallinn, nicht nur irgendeine Hauptstadt am Meer, Estland sei das Land außerhalb der Metropole, die Wälder. Draußen im Westen hat Vannu selbst etwas Land und Wald. Gerade sei ein Bär dort erschossen worden. Vannu bringt das jede Menge Ärger: 20 Formulare, Papierkrieg, 30 Kronen Gebühren, schimpft er. Besser wenn der Bär beim Nachbarn gelegen hätte. Was es koste, in Estland einen Bären zu erlegen? Vannu versteht die Frage nicht. „Sagte ich doch“, murmelt der selbst ziemlich bärtige Este: „30 Kronen und zwanzig Formblätter.“

War aber sicherlich nur so dahin gesagt beim Bier in der Kellerbar. Einen Bären zu töten, ist auch in Estland teuer. Jedes Jahr werden nur drei zum Abschuss freigegeben. Ein Braunbär wird ein paar tausend Euro kosten, für einen Luchs muss ein Jäger 1.600 Euro hinlegen, für einen ausgewachsenen Elch 4.000 Euro. Preisbewusstere Jäger können aber auch auf Biber (80 Euro) und Füchse (10) anlegen in diesem Land, das eigentlich ein Wald ist.

In Tallinn merkt man den Wald nur an dem vielen Brennholz, das vor jeder Tankstelle aufgestapelt ist.

Als ich in meiner neuen Zweitheimat ankam, habe ich selbst wie eine Tanke gerochen. Oder wie der Golf von Mexiko. Hatte mir Zugsalbe auf die Backe geschmiert gegen einen eitrigen Pickel, fühlte mich wie ein Hering im Ölteppich. Tatsächlich ist schwarze Salbe wie der schwarze Schleim, mit dem sich nordamerikanische Ölbarone johlend von oben bis unten einsauen, wenn die Bohrung erfolgreich war. In Texas werden sie wenig Probleme mit Furunkeln haben.

Hergestellt wird Schwarze Salbe aus Ölschiefer, dem einzigen Bodenschatz Estlands – neben Wald und Jagdtrophäen. Und manchmal liegt hier ein Geruch nach Sprit in der Luft, dass ich denke, es könnte sich lohnen zu bohren. Um dann im Ölregen zu tanzen. Problem: Ölschiefer ist erstmal nicht flüssig, eine Art Sand, lockeres Gestein, mehr oder weniger bedeckt von anderen Gesteinsschichten.

In Estland kann man Ölschiefer im Tagebau abbauen oder unter Tage, auch mit Bohrlöchern. In das erste wird heißer Dampf gepustet, um Bitumen aus dem Sand zu lösen, in dem anderen steigt es dann als schwarzes dickflüssiges Erdöl zu Tage. Von Duschen ist mir nichts bekannt, wohl aber dass die Ölschieferindustrie eine ziemlich schmutzige Angelegenheit ist. Es wird Landschaft verbraucht im Nordosten Estlands. Sand und andere Überreste müssen nach der energieintensiven Dampfattacke deponiert werden. Und natürlich ist der CO2-Ausstoss der zwei estnischen Kraftwerke erheblich. Trotzdem setzt Estland – erst Recht angesichts „peak oil“ – voll auf sein Ölschiefer, und ich mit: Ohne Strom und andere Netze wäre es doch ziemlich anders hier. Wald eben.

Allmachtsträume auf Chinesisch: Shanghai Expo 2010

Shanghai Expo 2010, Bild: Gerhard Holzmann Nicht nur im Pott gibt es Leute, die sich unbedingt zu Lebzeiten ein Denkmal setzen wollen. Noch schlimmer als RUHR.2010 ist die Shanghai EXPO 2010.

Ein guter Freund war dieser Tage beruflich in Shanghai und nutzte die Gelegenheit, sich auch die EXPO 2010 anzusehen. Für diese wurde ein ganzer Stadtteil evakuiert und plattgemacht.

Er war nicht begeistert:

Ich war nur in drei oder 4 Pavillions…Wartezeiten von 3 bis 6 Stunden in den guten Pavillons – dafür war mir die Zeit zu schade.

Was mir aufgefallen ist – so gut wie jeder Pavillon hat einen starken Bezug zum dargestellten Land, der auch international erkennbar ist. Nur die Deutschen und die USA haben irgendein Hightechklotz hingehauen der m.E. mit Deutschland oder eben den USA so rein gar nichts zu tun hat.

Deutschland hatte übrigens weit mehr als drei Stunden Wartezeit in der Schlange um überhaupt hineinzukommen (siehe Bild, das war ca. bei dreiviertel der Warteschlange gestanden). Wenn man da auch nur annähernd alle Pavillons ansehen wollen würde, dann würde man mind. eine wenn nicht zwei Wochen Zeit benötigen…

Aber im Grunde ist es nicht mehr als eine Touristenmesse, vielleicht interessant für den ein oder anderen Architekten aber richtig technische Neuigkeiten, Erfindungen oder ähnliches waren nicht zu sehen. Dazu noch die vielen Menschen und die Hitze … Naja – ich war mal auf einer Weltausstellung und damit isses auch schon gut 🙂 wird mir wohl nicht mehr passieren, dass ich mich durch so ein Ding quäle….

Gut, das ist die Seite des Besuchers – doch auch für die Chinesen ist dieses Monsterprojekt keine Freude: Wie der Dokumentarfilm „Shanghai Dreams“ verrät, wurde ein ganzer Stadtteil Shanghais für die EXPO „entwohnt“, abgerissen und planiert. Und ich persönlich finde nicht nur den deutschen und auch den (im Film gelobten) französischen Pavillion häßlich, sondern die meisten, die mein Freund fotografiert hat.

„Die meisten Juden halten Adorno für einen Rotwein“

In seinem Buch „Der koschere Knigge“ gibt Autor Michael Jonathan Wuliger Tipps für den entkrampften deutsch-jüdischen Dialog. Im Interview spricht er über Klischees, den durschnittlichen Juden und wohlmeinende, aber auch sehr nervige Menschen – die Philosemiten.

Herr Wuliger, Ihr Buch „Der koschere Knigge“ verspricht, trittsicher durch die deutsch-jüdischen Fettnäpfchen zu führen. Ist das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden immer noch so verkrampft, dass ein solcher Leitfaden nötig ist?

Ja. Aus den bekannten historischen Gründen können offenbar die meisten Deutschen nicht unbefangen mit Juden umgehen. Lassen sie in einer Gruppe von Deutschen einen Juden los – schon verkrampft sich alles, einschließlich der Körperhaltung. „Er ist Jude, aber sehr nett“, habe ich vor einiger Zeit mal bei einer Party aufgeschnappt. Der Satz war keineswegs böse gemeint, aber er bringt die deutsch-jüdischen Verklemmtheiten voll auf den Punkt. Übrigens, dem „Knigge“ im Titel zum Trotz ist mein Buch kein ernstgemeinter Benimm-Leitfaden. Es müsste eigentlich heißen: trittsicher in die deutsch-jüdischen Fettnäpfchen. Das Schöne am verkorksten deutsch-jüdischen Dialog ist ja, dass er jede Menge komplett absurder Situationen produziert und so unfreiwillig zu einer unerschöpflichen Quelle komischer Geschichten wird – und genau die sind Thema meines „Knigge“.

Dabei geben sich doch viele Deutsche so große Mühe, es ihrem jüdischen Gesprächspartner Recht zu machen.

Sie meinen die Philosemiten. Sehr wohlmeinende, aber auch äußerst nervige Menschen. Sie haben ein so positives Bild von Juden, dass man ihren Erwartungen nur sehr, sehr schwer gerecht werden kann. In den Augen solcher Leute muss jeder Jude mindestens ein Martin Buber sein. Darunter tun sie es nicht. Man wagt sich kaum in der Nase zu bohren, wenn man mit ihnen redet, weil man fürchten muss, dass dadurch ihr mühsam aufgebautes Judenbild ins Wanken geraten könnte.

Als exemplarisches Beispiel für das Verhalten von Philosemiten berichten Sie von Ihrem alten Klassenlehrer…

… der mir in der 10. Klasse, nachdem ich zum vierten Mal hintereinander ein „Mangelhaft“ in Physik auf dem Zeugnis stehen hatte, sagte, ich solle mich gefälligst mehr anstrengen. An der Begabung könne es ja wohl nicht liegen – Einstein sei schließlich auch Jude gewesen.

Das klassische Klischee: Alle Juden sind reich, gebildet und außerordentlich intelligent.

Ich empfehle allen Philosemiten den Besuch einer jüdischen Gemeinde in Deutschland, und sie werden feststellen, dass es ungemein viele strohdoofe Juden gibt. Das Gros der Juden gehört soziologisch und von der Mentalität her zur Spezies des Kleinbürgers. Sie sind genauso borniert wie die Mehrheit der Bevölkerung. Adorno halten die meisten Juden wahrscheinlich für einen italienischen Rotwein. Falls gerade Juden das lesen: Ihre Gemeinde ist natürlich nicht gemeint. Dort ist es selbstverständlich völlig anders.

Was ist der Grund dafür, dass Juden nicht als normale Menschen wahrgenommen werden, sondern zu Projektionsflächen werden?

Dafür gibt es eine schlichte statistische Erklärung: In der Bundesrepublik leben rund 80 Millionen Menschen. Von denen sind rund 200.000 Juden. Das macht gerade mal 2,5 Promille der Gesamtbevölkerung, ein Wert, der sonst nur bei Straßenverkehrsdelikten relevant ist. Der durchschnittliche Deutsche ist deshalb in seinem Leben noch nie einem Juden begegnet. Was er von Juden weiß, hat er aus den Medien oder dem Schulunterricht. Und dort tauchen Juden vor allem in zwei Kontexten vor: der Schoa und dem Nahostkonflikt. Eventuell kommt noch Religiöses dazu. Der durchschnittliche Jude in Deutschland hat aber in der Regel weder eine Nummer auf dem Arm tätowiert, noch trägt er eine Uzi. Fromm ist er meist auch nicht. Wenn er einen Bart hat, dann einen in der modischen 3-Tage-Variante.

Was also empfehlen Sie Ihren nichtjüdischen Lesern, wie sie reagieren sollen, wenn sie zum Beispiel auf einer Party einen Juden treffen?

Gehen Sie mal davon aus, dass dieser Jude höchstwahrscheinlich Ihnen ähnlicher ist, als Sie vermuten. Die Bundesliga interessiert ihn mehr als die Lage in Gaza, über die Fahreigenschaften seines Wagen denkt er häufiger nach als über die Vergangenheitsbewältigung. ABBA hört er lieber als Klezmermusik. Und öfter als den Talmud liest er den Kicker. Also nerven Sie den armen Mann – oder die Frau – nicht mit Ihrer Betroffenheit beim Besuch des Holocaustmahnmals oder Ihren Ideen zum Nahostkonflikt. Fragen Sie ihn bitte auch nicht nach komplexen Details der religiösen Speisegesetze. Er kennt sie wahrscheinlich nicht. Sie würden ja auch, wenn Sie Katholik sind, beim Bier keine Debatte über die theologischen Aspekte der Transsubstantion führen wollen. Ach und noch was: Sie müssen einen Juden auf der Fete nicht zwingend mit „Schalom“ begrüßen. Ein freundliches „Guten Tag“ reicht völlig aus.

Wie reagieren Sie selbst, wenn jemand es dennoch nicht lassen kann, Ihnen als Beleg für seine Verbundenheit zum Judentum beispielsweise ausführlich von seiner Zeit im Kibbuz zu berichten?

Ich bin heute in einem Alter, in dem ich nicht mehr versuche, den deutsch-jüdischen Dialog auf eigene Kosten voranzubringen. Es gibt Interessanteres. Wenn jemand mich damit nervt, wechsle ich mehr oder weniger höflich das Thema. Das führt natürlich auch wieder zu Verstimmungen. Da hat jemand mühsam sein gesammeltes Halbwissen über Juden hervorgekramt, um mir vermeintlich einen Gefallen zu tun – und ich bin gelangweilt. Schon ist der deutsch-jüdische Dialog wieder empfindlich gestört.

Wann glauben Sie wird der deutsch-jüdische Dialog frei von diesen Verkrampfungen sein?

Das deutsch-jüdische Verhältnis wird an dem Tag ein normales sein, wenn jemand einem jüdischen Arschloch begegnet und hinterher sagt: „So ein Arschloch“ und nicht: „Ein typisch jüdisches Arschloch.“ Ich fürchte, bis dahin dauert es aber noch eine Weile.

Das Gespräch, das auch auf „Cicero Online“ erschien, führte Philipp Engel.

Informationen zur Person: Michael Jonathan Wuliger wurde 1951 in London geboren, wuchs in Wiesbaden auf und lebt heute in Berlin als Feuilletonredakteur der »Jüdischen Allgemeinen«. Er geht so gut wie nie in die Synagoge, isst gern Serrano-Schinken und hört lieber Georges Brassens als Giora Feidman. Sein jüdisches Idol ist Krusty der Clown aus der TV-Serie „Simpsons“.

Informationen zum Buch: Michael Wuliger: Der koschere Knigge. Trittsicher durch die deutsch-jüdischen Fettnäpfchen, S. Fischer, Frankfurt am Main 2009, 105 S., 8 €

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Die Estnische (2): Stahlhausen plus See

2010, Ruhrgebiet ist bald vorüber. Das nächste große Ding heißt Tallinn 2011, Geschichten von der See. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Für Arvo Pärt eine Party zu veranstalten, ist so ähnlich wie mit Wolfgang Schäuble zu kiffen. Es passt nicht.

Doch der große Komponist des kleinen Volkes wird 75. Also gibt es in Tallinn, Paide und Rakvere einen Monat lang ein Fest zu Ehren des berühmten Tonmeisters, dessen Werk man vielleicht so beschreiben kann: Man muss schon Björk sein oder aus Estland, um Pärts Musik als heiter zu empfinden. Für alle andere ist es sehr schweres Zeug. Gut, aber schwer.

Gestern sahen wir „In Principio„. Ein neogregorianisches  anschwellendes Stück für Sänger und Chor, Orgel und Orchester – Soli und Mehrstimmiges auf Latein, feine harmonische Brüche, schwere Akkorde, plötzlich schmettert der Chor aus dem Oberrang. Die Bühne ist eine schiefe Ebene bestreut mit Birkenmulch und viel Platz für Prinzipielles: Frau und Mann, 0 und 1, Feuer und Wasser, Kartoffelknollen und Zerstörung. Die kargen Klänge Pärts haben es leider etwas schwer gegen  jede Menge Projektionen und Laserstrahlen auf der Bühne. Trotzdem standing ovations – wie zuhause.

Tatsächlich fand die Aufführung in vertrauter Umgebung statt: eine Fabrik, Schiffswerft, an vielen Stellen verwildert, zerfallen. Doch es wird weiter gearbeitet im postsowjetischen Ambie nte. Suchscheinwerfer, Mauern, Natodraht schirmen es von der Außenwelt ab. An provisorischen Stegen liegen Segelyachten im einstigen U-Boot-Hafen der Stadt.

Mit Geschichten von der See wird sich Tallinn im kommenden Jahr an den ganzen Kontinent wenden. Die europäische Kulturhauptstadt setzt auf ihren Hafen, das Meer. Und hier ist wirklich viel zu tun. Nebenan wird gerade der alte Flughafen für Wasserflugzeuge aufgemöbelt. Im kommenden Jahr bekommt das maritime Museum hier den großen Auftritt. Das ganze sieht ein bisschen aus wie Stahlhausen plus See.

Auch hier gab es zur Kulturhauptstadt noch größere Pläne. Die Stadt sollte sich zur Ostsee öffnen. Nicht nur mit Geschichten, Konzerthallen, Museumshangar und anderer Software, sondern mit einem Meeresboulevard zum Flanieren. Die Pläne verschwanden in der Schublade; Finanzkrise. Und so wird 2011 wohl ein bisschen wie Ruhr 2010, wenn es gut war: Industriekultur (maritim), Zwischennutzungen, Entdeckungen an Unorten. Und dazu: das Meer.

Uwe Knüpfer wird Vorwärts-Chefredakteur

Der ehemalige WAZ-Chefredakteur Uwe Knüpfer wird ab 1. Oktober Chefredakteur des SPD-Magazins Vorwärts.

Wie dies in Fragen der Sozialdemokratie üblicherweise gut informierten  Blogs Rot-steht-uns-gut und Pottblog melden, wird der ehemalige WAZ-Chefredakteur Uwe Knüpfer ab dem 1. Oktober Chefredakteur des SPD-Mitgliedermagazins Vorwärts. Er folgt auf Uwe-Karsten Heye, der das Magazin seit 2006 leitete.

Knüpfer war bis 2005 Chefredakteur der WAZ und zuvor langjähriger USA-Korrespondent.  Ende 2006 gründetet er das Internetportal Onruhr, das 2007 eingestellt wurde.

Knüpfer engagiert sich  in der Ruhrstadt-Initiative, wohnt in Herne und war auch als Gastautor für die Ruhrbarone tätig.