Corona und Katastrophenschutz: Das „Drehbuch 2020“ existiert seit 2012

Seebad Binz auf Rügen am 14.08.2020 (c) Autor

Seit dem 15. März 2020 unterhalten sich die Ruhrbarone mit Magnus Memmeler wöchentlich über den Katastrophenschutz aka Bevölkerungsschutz. So sind bis heute 20 Interviews entstanden, die auch die Corona-Krise nachzeichnen. Im 21. Interview geht es wiedermal um die Versäumnisse der politisch Verantwortlichen für den Katastrophenschutz, das Aufflammen neuer Infektionsherde, die Überlastung der Testzentren und um die Sorge eines erneuten Lockdowns.

Für den, der heute das erste oder zweite Mal dabei ist: Magnus Memmeler (52 Jahre) lebt in Kamen. Seit 31 Jahren arbeitet er im Rettungsdienst und Katastrophenschutz. 25 Jahre davon hat er diverse Leitungsfunktionen eingenommen. Er war beauftragt zur Organisation des Sanitätsdienstes beim DEKT in Dortmund und Verantwortlicher einer großen Hilfsorganisation bei der Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten in den Jahren 2013 – 2018. Er war zudem Mitglied bei der Stabsarbeit von Bezirksregierungen und in Arbeitskreisen des Innenministeriums bei der Konzeption von Katastrophenschutzkonzepten.

Ruhrbarone: Die Bundeswehr unterstützt mit rund 50 Soldatinnen und Soldaten des Luftwaffentruppenkommandos Köln/Wahn die Stadt Köln in einer Test- und Abstrichstation sowie am Flughafen Köln/Bonn. Die Zahl der Neuinfektionen steigt stetig, wenn auch nicht so bedrohlich wie zunächst befürchtet. Doch die Entwicklung der Lage lässt kaum hoffen, wenn selbst der Rheinische Karneval in Frage steht. Bekommen wir vor dem Herbst noch die erforderliche Kehrtwende hin?

Memmeler: Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich kann das gerade niemand ehrlich beantworten. Tatsächlich titelte meine Tageszeitung gestern: „Wie lange kann das gut gehen?“ Im Moment können wir lediglich die Situation beschreiben und auf kritische Momente hinweisen, die es zu reduzieren gilt.

Ruhrbarone: Dann mal los! Welches sind die kritischen Momente, die es zu vermeiden gilt?

Memmeler: In der vergangenen Woche haben wir die Zahl von über 1.500 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden als problematisch aber wegen des Ferienendes leider auch als vorhersehbar beschrieben. In dieser Woche lag der Wert plötzlich bei über 1.700 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden und am Samstag gar bei über 2.000. Diese erneute Dynamik bei den Neuinfektionen macht Virologen, Politik und Gesundheitsämter zu Recht unruhig und führt aktuelle zu täglich neuen Risikobewertungen und Reisewarnungen, die aus meiner Sicht noch nicht wirklich konsequent vorgenommen werden.

Österreich stuft aus meiner Sicht zu Recht ganz Kroatien als Risikoregion ein, da es völlig unmöglich ist, bei Reiserückkehrern zu ermitteln, aus welcher Region diese genau zurückkehren. Die Bundesrepublik stuft jedoch nur wenige Regionen Kroatiens als Risikogebiet ein. In den vor Kurzem von der Bundesrepublik als sicher eingestuften Urlaubsregionen innerhalb der Türkei sind eine große Zahl der dortigen Bürgermeister an COVID 19 erkrankt oder zumindest positiv getestet worden. Hier dürfen wir unterstellen, dass politische Würdenträger sich auch in der Türkei besser schützen können, als dies für den Rest der Bevölkerung möglich ist. Aus der Sicht vieler Kritiker wird dieser Umstand als Beleg für die intransparente Berichterstattung der Türkei verstanden, wenn es um Infektionsgeschehen innerhalb der Türkei geht. Diese Liste kritischer Bewertungen ließe sich noch weiter fortsetzen. Leider wird die Zunahme von als Risikogebiet eingestuften Urlaubsregionen und die Anzahl von Urlaubsregionen, die aus Sicht vieler Virologen leider nicht als Risikogebiet ausgewiesen sind, von der Nachricht begleitet, dass sich zahlreiche Urlaubsrückkehrer sowohl den Tests für Rückkehrer entziehen, als auch die Quarantäneanweisungen der Gesundheits- und Ordnungsämter ignorieren. Vor dem Hintergrund, dass vielerorts bis zu 40% der Neuinfektionen auf Urlaubsrückkehrer zurückzuführen sind, muss dieses Fehlverhalten eigentlich drastisch sanktioniert werden. Leider fehlt es vielerorts an Personal, um Quarantäneverstöße zu ermitteln und dann auch sanktionieren zu können.

Kipppunkt im System

Der Mediziner Max Geraedts, Leiter des Instituts für Versorgungsforschung und klinische Epidemiologie der Universität Marburg, bewertet als besonders kritisch, dass wir aktuell nicht nur einige wenige Hotspotts beklagen, die zur Entwicklung der Zahl von Neuinfektionen beitragen, sondern fast alle Regionen steigende Zahlen an Neuinfektionen zu beklagen haben, da sich die Menschen wieder viel mehr bewegen. Vor wenigen Wochen konnten noch 125 Kreise melden, dass es innerhalb von sieben Tagen zu Null Neuinfektionen gekommen ist. Aktuell können dies nur noch 20 Kreise von sich behaupten. In Kombination mit menschlicher Dummheit oder Unvorsichtigkeit, ist dies die perfekte Voraussetzung um zeitnah einen Kipppunkt im System erreichen, ab dem die Entwicklung der Fallzahlen sich rasant beschleunigt und nur noch schwer durch die Gesundheitsbehörden zu kontrollieren ist.

Um zu verdeutlichen, vor welchen Risiken unter anderem Viola Priesmann, Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, warnt, müssen wir lediglich drei Nachrichtenmeldungen zu Infektionsgeschehen und Testpannen dieser Woche betrachten und diese den aktuellen Meldungen des RKI gegenüberstellen.

Ein ungeduldiger Reiserückkehrer hat am vergangenen Wochenende dazu beigetragen, dass weit über 100 Personen unter Quarantäne gestellt werden mussten, weil er am Samstag eine Party mit über 100 Gästen besucht hat, nachdem er sich am Freitag einem Test für Reiserückkehrer aus Risikogebieten unterzogen hatte. Die Teilnahme am freiwilligen Test ist als verantwortungsvoll zu bewerten.

Völlig hirnlos ist es jedoch, eine solche Veranstaltung zu besuchen, bevor das Testergebnis bekannt ist, welches ihn bereits am Sonntag als positiv getesteten Reiserückkehrer beschrieb. Nun stellen Sie sich die identische Konstellation vor und unterstellen, dass der Reiserückkehrer zu der Gruppe gehört hätte, die Tests und Quarantänebestimmungen umgehen. Die Folge wäre in diesem Fall eine nicht nachvollziehbare Infektionskette mit großem Verbreitungspotential.

Völlig hirnlos

Passend hierzu meldete die Presse in dieser Woche, dass es in Bayern nicht nur an den Testzentren an den Autobahnen zu verzögerten Mitteilungen von Testergebnissen gekommen ist, sondern auch an den Flughäfen in Bayern, unter anderem in Nürnberg, zu Verzögerungen gekommen ist. Hier muss angemerkt werden, dass diese Testzentren bereits von einem professionellen Dienstleister betrieben werden und somit klar zu seien scheint, dass die Vorwürfe gegenüber ehrenamtlichen Katastrophenschützern, über die wir in der vergangenen Woche berichtet haben, vollkommen unangebracht waren. Hoffentlich haben sich die von verzögerten Mitteilungen betroffenen Bürger hier umsichtiger verhalten, als dies beim zuvor beschriebenen Partybesucher der Fall gewesen ist. Sollte dies nicht der Fall gewesen sein, entstünde ein extrem hoher Rechercheaufwand für eventuell betroffene Gesundheitsbehörden.

Das RKI meldet in seinem aktuellen Epidemiologischen Bulletin, dass die teilnehmenden Labors bereits in der Woche vom 10. bis zum 16. August einen Rückstau von 17.142 abzuarbeitenden Proben angegeben haben. Parallel hat sich aber auch die Anzahl der Testungen von 578.000 in der Kalenderwoche 31 auf inzwischen 875.000 Tests entwickelt, was natürlich zu weiteren Verzögerungen bei den Mitteilungen von Testergebnissen führt.

Angesichts der aktuellen RKI Meldungen und der Meldung der Vorsitzenden des Bundesvorsitzenden von Ärztinnen und Ärzten im öffentlichen Gesundheitsdienst, Ute Teichert, dass die Gesundheitsbehörden nicht mehr auf die große Unterstützung aus anderen Behördenteilen zurückgreifen können, wie dies noch im April der Fall war, weil die Kolleginnen und Kollegen, wegen der neuen Normalität, zu ihren regulären Arbeitsbereichen zurückgekehrt sind, macht eine weitere Meldung aus dieser Woche deutlich, wie sehr wir momentan auf Menschenverstand angewiesen sind. Um die aktuellen Veranstaltungsauflagen für Familienfeierlichkeiten einzuhalten, fand in der vergangenen Woche eine Hochzeitsfeier tatsächlich an zwei Tagen statt, um so insgesamt über 200 Feiergäste begrüßen zu können. Leider erwiesen sich hier einige Familienmitglieder im Nachgang als infiziert, was dazu führte, dass Kontaktpersonen von über 200 Gästen identifiziert werden mussten.

Bundeswehr nimmt Abstriche

Wenn eine Stadt wie Köln auf die Unterstützung der Bundeswehr zurückgreifen muss, um Testzentren effektiv betreiben zu können, da die ehemals vorhandenen studentischen Hilfskräfte sich nun wieder ihrem Studienziel widmen, zeigt das, dass wir nun endlich ehrlich aussprechen müssen, dass wir es noch lange nicht geschafft haben und uns einige Einschränkungen in das neue Jahr begleiten werden. Die Aussage, die Herr Minister Laumann in dieser Woche zum Karneval getätigt hat, ist schlicht verantwortungslos. Es ist quatsch zu sagen, dass erst in zwei Wochen eine korrekte Lageeinschätzung möglich sei. Karneval 2020/2021 ist genauso verantwortungslos, wie große Familienfeiern, bei denen es immer wieder zu größeren Infektionsgeschehen kommt, und die naive Vorstellung einiger DFB Funktionäre, man könne noch in diesem Jahr die ersten Besucher in den Fußballstadien begrüßen. Die Stadt Offenbach musste nun, wegen der aktuellen Infektionsgeschehen in der Region, private Zusammenkünfte auf maximal 5 Personen begrenzen, um so einem drohenden Lockdown eventuell entgehen zu können.

Auch wenn dies nun den einen oder anderen Grünen in meinem Bekanntenkreis irritieren könnte, halte ich die Forderung von Wirten, die eine Aussetzung des Verbotes von Heizpilzen fordern, für wesentlich verantwortungsvoller und weitsichtiger, als das Herauszögern der Aussage, dass Karneval und andere Großveranstaltungen bis in das neue Jahr unmöglich sein werden. Die Wirte, die diese Forderung aussprechen, haben zumindest verstanden, dass der Gastbetrieb im Freien momentan die sicherste Variante ist, wenn wir Kneipen- und Menschensterben in Herbst und Winter vermeiden wollen.

An die Stirn tackern

Die Großoffensive zur Kontrolle der Einhaltung der Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr, die etwas an die Blitzermarathons vergangener Tage erinnert, wird alleine nicht ausreichen, um den oben bereits beschriebenen Kipppunkt zu vermeiden, an dem sich die Infektionszahlen rasant entwickeln und behördliche Strukturen überlastet werden. Nicht wenige Katastrophenschützer und Virologen möchten den derzeitigen Entscheidern deshalb die Drucksache 17/12051 des Bundestages, welche am 03.01.2013 veröffentlicht wurde, an die Stirn tackern, da diese Drucksache nichts anderes ist, als das „Drehbuch zum Jahr 2020“, in dem Risiken und notwendige Maßnahmen ablesbar sind.

Ruhrbarone: Bei dieser Drucksache des Bundestages handelt es sich um den „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“. Wieso ist dies aus Ihrer Sicht das „Drehbuch zum Jahr 2020“? Warum werden die Erkenntnisse aus diesem Bericht aus Sicht der Katastrophenschützer nicht berücksichtigt?

Memmeler: Um Teil zwei Ihrer Frage zu beantworten. Ich weiß es nicht. Genau so wenig kann ich beantworten, warum Tests für Pflegepersonal unterbleiben, obwohl dies in der nationalen Teststrategie des Bundes als Maßnahme beschrieben ist, um angemessen auf die stetig steigende 7 Tage Inzidenz zu reagieren, damit der kritische Kipppunkt für das Gesundheitssystem vermieden wird.

Unter: https://www.openpetition.de/petition/online/corona-sicherheit-fuer-die-pflegenden-nah-am-menschen können unsere Leser sich an einer Petition beteiligen, um ggf. einen Beitrag zu einer veränderten Entscheidungsfindung der Politik zu leisten, damit Tests für Pflegeberufe ermöglicht werden.

Pandemie ist keine Katastrophe, ist eine Katastrophe

Wie bereits X-Mal in unseren Interviews erwähnt, soll offensichtlich vermieden werden, diese Pandemie als Katastrophe einzustufen, weshalb zwar immer wieder, ohne entsprechende Rechtsgrundlage, auf Ressourcen des Katastrophenschutzes und der Bundeswehr zurückgegriffen wird, da die Ressourcen des Gesundheitssystems und der freien Wirtschaft an ihre Grenzen kommen, eine regelhafte Lageführung innerhalb von Katastrophenschutzstrukturen jedoch unterlassen wird, was uns angesichts der erwähnten Drucksache jedoch auf die Füße fallen könnte.

Bereits in der Präambel der Drucksache 17/12051 des Bundestages lässt sich wahrscheinlich erkennen, dass die derzeitigen Entscheider lediglich bis zum nachfolgenden Zitat gelesen haben und sich deshalb in wöchentlichen Neueinschätzungen verlieren, die uns, durch entsprechende Lockerungen, in die jetzige Situation geführt haben:

„Im Unterschied zur fachlichen Risikoanalyse ist die Risikobewertung ein politischer Prozess, in den auch gesellschaftliche Werte und die jeweilige Risikoakzeptanz einfließen. Nach einer durchgeführten Risikoanalyse muss eine Risikobewertung durch die administrativ-politisch verantwortlichen Ebenen erfolgen. Die Risikobewertung ist ein Verfahren, mit dem a) festgestellt wird, in welchem Ausmaß das zuvor definierte Schutzziel im Falle eines Ereignisses erreicht wird, durch das b) entschieden werden kann, welches verbleibende Risiko akzeptabel ist und mit Hilfe dessen c) entschieden wird, ob Maßnahmen zur Minimierung ergriffen werden können oder müssen. Schutzziele beziehen sich darauf, in welchem Umfang und in welcher Qualität die unterschiedlichen Schutzgüter zu schützen sind bzw. in welchem Umfang Fähigkeiten zur Bewältigung von möglichen Schäden vorzuhalten sind. Auf der Basis eines möglichst umfassenden Risiko-Portfolios kann der Abgleich von Risiken und Schutzzielen vorgenommen werden, um mögliche Defizite zu identifizieren.“

In der Drucksache wird unter anderem dieses Szenario beschrieben, welches wie ein Abziehbild des Jahres 2020 wirkt:

„Das Szenario beschreibt ein außergewöhnliches Seuchengeschehen, das auf der Verbreitung eines neuartigen Erregers basiert. Hierfür wurde der zwar hypothetische, jedoch mit realistischen Eigenschaften versehene Erreger „Modi-SARS“ zugrunde gelegt.“ (…) „Das Szenario beschreibt eine von Asien ausgehende, weltweite Verbreitung eines hypothetischen neuen Virus, welches den Namen Modi-SARS-Virus erhält. Mehrere Personen reisen nach Deutschland ein, bevor den Behörden die erste offizielle Warnung durch die WHO zugeht. Darunter sind zwei Infizierte, die durch eine Kombination aus einer großen Anzahl von Kontaktpersonen und hohen Infektiosität stark zur initialen Verbreitung der Infektion in Deutschland beitragen.“

Wer sich nun an den Januar und Februar dieses Jahres und Berichte über Mitarbeitende der Firma Webasto, den Kreis Heinsberg und Ischgl erinnert fühlt, erinnert sich richtig. Nein, dies sind keine Auszüge aus einem Roman von Dan Brown, sondern der nüchterne Bericht von Experten des Katastrophenschutzes, die zuvor im Auftrag der Bundesregierung eine Risikobewertung vorgenommen haben.

Der nachfolgende Auszug aus dem Papier sollte bei allen Verantwortungsträgern dazu führen, die Risiken klarer zu kommunizieren, als es bisher der Fall war, und vor einem zu optimistischen Blick in die Zukunft zu warnen, damit die notwendigen Schutzmaßnahmen endlich die erforderliche Akzeptanz in der Bevölkerung erreichen:

„Nachdem die erste Welle abklingt, folgen zwei weitere, schwächere Wellen, bis drei Jahre nach dem Auftreten der ersten Erkrankungen ein Impfstoff verfügbar ist.“

Diese Aussage entspricht auch den realistischen Einschätzungen zahlreicher Virologen, die wir in den vergangenen Wochen zitieren durften oder besser mussten. Besonders bei der im zitierten Papier vorgenommenen Klassifizierung von Schadensparametern wird deutlich, dass wir von einer Lage sprechen müssen, die nach Maßstäben des Katastrophenschutzes abgearbeitet werden sollte:

 „Schadensparameter: Tote (M1)

Schadensausmaß-Klassen: A: ”kleiner 10 B: 10 – 100 C:  100 – 1.000 D: 1.000 – 10.000 E: mehr als10.000

Anmerkung: Betrachtet werden hier Personen, deren Tod – unabhängig vom Zeitpunkt seines Eintritts – kausal auf das schädigende Ereignis zurückzuführen ist.

Schadensparameter: Verletzte, Erkrankte (M2)

Schadensausmaß-Klassen: A: weniger 10 B: 10 – 100 C: 100 – 1.000 D: 1.000 – 10.000 E: mehr als 10.000

Anmerkung: Betrachtet werden hier Personen, die durch das Ereignis im Bezugsgebiet verletzt werden oder im Verlauf des Ereignisses bzw. in dessen Folge so erkranken, dass sie ärztlich oder im Gesundheitswesen betreut werden müssen (hier sind auch Spätfolgen/Langzeitschäden mit zu berücksichtigen).“

Mit Stand 20.08.2020 meldete das RKI 9.267 Todesfälle im Zusammenhang mit SARS-COV 2. Bereits jetzt haben wir also das Schadensausmaß D beim Parameter Tote erreicht.

Schon 2013 wird mit Verweis auf Studien aus 2004 beschrieben:

„Die Infektionskrankheit breitet sich sporadisch und in Clustern aus. Eine Übertragung findet insbesondere über Haushaltskontakte und im Krankenhausumfeld, aber auch in öffentlichen Transportmitteln, am Arbeitsplatz und in der Freizeit statt.“ Genau diese Risiken werden seit geraumer Zeit von Virologen beschrieben, dennoch wurden große Familienfeiern wieder ermöglicht, die bereits mehrfach zu größeren Infektionsgeschehen geführt haben und dennoch werden Verstöße gegen die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln erst jetzt sanktioniert. Zum Effekt der wieder zunehmenden Mobilität und Reisetätigkeit kann aus dem Papier folgendes Zitat herangezogen werden: „Die anderen Fälle betreffen Reisende, die zur Verbreitung beitragen. Die Verbreitung erfolgt flächendeckend über Deutschland, analog zur Bevölkerungsdichte.“

Auch die von vielen Virologen derzeit immer wieder als Risiko beschriebenen Super Spreader sind keine neue Erkenntnis. Das Papier beschreibt das Risiko so:

„Sogenannte „Super Spreader“, wie sie bei der Verbreitung von SARS beschrieben wurden, sind Personen, die mehr als zehn weitere Personen infizieren. Diese Fälle sind Ausnahmen, die aber einen wesentlichen Effekt auf die Ausbreitung haben können.“

Die ersten sechs Monate unter Pandemiebedingungen wurden bereits 2013 in diese Vorschau gegossen:

„Kommunikation: Zwischen der Kenntnisnahme des Erregers durch die deutschen Behörden und der Verbreitung erster Information durch die Medien liegen ca. 24 Std. Es ist von einer vielstimmigen Bewertung des Ereignisses auszugehen, die nicht widerspruchsfrei ist. Dementsprechend ist mit Verunsicherung der Bevölkerung zu rechnen. Zusätzlich ist ein (mehr oder minder qualifizierter) Austausch über neue Medien (z. B. Facebook, Twitter) zu erwarten.“

Und zur erforderlichen Krisenkommunikation durch Politik und Behörden liest man:

„Es ist generell kritisch, einen positiven Informationsfluss aufrecht zu erhalten. Ohne diesen kann es z. B. zu größeren Unsicherheiten, zur frühzeitigen Aufhebung von Schutzmaßnahmen im persönlichen Umfeld und somit zu neuen Ausbrüchen kommen. Für die Akzeptanz der kommunizierten Botschaften ist essentiell, dass die Behörden „auf Augenhöhe“ mit der Bevölkerung kommunizieren.“

Klingt bekannt, oder?

Die Drucksache 17/12051 des Bundestages ist aber auch nur eine Zusammenfassung von seit 2002 ausgesprochenen Expertenempfehlungen, die insbesondere vor unangemessener Kommunikation und verfrühten Lockerungsmaßnahmen warnt.

Ruhrbarone: Wenn schon spätestens 2013 aus fachlicher Sicht bekannt war, was im Falle einer Pandemie zu veranlassen ist, traue ich mich gar nicht zu fragen, was die Katastrophenschutzexperten aktuell empfehlen, um die Lage, wie Sie immer sagen, beherrschbar zu machen?

Memmeler: Um diese Frage zu beantworten, möchte ich erneut die Drucksache 17/12051 des Bundestages zitieren und danach auf einige Fehler hinweisen, über die wir bereits berichtet haben und die es zukünftig zu vermeiden gilt.

„Im Sinne der „Neuen Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland“ (Beschluss der 171. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) vom 6. Dezember 2002) sind sich Bund und Länder allerdings einig, dass eine strikte Aufteilung der Zuständigkeiten angesichts von Gefahrenlagen von nationaler Bedeutung zu kurz greifen würde. Philosophie und gleichsam roter Faden der „Neuen Strategie“ ist der Gedanke einer gemeinsamen Verantwortung von Bund und Ländern für die Bewältigung von Großschadenslagen. Gemeinsame Verantwortung wird hierbei nicht im Sinne von neuen Zuständigkeiten und Rechtsänderungen oder gar als Gemeinschaftsaufgabe im verfassungsrechtlichen Sinne verstanden, sondern vielmehr in einem pragmatischen, politischen Sinne: als partnerschaftliches Zusammenwirken über föderale Grenzen hinweg. Ein Kernelement der „Neuen Strategie“ ist die bessere Verzahnung, Abstimmung und Zusammenarbeit der föderalen Verantwortlichkeitsebenen auf der Grundlage von Gefährdungs- und Risikoanalysen.“

Zusammengefasst heißt das, dass unsere vorhandenen Katastrophenschutzstrukturen und das hier vorhandene Expertenwissen pragmatisch und der Situation angemessen genutzt werden muss. Ausgebliebene Abfragen von Rückmeldungen, wie zum Beispiel zu untauglichen Schutzmasken oder zur tatsächlich erreichten personellen Ausstattung von Gesundheitsämtern müssen abgestellt werden und durch im Katastrophenschutz bekannte Regelkreise ersetzt werden, die eine permanente Lageeinschätzung ermöglichen.

Alleingänge der Bundesländer, wie wir sie beim Wettkampf um möglichst weitreichende Lockerungen erlebt haben, müssen unterbleiben, wenn wir wollen, dass die Bevölkerung Vertrauen in Entscheidungsfindung und erforderliche Maßnahmen haben soll. Angesichts des unsicheren Zeitpunktes, zu dem eventuell ein Impfstoff zur Verfügung steht, müssen Maßnahmen für die kommenden sechs bis zwölf Monate beschrieben werden, statt sich im Wochentakt durch zu hangeln. Sollte es im Februar tatsächlich möglich sein Veranstaltungen durchzuführen, da wir durch konsequentes Handeln zur deutlichen Verbesserung der Situation beigetragen haben, wird die Begeisterung über neue Freiheiten nicht weniger groß sein, als dies bei den letzten Lockerungen der Fall war, die aus heutiger Sicht teilweise zu früh kamen (z.B. Reisefreiheit).

Das wichtigste wird jedoch sein, dass endlich bei allen Entscheidungen die alte MS-DOS Abfrage (Computerbetriebssystem der frühen 90er)  „if – then“ stattfindet. Ein Ferienende darf uns einfach nicht mehr überraschen. Ausbleibende Tests beim Pflegepersonal dürfen nicht mehr in der bekannten Häufigkeit zu Infektionsgeschehen in Kliniken und Pflegeheimen beitragen.

Wenn wir den eingangs beschriebenen Kipppunkt tatsächlich vermeiden wollen, muss Klartext gesprochen werden, ein Herr Laumann den Karneval absagen, Herr Söder eingestehen, dass Massentests nun mal zu Wartezeiten führen, der DFB den Gürtel etwas enger schnallen und die Medien zur Versachlichung der unumgänglichen Diskussion in der Gesellschaft beitragen, damit die Bevölkerung begreift, dass jeder, durch verantwortungsvolles Handeln, seinen Beitrag dazu leisten muss, damit wir das neue Jahr positiv erwartungsvoll begrüßen können.

Ruhrbarone: Herzlichen Dank. Bleiben Sie gesund.

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