
Phillip Boa and the Voodooclub – viel mehr fällt einem nicht ein, wenn man sich von außen an den Dortmunder Underground der Jahre 1978 bis 1998 erinnert. Eine Ausstellung will nun an die Vielfalt der Szene in jener Zeit erinnern.
Allein die Clubs: das unvergessene Aratta in Moers, das Logo in Bochum, Blue Shell in Köln, das Daddy in Oberhausen, vielleicht noch die Zeche Carl in Essen und die Zeche in Bochum, sogar das Lury in Gelsenkirchen – aber Dortmund? Sicher, es gab die Live Station im Hauptbahnhof und das FZW, aber auf der Stadt lag ein Fluch und der hieß Sauerland. Auch wenn Dortmund eine der größten Städte im Ruhrgebiet war, hatte es etwas Olpiges. Man trug Sandalen mit Socken. Und auch den Lokalpunkhistorikern, deren Ausstellung „Dortmunder Underground 1978 bis 1998“ zeigt, ist der defizitäre Charakter der Stadt bewusst: „Wir sind nicht Hannover, wo der Scorpions-Superhit ‚Wind of Change‘ sogar in Moskau gepfiffen wird. Wir sind nicht Düsseldorf, deren Toten Hosen bundesweit Stadien füllen. Wir haben keine Kreator oder Sodom wie in Essen und Gelsenkirchen. Wir hatten keine Einstürzenden Neubauten wie in Berlin und keinen Grönemeyer, der seiner Heimatstadt ‚Bochum‘ einen Song gewidmet hat. Und selbst das kleine Hagen, südlich von Dortmund, konnte seine ‚99 Luftballons‘ um die ganze Welt fliegen lassen.“
Klar, auch hier gab es Bands wie Idiots und Too Strong, aber ihre Bekanntheit endete meist an der Stadtgrenze. Umso erstaunlicher, dass die einzige Band aus Dortmund, die sogar international bekannt wurde, bis heute Hallen füllt – und deren ehemalige Sängerin Pia Lund heute als Bildhauerin in der Stadt arbeitet –, nur drei Mal im 144-seitigen Buch zur Ausstellung erwähnt wird: Phillip Boa and the Voodooclub.
Wenn mich jemand fragen würde, wer sonst noch zu den drei wichtigsten Bands gehört, die Dortmund hervorgebracht hat, würde ich auf zwei Phillip Boa and the Voodooclub setzen, und der dritte Platz ginge natürlich an Phillip Boa and the Voodooclub. Aber gut, Boa galt immer schon als eigenwillig und sperrig und war wohl nie ein Knuddel zum Liebhaben.
Und so erfahren wir in dem Buch – und sicher auch in der Ausstellung – von einer eng verbundenen Szene, die die eigene Stadt prägte. Wir begegnen liebenswerten Gestalten wie Sir Hannes, dem Sänger der Idiots, der auch den Plattenladen Idiot Records betreibt und – ohne die für Szeneläden übliche Arroganz – seine Kunden mit Wissen und unermesslicher Herzlichkeit berät. Oder Cochise, die in den 80ern mit ihrem Hit „Jetzt oder nie, Anarchie“ die evangelischen Teestuben im Ruhrgebiet zum Kochen brachten.
Dortmund, lernen wir als bewusste Nicht-Dortmunder, hatte alles: Punkbands, Schwermetaller, Hippies und Skins. Ein meist unbekannter Name folgt auf den nächsten – Musiker, die ihre Bands schneller wechselten als Sparkassenangestellte ihre Sexualpartner auf Swingerpartys. Die Stadt: ein einziges hemmungsloses Rudelrocken.
Wer dabei war und noch lebt, wird viele und vieles wiedererkennen, vielleicht melancholisch zurückschauen oder auch versuchen, Kontakt zu längst zwischenvergessenen Freunden von damals aufzunehmen. Wer nicht dabei war, erfährt, wie es damals in der wohl größten Provinzstadt Deutschlands zuging – und fragt sich, was, verdammt noch mal, schiefgelaufen ist, dass Dortmund außer Phillip Boa and the Voodooclub nie eine dauerhaft bekannte Band hervorgebracht hat. Damals nicht – und daran hat sich bis heute auch nichts geändert: Es gibt kein Dortmunder Gegenstück zu International Music. Bands und Musiker, all das gab es zur Genüge, aber vielleicht war Dortmund sich immer selbst genug und zu inzestuös.
Vielleicht ist das ja auch gar nicht dramatisch. Vielleicht ist es Dortmunds Bestimmung, mit seinem trüben Licht den Rest des Ruhrgebiets wenigstens ein wenig funkeln zu lassen.

