
Erinnert sich noch jemand an die 11.000 Pestizidtoten, die auf einer dubiosen „Studie“ beruhten, die schon auf den ersten Blick unglaubhaft erschien und inzwischen zurückgezogen wurde? Sie wurde landauf, landab wiedergegeben, ohne sie kritisch zu hinterfragen. Dass die Redaktion der Zeitschrift die Veröffentlichung zurückzog, weil die Daten nicht plausibel waren, hat kaum ein Medium berichtet. So ist die Zahl bis heute in der Welt und niemand hinterfragt sie mehr. Von unserem Gastautor Ludger Weß.
Oder erinnert sich noch jemand an die Angstbotschaft von den nur noch 60 Ernten, die wir erzielen können, bevor unsere Böden unfruchtbar geworden sind? Die Zahl wurde von grünen Europaabgeordneten und zahllosen Medien verbreitet und der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) zugeschrieben, stammt aber in Wahrheit aus der reißerischen und irreführenden Schlagzeile eines Reuters-Kurzberichts. Nach den Ursprüngen der spektakulären Zahl hat niemand gefragt, und zuletzt berief sich selbst Jeff Rowe, CEO der Syngenta Group, im Handelsblatt auf die Zahl.
Das gleiche Phänomen ist gerade wieder zu beobachten. Eckart von Hirschhausen berichtet in der ARD-Sendung „Wissen vor acht“: „In den letzten hundert Jahren sind etwa 75 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Arten und Sorten verschwunden“ – eine spektakuläre, angsteinflößende Zahl. Allerdings: Landwirte sind über diese Zahl verwundert, Pflanzenzüchter ebenso.
Hirschhausen hat offenbar weder mit Landwirten noch Pflanzenzüchtern gesprochen. Sonst wäre aufgefallen, dass hier nicht sauber zwischen Arten und Sorten unterschieden wird. Die Zwiebel ist eine Art ebenso wie die Kartoffel, der Mais oder der Apfel, bei Sorten sprechen wir, etwa bei der Kartoffel, von „Linda“, „Ackersegen“ oder „Sieglinde“. Und er hat auch nicht recherchiert, woher die Zahlenangabe stammt. 75 Prozent – das scheint gut in sein Narrativ von der „industrialisierten Landwirtschaft“ zu passen.
Dabei ist es leicht, die Ursprünge dieser Zahl zu recherchieren, denn schon 2021 hatten sich renommierte Pflanzenforscher in einem Fachartikel auf die Suche nach dieser mysteriösen Zahl gemacht. Sie fanden heraus, dass es dafür keine seriöse Quelle gibt. Die Zahl taucht erstmals in einer Broschüre mit dem Titel „Harvesting Nature’s Diversity“ auf, die die FAO 1993 veröffentlicht hat. In der Broschüre gibt es ebenfalls keine Quelle oder den Verweis auf eine Studie oder FAO-Abteilung, nur die vage Behauptung im Vorwort (!): „Seit Beginn dieses Jahrhunderts sind etwa 75 Prozent der genetischen Vielfalt landwirtschaftlicher Nutzpflanzen verloren gegangen.“ Als Autorin der Broschüre ist Hope Shand angegeben, eine Aktivistin der nordamerikanischen NGO Rural Advancement Foundation International RAFI (seit 2001 ETC Group).
RAFI führte da schon unter der Leitung von Pat Mooney, Shand und Cary Fowler einen Feldzug gegen moderne Technologien im Agrarsektor: Gentechnik, synthetische Pflanzenschutzmittel, Patente, Nanotechnologie. Die Gruppe prägte 1995 den Begriff „Biopiraterie“. Die Autoren der Veröffentlichung von 2021 nehmen an, dass die Zahl aus dem RAFI-Buch „Shattering: Food, Politics, and the Loss of Genetic Diversity“ von 1991 stammt. Dort steht (wiederum im Vorwort) der Satz: „Mitte der 1970er Jahre standen drei Viertel der traditionellen Gemüsesorten Europas kurz vor dem Aussterben.“
Die Zahl wurde von Hope Shand für die FAO-Broschüre offenbar einfach übernommen und als globales Phänomen ausgegeben. Seither geistert sie durch die FAO, die sie z. B. 1997 in ihrer Broschüre „Women: The key to food Security“ und 2004 in einem Trainingshandbuch “Building on Gender, Agrobiodiversity and Local Knowledge” wiederholte, jeweils ohne Angabe einer Studie. NGOs wiederholen sie unermüdlich und daher machen sich auch die Medien keine Mühe mehr, der Angabe auf den Grund zu gehen, obwohl die Zahl und die merkwürdige Angaben „Arten UND Sorten“ stutzig machen müsste. Schlimmer noch, wie beim Kinderspiel der stillen Post ist aus der Aussage „drei Viertel der traditionellen Gemüsesorten Europas (standen) kurz vor dem Aussterben“ inzwischen geworden: „75 Prozent aller landwirtschaftlich genutzten Arten und Sorten (sind) verschwunden.“
Warum verschwinden Sorten oder das Aussterben des VW Käfer
Hätten Hirschhausen oder andere Medien sich die Mühe gemacht, Landwirte, Saatgutfirmen oder Pflanzenzüchter nach den Ursachen zu fragen statt einfach zu unterstellen, dass daran die Saatgutmultis schuld seien, hätten sie dieses Verschwinden einordnen können. Zugutehalten muss man ihnen aber, dass nicht nur Aktivisten und die FAO, sondern auch deutsche Behörden munter an der Legende des „Aussterbens“ stricken. So führt die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung eine „Rote Liste der gefährdeten einheimischen Nutzpflanzen in Deutschland“.
Schon der Titel ist irreführend, denn es geht um Sorten und nicht um Arten. Zudem sind die nicht wirklich ausgestorben, sondern nur aus der Landwirtschaft verschwunden. Dafür gibt es Gründe: Sorten sind mit der Zeit veraltet, d.h. sie sind den Schädlingen und Pflanzenkrankheiten, die sich beständig verändern, nicht mehr gewachsen oder sie kommen mit den veränderten klimatischen Bedingungen oder sind nicht mehr für die gewandelte Infrastruktur von Landwirtschaft, verarbeitender Industrie und Handel geeignet. Hinzu kommen anderer Aspekte wie geringer Ertrag oder veränderte Geschmacksmoden. Dann werden sie durch bessere Sorten ersetzt.
Verschwunden sind sie dennoch nicht, denn allein in Deutschland gibt es mehrere Genbanken, aber auch Hobbyzüchter, die dafür sorgen, dass diese Sorten nicht unwiederbringlich verloren gehen. Allein in der Genbank des Julius-Kühn-Instituts für Züchtungsforschung in Dresden-Pillnitz stehen rund 800 verschiedene Apfelsorten, daneben Birne, Pflaume, Süß- und Sauerkirsche, Erdbeere, Him- und Brombeere sowie verschiedene Wildobstarten. Daneben gibt es die Deutsche Genbank Obst (DGO), die Deutsche Genbank Rebe (DGR), die European Vitis Database und die Deutschen Genbank Zierpflanzen. In der Genbank des Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK Gatersleben) befinden sich fast 3.000 Arten aus 92 Pflanzenfamilien, darunter Getreide ebenso wie Gemüsepflanzen. Sie alle werden nicht nur eingefroren, sondern in regelmäßigen Abständen angebaut, so dass sie als Ressource weiterhin für die Züchtung zur Verfügung stehen. Schaut man in EU Sortenkatalog und recherchiert ein paar der aufgeführten Arten, dann findet man z.B. zur Schalotte (Allium cepa var. aggregatum) 64 Sorten. Wenn man nach der Küchenzwiebel sucht, kommt man auf ca. 1.000 registrierte Sorten, bei Hafer (Avena sativa) sind 460 Sorten eingetragen und beim Raps 4.666.
Die absurde Liste aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium enthält also alte Sorten, die mittlerweile durch neue Sorten ersetzt wurden und daher vom Markt verschwunden sind, wobei ihre Genetik und damit viele ihrer Eigenschaften Eingang in die neuen Sorten gefunden haben.
Tatsächlich nimmt die Sortenvielfalt in der Landwirtschaft nicht ab, sondern seit Jahrzehnten zu. Es gibt in Europa derzeit laut Sortenkatalog mehr als 21.000 verschiedene Gemüsesorten und über 23.000 Sorten bei sonstigen landwirtschaftlich genutzten Arten (Getreide, Rüben, Futterpflanzen usw.). Für diese Vielfalt moderner Sorten sorgen allein in Deutschland Hunderte von Saatguterzeugern.
Auch die Liebhaber alter Sorten können auf mehr als ein Dutzend Anbieter zurückgreifen. Für großflächigen Anbau sind diese Sorten aber einfach nicht mehr geeignet. Es ist in etwa so wie mit den Oldtimern auf dem Automarkt. Mag sein, dass der Komfort einen DS, die Kurvenlage einer Ente, die Eleganz eines Jaguar E und die Reparaturfreundlichkeit eines Käfers unübertroffen sind, aber niemand würde ernsthaft von VW verlangen, den Käfer weiter zu produzieren und niemand, der den Komfort moderner Autos schätzen gelernt hat, würde gern im Winter morgens mit einem Auto zur Arbeit fahren, in dem Rundumsicht, Platz, Heizung und Lüftung so miserabel sind wie in einem Oldtimer aus den 1960ern.
Alles in allem offenbart Hirschhausens Beitrag das ganze Elend der medialen Wahrnehmung der Landwirtschaft: Das Ideal scheint der Demeter-Bauer zu sein, der nach dem Aussaatkalender arbeitet und seine Pflanzenstärkungsmittel ebenso wie den Dünger und sein Saatgut selbst erarbeitet. Motorisierung ist gerade noch erlaubt. Der Rest – Mineraldünger, synthetische Pflanzenschutzmittel, Hybridsorten oder gar Gentechnik – gilt als schädlich und sollte am besten aus der Landwirtschaft verschwinden.