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Folkwang-Uni: Ist Israel ein „einziges Apartheidsystem“, Professor Laurie Anderson?

Laurie Anderson performing at the Hirshhorn Museum Oct 2023 by Sdkb cc 4.0

Vor drei Jahren forderte Laurie Anderson, weltweit gefeierte Performance-Künstlerin, alle wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen mit Israel zu „kappen“, Israels Demokratie müsse mit „Sanktionen“ belegt werden, die Gründung des Staates habe ein „einziges Apartheidsystem“ geschaffen. Jetzt übernimmt Anderson die Pina Bausch-Professur an der Folkwang Universität der Künste. Finanziert wird die ambitionierte Gastprofessur mit Mitteln des Landes NRW.

International genießt Laurie Anderson enormes Renomee, ihre Berufung an die Folkwang-Uni hat weites Medienecho gefunden. Zu Recht, die multi-disziplinäre Performance-Künstlerin unterläuft die Erwartungen, die einzelne Disziplinen ausbilden, sie tut dies auf eine Weise, die nicht belehrt, sondern Wahrnehmen lehrt. „‘Doing art that’s about politics’“ sei das eine, erklärte sie im Mai 2017 der Irish Times, „‘doing politics in an artful way’” etwas anderes: „Aktivismus und Kunst haben sehr unterschiedliche Ziele: das eine ist, die Dinge zu verändern, das andere, die Dinge gut genug zu beschreiben, damit die Leute sich eine eigene Meinung bilden können.“ Sie selber, fügte sie an, „ich gehöre zur zweiten Kategorie.“ Ist das so?

Zum Sommersemester tritt Anderson ihre Gast-Professur an der Folkwang-Universität der Künste an, die Erwartungen sind hochgeschraubt. „Passt perfekt“, ließ die Kultur- und Wissenschaftsministerin des Landes NRW, Ina Brandes (CDU) mitteilen: „Deutschlands zweitgrößte Kunst- und Musikhochschule besitzt internationale Strahlkraft.“ Anderson, so der Rektor der Uni, Andreas Jacob, „verkörpert perfekt, was wir uns für den interdisziplinären Ansatz dieser Professur wünschen“. Zuvor war der Essener Stuhl erst einmal und mit Marina Abramović ebenfalls äußerst namhaft besetzt: Laurie Anderson werde, sagt Jacob, ihren Studenten zu „künstlerischem Mut verhelfen“.

Passt perfekt? Ein Jahr nach dem Interview mit der Irish Times, im Sommer 2018, scheint sich etwas zu verschieben in Andersons Sicht auf „die Dinge“, und das hat mit der Ruhrtriennale zu tun, dem hochkarätigen Festival der Künste, dessen Gesellschafter das Land NRW ist. Und es hat  –  NRW legt großen Wert auf enge Beziehungen zu Israel  –  mit BDS zu tun, der Boykottkampage gegen Israel, angeleitet von Hamas.

Das BDS-Drittel

Blick zurück: Ende Mai 2018 spielt Laurie Anderson ein Konzert in der Henry Crown Konzerthalle in Jerusalem, das Konzert ist Teil des Israel Festivals zum 70. Jahrestag der Unabhängigkeit. Ihre Zuhörer, so berichtet es mondoweiss  –  die Website protegiert BDS ungebremst  –  fordert sie anfangs zu einer Performance auf, alle sollen 10 Sekunden lang laut schreien und dabei „an die schlimmsten Dinge denken, die in der Welt passieren, an Donald Trump, Nordkorea, die schmelzenden Eisberge, Schießereien an US-Schulen, Schießereien an irgendeiner Grenze …. Das war‘s“, so mondoweiss empört. Keine Rede von Gaza, keine von Grenzzäunen, mit dem Zaunpfahl habe Anderson allenfalls gewunken.

Sechs Tage später in Bochum: Ruhrbarone und Christuskirche Bochum machen zeitgleich bekannt, dass der Ruhrtriennale eine BDS-Band ins Programm gerutscht ist, die Young Fathers, smarte schottische Triphopper, die den totalen Boykott der israelischen Republik promoten. Auch Laurie Anderson ist für das NRW-Festival angekündigt mit eben jenem Programm, das sie in Jerusalem gespielt hat, „The Language of the Future“. Die Ruhrtriennale stellt sich zunächst hinter BDS und erklärt, die Hetzkampagne lade lediglich zu einer „kritischen Auseinandersetzung mit einer komplexen Thematik“ ein. Wenig später distanziert sich das Festival „ausdrücklich“ von BDS: An die Young Fathers sei man „herangetreten, um auch von der Band eine unmissverständliche Distanzierung von BDS und jedweder Form von Antisemitismus und Rassismus zu erhalten“. Als das Management der Band dies verweigert, kippt die damalige Intendantin der Ruhrtriennale, Stefanie Carp, die Schotten aus ihrem Programm. Anschließend habe sie, so erzählt es Carp der Nachtkritik, „Wort für Wort ein Statement zusammen mit dem Management (der Young Fathers; thw) abgefasst, ganz genau so, wie die es haben wollten. Das Wort ‚cancelled‘ sollte unbedingt drinstehen, für die Fans.“ Dann die großen Augen: „Am Tag nach der offiziellen Absage haben sie angefangen, sich darüber zu beklagen, sie seien zensiert und ungerecht behandelt worden.“

Auf der „Zensur“, die Carp sich hat abschwatzen lassen, baut BDS im Sommer 2018 die internationale Kampagne zum Boykott der Ruhrtriennale auf. Lediglich fünf der im Programm vorgesehenen Künstler folgen dem Boykott-Appell, sie sprechen von „Ächtung“ und „Bestrafung“ und dass die Ruhrtriennale das „Weltgeschehen“ nicht begreife, keinem dieser Fünf kommt eine tragende Rolle fürs Festivalprogramm zu. Dennoch gibt Carp nach wenig mehr als einer BDS-Kampagnenwoche bekannt, sie habe die Young Fathers jetzt wieder eingeladen. Sie kürzlich ausgeladen zu haben, sei  –  und damit macht sich die Intendantin zur Pressestimme der BDS-Kampagne  –  „Zensur“. Der Rheinischen Post gegenüber begründet sie ihren Schritt allerdings anders, nämlich damit, dass, hätte sie ihre Ausladung nicht widerrufen, „wesentliche internationale Künstlerinnen und Künstler abgesagt hätten … Welche Künstler genau, sagte Carp nicht.“ Im Gespräch mit dem Spiegel deutet sie an, ein Drittel ihres Festival-Programms mit insgesamt mehr als 30 Produktionen habe auf der Kippe gestanden.

Das BDS-affine Drittel. Lässt sich Laurie Anderson dazu zählen? Nicht zu BDS, aber zu dem Drittel.

Den Gründungsaufruf des US-amerikanischen BDS-Ablegers, der Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel (PACBI) von 2004, hat Anderson offenbar nie unterschrieben. Auch die BDS-Kampagne zum Boykott der Ruhrtriennale, in der es heißt, die Ausladung einer BDS-Band sei eine „alarming form of censorship, ‚blacklisting‘ and repression“, trägt sie  –  anders als Patti Smith, Jarvis Cocker, Brian Eno, Peter Gabriel, Ken Loach, Massive Attack, Bonaventure Ndikung, Roger Waters usw. –  nicht mit. Wohl aber einen offenen Brief, den der britische BDS namens Artists for Palestine UK Ende Juni 2018 veröffentlicht und den nicht mehr nur fünf, sondern neun Ruhrtriennale-Künstler signiert haben, A wie Anderson vorneweg.

Laurie Anderson: Artists response to Ruhrtriennale Statement (Screenshot vom 22.01.24)

In ihrer Erklärung begrüßt Anderson die Wiedereinladung der Young Fathers, die Carp betont als BDS-Band ins Programm gehoben hat: Dies sei, erklärt Anderson, der mindest fällige Schritt, „um uns, die wir uns bedingt zurückgezogen haben oder diese Entscheidung erwägen, in die Lage zu versetzen, an der nächsten Ausgabe des Festivals teilzunehmen“ („… the absolut minimum step that was necessary to allow us, those who had conditionally withdrawn as well as those who were considering that decision, to be able to participate in the forthcoming edition of the festival with a clear conscience“). Es liest sich, als hätte sich Anderson bereits abgemeldet bei Stefanie Carp oder der ihren Rückzug in Aussicht gestellt. In ihrem Statement legt Anderson Wert darauf, dass es falsch sei, wenn Carp nun den Eindruck erwecke, sie werde von BDS unter Druck gesetzt. Druck? Ja, aber nicht von BDS, keiner von denen, die sich „vorbehaltlich“ oder tatsächlich „zurückgezogen“ hätten, sei „offizielles Mitglied der BDS-Kampagne“. Man verteidige lediglich das Recht eines jeden Künstlers, die eigene politische Meinung auf eine friedliche Weise  –  „such as boycotts“  –  zum Ausdruck zu bringen.

Die Argumentation des Statements ist freundlich und frei von Agitation, auch wenn fraglich sein dürfte, wie lange sie hielte, könnte Höcke malen wie Hitler oder Geigespielen wie Heydrich. Still und leise setzt Anderson voraus, dass die internationale Kunst- und Kulturszene politisch homogen sei und es Judenhass als „eigene politische Meinung“ in dieser Szene gar nicht geben könne. Am Ende läuft es wie bei BDS auf Boykott hinaus. Und mehr noch darauf, mit einer Boykottdrohung Druck auszuüben.

Meint Anderson dies mit „doing politics in an artful way“? Diese Form des stillen Boykotts?

Auf der letzten Documenta, der Ausstellung für zeitgenössische Kunst im Sommer 2022, hat sich gezeigt, wie effektiv diese kaum merkliche Form des Antisemitismus ist. Pro-israelische Künstler werden bereits bei der Programmplanung ausgesiebt, unmerklich fallen sie durchs Netz der Netzwerker. Andersons‘ Statement gibt eine Ahnung davon, wie selbstverständlich es im künstlerischen Betriebsalltag zu sein scheint, dass BDS-nahe Künstler damit drohen, auch ein bereits fertig geplantes Programm zu sprengen. „Ich möchte nicht Geisel einer Kampagne sein“, ließ Intendantin Carp die Öffentlichkeit wissen, nachdem sie sich zur Geisel einer Kampagne gemacht hatte. Einer Kampagne, von der ihr Laurie Anderson erklärt, es gäbe sie gar nicht: Im Sommer 2018 betreibt Anderson das Geschäft von BDS ganz ohne BDS.

 „Letter against Apartheid“

Frühjahr 2021. Zwischen dem 10. und 21. Mai feuern Hamas und andere Killer-Cliquen 4.350 Raketen in israelische Städte hinein, 434 pro Tag, 13 Israelis werden ermordet. Israel reagiert, indem es die Abschussrampen zerstört, Hamas hat sie quer durch die zivile Infrastruktur verteilt, am Ende sind 248 Palästinenser tot und die Welt verlässlich empört. Am 26. Mai erscheint auf diversen Websites im BDS-Umfeld ein Letter Against Apartheid, rund 250 palästinensische Künstler erbitten den Support der internationalen Kulturszene für ihre Sicht der Dinge. „Wir“, heißt es darin  –  mit „wir“ sind hier zunächst alle Palästinenser in Gaza und im Westjordanland gemeint  – , „sind ein Volk, das durch die Architektur des israelischen Staates gewaltsam getrennt wird.“ Liest sich dieser Satz noch mehrdeutig, wird es schnell konkret: „Seit An-Nakba, dem Beginn der israelischen Siedlerkolonialherrschaft im Jahr 1948“  –  also seit Gründung des Staates Israel gemäß Beschluss der UN-Vollversammlung  –  „wurden unsere Gemeinschaften (…) gewaltsam zersplittert und ausgelöscht.“ Längst sei klar, heißt es weiter, „dass es keine Trennung zwischen dem israelischen Staat und seiner militärischen Besatzung gibt“: Die Existenz Israels und die „Besatzung“ bildeten zusammen ein „einziges Apartheidsystem“ und darum ein „Verbrechen gegen die Menschheit“.

Gegen das Verbrechen namens Israel bietet der Letter das komplette BDS-Programm auf: B wie Boykott („Handels-, Wirtschafts- und Kulturbeziehungen kappen“),  D wie De-Investition („Ende der Unterstützung Israels“), S wie „Sanktionen verhängen“. Ganz wie bei BDS geht es nicht etwa um den Boykott von Waren nur aus „besetzen Gebieten“, sondern um einen totalen Boykott. Und wie bei BDS bleibt es auch hier absichtsvoll diffus, ob „palästinensische Befreiung“  darin bestehe, Israel in toto zu eliminieren.

11. Mai 2021 in Holon, Israel | Photo by Yoav Keren cc 4.0

Mehr als 1100 Namen aus der internationalen Kunst- und Kulturszene haben diesen Letter against Apartheid unterschrieben, damit gewinnt er den Status eines Bekenntnisses. Aus der Musikbranche die unvermeidlichen Namen von Roger Waters und Brian Eno, aber auch die Namen von Bands wie Cypress Hill und Rage Against The Machine; aus der Filmbranche ua Ken Loach und Susan Sarandon; aus der Literatur Caryl Curchill und Annie Ernaux, Kamila Shamsie und Sally Rooney; aus der Welt der Kunst die Namen von Bonaventure Ndikung, inzwischen Chef des „Haus der Kulturen der Welt“ in Berlin, von Adam Szymczyk, künstlerischer Leiter der Documenta 14, von Ade Darmawan und Reza Afisina, den Ruangrupa-Kuratoren der Documenta 15  –  und eben auch der von Laurie Anderson, auch sie hat die Welt wissen lassen, dass es keine „zwei gleichberechtigten Seiten“ gebe, sondern:

„Israel ist die kolonisierende Macht. Palästina ist kolonisiert. Das ist kein Konflikt: das ist Apartheid.“

Das ist von bestürzender Schlichtheit, es ist Andersons Sicht auf die Welt im Mai 2021. Sich derart dümmlich zu geben, ist gnadenlos gegen den jüdischen Staat, gnadenlos aber auch gegen sich selbst. Das sacrificium intellectus, das sie hier darbringt, der Drang, sich einem Weltsortierprogramm zu unterwerfen, ist manichäisch wie der faschistische. Anders als bei Holzköpfen wie Waters oder seifigen Figuren wie Afisina bleibt hier allerdings ein Moment der Beschämung zurück. Meint Laurie Anderson ernst, was sie bekennt?

 „Doing politics in an artful way”

Reza Afisina, Kurator der antisemitisch durchgestarteten Documenta („Free Palestine From German Guilt“), wurde im Anschluss auf eine Gastprofessur an die Hamburger Kunsthochschule berufen. Die Entscheidung, hieß es, sei bereits vor dem Documenta-Skandal getroffen worden. Anders bei Laurie Anderson, die Entscheidung, sie als Gastprofessor an die Folkwang-Universität zu berufen, fiel wohl deutlich nach ihrer antisemitischen Entgleisung.

Auf Anfrage dieses Blogs teilte ein Sprecher des NRW-Ministeriums für Kultur und Wissenschaft jetzt mit, man stehe „fest an der Seite Israels“, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft sei allerdings „ein hohes Gut, so dass das Ministerium selbstverständlich davon absieht, Meinungsäußerungen von Künstlerinnen und Künstlern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu kontrollieren“. Laurie Anderson sei „gleichwohl“ von der Folkwang Universität der Künste gebeten worden darzulegen, „ob sie auch nach den Terroranschlägen der Hamas vom 7. Oktober 2023 an ihren Kommentaren festhält und sich heute gleichlautend äußern würde“. Das bestätigte heute auch die Pressesprecherin der Folkwang-Uni, Maiken-Ilke Gross: Man wolle „zeitnah das Gespräch mit Laurie Anderson suchen“.

Die Situation ist heikel. Die Debatten der letzten Jahre haben gezeigt, dass ein BDS-affines Milieu imstande ist, auch größte Kulturtanker zu zerschießen. Von Laurie Anderson erwarten, dass sie ihre Unterschrift zurückzieht? Nach dieser Vorgeschichte, die Anderson mit den Young Fathers verbindet? Mühelos vorstellbar, wie ihr Widerruf zum Volley würde für „Strike Germany“ und ein internationales Kulturmilieu, das sich abermals als Opfer von Repression und  –  siehe Carp  –  „Zensur“ inszenierte.  Andere Überlegung:

Bekannt gegeben hat Folkwang die Vergabe der Gastprofessur an Anderson keine 100 Tage nach den Massakern der Hamas, auf die sich auch das Kulturministerium in seiner Antwort bezieht. Der 7. Oktober 2023 markiert einen Riss im zivilisatorischen Bewusstsein, den der palästinensische Terror hineingefräst hat. Hamas  –  deren Terror in der palästinensischen Bevölkerung Zustimmungswerte erzielt, die erzittern lassen  –  hat sich aus der Einheit des Menschengeschlechts hinausgemordet, wie es die Nazi-Deutschen taten. Es gibt nun mal ein paar elementare Standards, auf die sich die Menschheit geeinigt hat, eine Art Gesellschaftsvertrag, der derart grundsätzlich ist, dass er alles, was er ausschließt, in den Mythos bannt oder ins Märchen: Du sollst keine Babys im Backofen braten. Unmittelbar vor Augen, dass Hamas Hänsel und Gretel re-inszensiert, einen ins Archaische zurückreichenden Horror, der seit Menschengedenken ins Märchen verschlossen ist, jetzt von Hamas als Tafelbild aufs Handy serviert. Du sollst deine Kinder nicht in die Schusslinie halten und dich, als seiest du Saturn, der seine eigenen Kinder verschlingt, hinter ihren zerstückelten Körpern verschanzen. Wenn Hamas diesen Mythos jetzt vor die Kameras bringt, ist der Beifall allerdings groß, die Empörung  –  nicht über Hamas, über Israel  –  hat theatralische Qualität, sie zeigt, wie sehr die Hamas-Barbarei aus dem Zitat lebt, aus der Inszenierung eines archaischen Erbes, seiner Ästhetisierung, seiner Live-Performance. Umso dringender, solche Performance nicht allein militärisch, nicht allein politisch, auch ästhetisch zu widerrufen und die Bilder der Barbarei, die im eigenen Kopf wüten seitdem, in keine Asservatenkammer auszulagern, sondern den Horror sinnlich einzuhegen, die Horrorbilder zu verwandeln, sie übermalen. „Doing politics in an artful way.”

Selbstbildnis mit Folkwang

Es wäre ein Weg, Sharon Dodua Otoo hat ihn kürzlich eröffnet. Die britisch-deutsche Schriftstellerin sollte den Peter-Weiss-Preis der Stadt Bochum erhalten; als dieser Blog berichtete, Otoo habe bei Artists for Palestine unterschrieben, dem britischen BDS-Ableger, und sei damit einem Umfeld verbunden, das den Horror des 7. Oktober beiseite deutet oder bejubelt, zog Otoo ihre Unterschrift ohne Zögern zurück. Ihren Schritt begründete sie durchaus politisch, aber sehr viel mehr dadurch, wie sie es tat: In ihrer Erklärung wendet sie sich nicht an ihre Audience oder die Leserschaft bundesdeutscher Feuilletons, sondern zuerst an die Angehörigen von denen, die Hamas weggeschlachtet hat. Ihnen gegenüber formuliert sie ihre Gefühle, die Abscheu, das Entsetzen, die Hilflosigkeit, und wie sie dies tut, ist nicht nur frei von Stanzen und Formelsprech, es zu lesen, findet man sich eingewoben in ein Mitgefühl, das fraglos erscheint wie nichts anderes auf der Welt. Ein literarischer Ton, der neu ist in der BDS-Debatte deshalb, weil Otoo die künstlerische Perspektive wechselt: Jetzt ist es nicht mehr die Kunst, die von sich behauptet, sie könne die Wirklichkeit verändern, jetzt ist es die Wirklichkeit, die Kunst verändern könnte.

An dieser Fähigkeit, sich künstlerisch selber zu reflektieren, ist ein Jahr zuvor die Documenta 15 gescheitert. Nicht an ihren Kuratoren, die schlaumeiernd schwiegen, nicht an ihren Leitungsleuten, die es mit Formelsprech versuchten, nicht an Moderatoren, die meinten, man müsse nur mal miteinander reden, sondern daran, dass der Kunst selber  –  rund 1500 Künstler 100 Tage lang an 1 Ort  –  rein gar nichts einfiel zum Judenhass auf ihrer eigenen Party. Mit Kunst hatte die Kunst der Documenta nichts zu tun, nichts mit sich selbst. Das Weltbild, das Taring Padi über alle hinweg gespannt hatte  –  antisemitisch bis ins Detail  –  wurde verhängt, dann abgehängt, dann eingelagert für die nächste Show, während die Verherrlichung von Terror gegen Juden ungehindert weiterlief: “Doing art that’s about politics“.

Keine künstlerische Reaktion dagegen, fast keine, auf die Schäbigkeit und Scheußlichkeit des Judenhasses, der dem Kulturbetrieb innewohnt wie der Geist einer Flasche. Durchaus denkbar, dass sich die Documenta von dieser Selbstdemontage der Kunst nicht mehr erholt.

Das steht auf dem Spiel. Laurie Anderson, so formuliert Folkwang die eigene Erwartung an ihr Wirken, solle ein „alle Grenzen überschreitendes Denken und Forschen umsetzen“. Nun denn, lasst sie alle Grenzen überschreiten. Auch die der eigenen Beschränktheit und der politischen Einfalt des Kunstbetriebs. Lasst sie die Flasche entkorken und die Hände tief eintauchen ins Blut, das vergossen werden soll. Oder lasst sie den Geist einfangen und versuchen, etwas abzuwischen von dem Blut, das vergossen worden ist. Ein Selbstporträt des Kunstbetriebs im Angesicht des Horrors der Hamas. „Wenn ich höre, Kunst soll die Welt verbessern, dann gefriert mir das Blut in den Adern“, sagt Laurie Anderson.

Eine öffentliche Abschlusspräsentation, hat die Folkwang-Uni mitgeteilt, „ist für den Juli 2024 angedacht.“

 

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