Vorgestern habe ich für die „Jüdische Allgemeine„ von der Verleihung der Ludwig-Börne-Medaille an Marcel Reich-Ranicki berichtet. Es war eine außerordentlich unterhaltsame und – wie so oft, wenn jemand für sein Lebenswerk geehrt wird – bewegende Veranstaltung.
Harald Schmidt sang ein Gedicht von Brecht, Tommy Gottschalk sprach über seine Freundschaft zu Reich-Ranicki und Frank Schirrmacher gab Anekdoten aus jener Zeit zum Besten, als Schirrmacher gerade bei der FAZ anfing und dem Literaturkritiker mit vor Angst zitternden Händen Rezensionen zur Begutachtung vorlegte („„Mein Lieber, das können wir auf der Seite 2 eventuell drucken, wenn Sie den Anfang komplett umschreiben und alle Fremdworte streichen; aber für Sie, merken Sie sich das, gilt das Sprichwort: ,Er hört die Glocken, aber er weiß nicht, wo sie hängen.‘““).
Dann betrat Henryk M. Broder das Podium und hielt eine ebenso herzliche (»Bleiben Sie gesund. Bleiben Sie stark, bleiben Sie böse. Vor allem aber: Bleiben Sie!«) wie kritische Rede. Er forderte von Reich-Ranicki, sich auch jenseits der Bücherwelt einzumischen, wenn etwa der Gaza-Streifen wie dieser Tage wieder einmal unzulässig mit dem Warschauer Ghetto verglichen werde, das er mit seiner Frau Tosia überlebt hatte. Broder fragte: „Bekommen Sie nicht eine Gänsehaut, wenn im Zusammenhang mit den Lebensbedingungen in Gaza von ›Zuständen wie im Warschauer Ghetto‘ geredet wird? Packt Sie da nicht die Wut und das Verlangen, Ihr Zuhause in der deutschen Literatur für einen Moment zu verlassen und sich draußen auf der Straße umzusehen, wo nicht die Freunde von Heine und Hölderlin unter den Linden flanieren, sondern die Anhänger von Hamas und Hisbollah‚ Zionisten raus aus Palästina!‹ rufen?“
Er wünsche sich von Reich-Ranicki, seinen Status als populärer Literaturkritiker dazu zu nutzen, sich für Israel auszusprechen. Denn: »Man kann in der deutschen Literatur zu Hause sein, aber man kann nicht so tun, als würde man in der deutschen Literatur leben.«
Nachdem Broder die Bühne verlassen hatte, um dem Jubilar zu gratulieren, stand Reich-Ranicki auf und umarmte den Festredner – eine Geste, die an diesem Tag wohlgemerkt nur Broder zuteil wurde.
Und dass dieser mit seiner Rede ins Schwarze getroffen hatte, folgte auf dem Fuße. Der Umstand, dass gerade einmal die Hälfte des Publikums nach Broders Rede applaudierte, belegte eindrücklich, wie unerlässlich es nach wie vor ist, einen Kontrapunkt zum populären und undifferenzierten Israel-Bashing zu setzen. Die ablehnende Reaktion des ehrenwerten Frankfurter Publikums zeigte darüber hinaus, dass Reich-Ranicki nie der zeitweise bedeutendste Intellektuelle der Bundesrepublik geworden wäre, wenn er sich regelmäßig zu politischen Themen oder gar zu Israel und dem Nahost-Konflikt geäußert hätte.