
Alle Politiker wollen sie, alle Zugewanderten sollen sie belegen: Die Integrationskurse gelten als Wundermittel für den Zugang zur deutschen Gesellschaft. Wie es in den strammen Kursen wirklich zugeht, erzählen hier MigrantInnen
Neun Monate lang hat Violeta geschwiegen. Hat den Kopf über das vor ihr liegende Heft gebeugt darauf gewartet, dass der unverständliche Integrationkurs endlich vorüber geht. „Es war eine Qual“, sagt die 41 Jahre alte gebürtige Polin. Sie habe sich geschämt etwas zu sagen und nur sehr wenig verstanden. Jetzt aber ist die Frau mit den sorgfältig manikürten Fingernägeln und der schnellen Zunge aufgeblüht. Sie besucht an der Volkshochschule in Münster die Kurse „Basiskompetenzen für Arbeit“. Dazu gehören Deutschkurse, EDV-Stunden und persönliche Beratungen. Es ist ein bundesweit einmaliges Projekt, dass Migranten den Zugang zur deutschen Gesellschaft erleichtern soll. Ein Auffangbecken für die vielen Zugewanderten, die der Integrationskurs hilflos zurück ließ. „Hier verstehe ich und hier lerne ich zum ersten Mal“, sagt Violeta.
Dabei hat die vor wenigen Tagen beendete Innenministerkonferenz noch einmal einmütig betont, die Integrationskurse müssten deutschlandweit ausgebaut werden. Sie gelten den Politikern fast aller Parteien als Allheilmittel für den Zugang zur deutschen Gesellschaft. An der VHS in Münster wird offenbar, wie fatal sich hingegen diese Kurse auswirken können: In sechs bis neun Monaten sollen Zugewanderte deutsch lernen und die vergangenen Bundeskanzler kennen, sie sollen die Bundesländer aufzählen und die Daten den II. Weltkrieges auswendig können. Viele Migranten sind nach den Kursen völlig verunsichert: Darin sitzen Analphabeten mit geflohenen Ärzten und Unidozenten zusammen, Menschen mit Fremdsprachenkenntnissen und Menschen, die in ihrer Heimat gefoltert wurden.

„Einige sitzen seit Monaten in den Kursen und können anschließend kaum ein Wort deutsch sprechen“, sagt Helena Donecker. Die Sprachlehrforscherin berät an der VHS die Zugewanderten, wie sie sich dem Deutschen nähern können. Einige von ihnen haben nur wenige Jahre eine Schule besucht und wissen gar nicht, wie sie lernen sollen. „Häufig verlieren die Menschen jedes Vertrauen in ihre Fähigkeiten, das müssen wir hier erst wieder aufbauen,“ so die Lernberaterin. Die 29-Jährige beobachtet, wie schwer es manchen fällt, die Integrationskurse zu nutzen. „Manche haben Gewalt erfahren, sind alleinerziehend verantwortlich für vier oder mehr Kinder oder müssen existenzielle Fragen über ihren Aufenthaltsstatus klären – da ist wenig Raum für lange Vokabellisten.“
Deshalb lernen die Teilnehmer in ihren Kursen auch nicht stumpf die Grammatik auswendig. Sie pauken die Obst- und Gemüsenamen, lernen eine Kündigung zu schreiben oder welche Vokabeln beim Frauenarzt wichtig sind. Auch die bislang unverständliche Post vom Amt wird hier geöffnet und erschlossen. Violeta möchte gerne wieder in ihrem früheren Job arbeiten, sie war Friseurin. Bislang scheint das unmöglich. „Ich spreche nicht gut genug und sehe vielleicht etwas anders aus“, ist ihre Erklärung. Auch ihre Sitznachbarinnen können den Beruf ihrer Heimat nicht ausüben, sie waren zum Beispiel Modedesignerinnen, Handelskauffrauen oder Kosmetikerinnen. Keine von ihnen glaubt, jemals wieder in ihrem erlernten Job arbeiten zu können.
Die Integrationskurse werden von der Bundesregierung immer wieder als wichtigster Schritt in den deutschen Arbeitsmarkt hervor gehoben. Auch auf der vor wenigen Tagen beendeten Innenministerkonferenz sprachen sich alle Politiker dafür aus, diese Kurse noch auszuweiten. Denn entgegen der Warnungen von Christdemokraten, den „Verweigerern“ ein Bleiberecht zu verwehren, sind die Wartelisten lang. Häufig kommen die Teilnehmer in der VHS mit dicken Aktenordner aus den Kursen an. Sie haben ordentlich jeden einzelnen Buchstaben des Alphabets abgemalt und können doch kein Wort schreiben.

„Niemand achtet darauf, was in den Kursen passiert“, sagt Amir Pirzad. Der Iraner ist vor drei Jahren nach Deutschland gekommen und hat in seinem Integrationskurs „drei Monate verzweifelt rumgesessen.“ Die Lehrer hätten zu schnell gesprochen und das Buch durchgepaukt. Auch Pirzad ist jetzt an der VHS und glücklich über die verständnisvollen Pädagogen. „Zum ersten Mal lerne ich wirklich etwas“, sagt der junge Mann mit der trendigen Sportjacke. Aufgebracht und heftig gestikulierend erzählt er vom Integrationskurs, der ihm offenbar nicht geholfen hat und „nur verunsichert“ hat. Die Prüfung am Ende des Kurses hätten nur drei von 30 Menschen bestanden. „Das ist doch ein Skandal“, meint er. Pirzad findet, alle Migranten sollten zuerst so einen Kurs wie an der VHS besuchen dürfen.
Finanziert wird dieses Angebot von der Arbeitsagentur in Münster. In der bürgerlichen Stadt in Westfalen mit rund 300 000 Einwohnern leben 1500 arbeitslose Menschen mit Migrationshintergrund. „Menschen aus anderen Kulturen mit extremen Erfahrungen müssen viel individueller gefördert werden“, sagt Marianne Jaehnke, Teamleiterin bei der Agentur. Sie sollen lernen, sich in Deutschland zurecht zu finden. Dazu sei es wichtig, die Geschlechter in den Kursen zu trennen, weil gerade islamische Frauen in gemischten Gruppen sehr gehemmt seien. „Wir wollen auch diese Rollenbilder kräftig aufmischen“, sagt sie. In ihrem Amt säßen häufig die Ehemänner auf dem Flur, um ihre Frau direkt nach der Beratung abzufangen. „In diesen Kursen hier sind Frauen alleine und gehen selbstbewusster wieder nach Hause“, so Jaehnke.
Amir Pirzad möchte am liebsten wieder als Heizungs-und Sanitärinstallateur arbeiten, wie er es schon sieben Jahre lang im Iran getan hatte. Aber seine Ausbildung wird nicht anerkannt. So reihen sich auch bei ihm die „Maßnahmen“ der Arbeitsagentur und Praktika aneinander. Zuletzt hat er als Hausmeister gearbeitet und sein Chef, sagt er, sei „sehr zufrieden mit ihm gewesen“. Weil er aber nicht ausreichend auf deutsch schreiben kann wurde er nicht länger beschäftigt.
Der Russe Andrej Krasnokutzki lacht unaufhörlich über die „absurden Kurse“, die er schon besucht hat. Darunter waren ein Sprachkurs am Goetheinstitut, zwei Integrationskurse, zahlreiche Praktika als KFZ-Mechaniker und im Metallbau. Dutzende Bewerbungen hat er geschrieben, für Möbelhäuser, eine Metallfabrik, als Gabelstaplerfahrer. Bislang hat er nicht einmal eine Antwort erhalten. Aysche war Bürokauffrau in der Türkei und wurde hier vom Arbeitsamt „putzen geschickt“. Die quirlige junge Frau spricht verächtlich über den Job, den sie gegen ihren Willen ausüben musste. Sie habe sich am Berufskolleg beworben, um Erzieherin zu werden, sie wollte an der katholischen Schule Sozialarbeiterin lernen. „Aber das Amt hat gesagt: Du hast schon eine Ausbildung, wir geben Dir kein Geld dafür,“ sagt die alleinerziehende Mutter von drei Kindern. „Ich will aber nicht immer nur von Wasser und Brot leben, sondern möchte auch mal Süßes essen“, sagt sie blumig. „In Deutschland sind wir nicht Menschen zweiter Klasse, wir sind in der vierten oder fünften Klasse.“








