Ich bin in der "Kultstadt" Wanne-Eickel mitten im tiefsten Ruhrgebiet geboren, bin dort zur Schule gegangen und habe in Dortmund studiert. Meinen ersten Job hatte ich an der Technischen Universität in West-Berlin (damals noch „Frontstadt“) bekommen, ging aber danach wieder zurück ins Ruhrgebiet. Meinen engen persönlichen Kontakt zur Spreemetropole habe ich jedoch weiter bewahrt. Seit fast 10 Jahren lebe ich sowohl in der Ruhr- als auch in der Hauptstadt und möchte auf beide nicht mehr verzichten, so lange ich noch mobil genug fürs regelmäßige Pendeln bin.
Ruhrgebiet bei Nacht: Schwerstintellektuelle lassen sich bei einem Dialog über Wittgenstein von Pils- und Weizenbier inspirieren.
Mag sein dass mir niemand glaubt. Aber Ruhr kann inspirierender sein als Berlin. Ich z.B. brauche dafür Abwechslung und Ungewohntes, neue Gesichter wie neue Gegenden. Im direkten sinnlichen Austausch. Sie bringen mir neue Gedanken und Ideen. Es nützt mir nichts regelmäßig da zu sein, wo angeblich was los ist. Weder in Berlin noch in Ruhr. „Was los“- Orte gibt es in Berlin sehr viel mehr als in Ruhr. Ganze Stadtbezirke haben sich zu dem gemausert, was man heute Szeneviertel nennt. Nach Prenzlauer Berg („Prenzelberg“), Kreuzberg und Friedrichshain ist jetzt wahrscheinlich der Wedding dran. Zumindest sind erste Anzeichen dafür vorhanden.
Der dazugehörige Szenetourismus ist gewaltig. Immer noch mehr schlacksige dünne Männchen mit großen Brillen und auf wild geföhnten und gelegten Haaren mit darauf drapierten kleinen Hütchen. Immer noch mehr weißhäutig Mädchen mit ebenso großen Brillen, dafür aber umso kleineren Hund(ch)en, deren Frau(ch)en ihren nichtssagenden Gesichter mit Amy-Winehouse –Frisurvariationen Authentizität verleihen. Das ist im ersten Moment ganz spannend, wird aber sehr schnell langweilig. Da siehst du in jeder S-Bahn im Ruhrgebiet zwar nicht so gestylte, dafür aber wesentliche interessantere Menschen. Ihre Unterhaltungen, vertont in babylonischer Sprachverwirrrung, drehen sich nur sehr selten um die Szenenstandards Kunst, Kultur und neue Medien, dafür jedoch umso mehr um das, was man das reale Leben nennt.
Bei den „Skinny People“ (nicht nur) in Berlin geht es dagegen in der Hauptsache um verbale Selbstinszenierung. Ihre Internationalität demonstrieren sie dabei mit (schlechtem) Englisch und dieses möglichst in der amerikanischen Fassung, denn dann könnten die Zuhörer meinen, dass man/frau aus New York wäre. Es gibt nämlich mehr New Yorker in Berlin als in sonst einer deutschen Stadt. Ihre Zahl ist allerdings lächerlich klein gegenüber der Menge von Leuten, die so tun als ob und deren krampfhafte Intonation sie in jeder Sekunde dafür Lügen straft. Dann lieber Kanak-Deutsch vermischt mit Ruhrslang.
So halte ich mich in Berlin sehr wenig in den sogenannten Vierteln der „Kreativen“ auf. Nicht nur das man die Miete für ein Loft oder auch nur ein kleineres Apartment dort nicht mehr bezahlen kann. Es ist die besondere Art von Menschen die mich (und nicht nur mich) dort zunehmend nervt. Ihre ständigen Versuche anders zu sein als alle anderen, ihre angestrengten Bemühungen immer cool zu wirken, haben etwas tief Vergebliches und damit äußerst Lächerliches an sich. Als „boringly different” werden sie in New York selbst bezeichnet. „From being cool to being a fool it´s only a little step”. Stimmt!
Ich suche in Berlin sowie in Ruhr deswegen ganz bewusst die weniger „szenigen“ Orte auf um mich inspirieren zu lassen. Und dazu benutze ich das urbanste aller Fahrzeuge: das Fahrrad. Der 3D-Film den ich dann jedoch jeweils zu sehen bekomme, könnte unterschiedlicher nicht sein. In Berlin die fast immer währende Dichte und Höhe der kompakten großen Stadt, in Ruhr das nicht enden wollende Straßendorf mit Einsprengsel von etwas, dass man landläufig City nennt. Ja, und Stadtteilzentren gibt es auch. Hunderte. Viel mehr als in Berlin. Dafür aber kleiner und umso weniger frequentiert. Abends und nachts häufig komplett tot. Solche Gegenden gibt’s natürlich auch in Berlin. Mehr als die meisten denken. Aber der größte Teil des innerstädtischen Bereichs ist auf Grund eben dieser baulichen Hochstapelung und der Zuwanderung vieler junger Leute auch nach 20 Uhr flächendeckend belebt.
Das vermisse ich manchmal in Ruhr. Dieses räumlich breit gestreute und durchaus juvenile urbane Leben. Da muss ich dann doch regelmäßig ins Bermudadreieck nach Bochum um mir in der Ruhrstadt genügend Kompensation für die sonstige Leere zu holen. Wobei Leere nicht das wirklich trifft, was diesen zweifellos überwiegenden, wenn nicht dominanten Teil dieser ehemaligen Industrieagglomeration ausmacht. Es gibt sehr wohl Fülle in dieser Leere. Man muss sie nur entdecken wollen. Sie ist nicht offensichtlich, liegt nicht auf der Straße. Sie hat etwas Melancholisches, Verlorenes. Eine Urbanität die hinter den Kulissen stattfindet.
Sie hat, was die kreativen Menschen die (auch) dort leben, betrifft, etwas Dissidentenhaftes.
Ihre Protagonisten verweigern sich nämlich den dröhnenden Treffpunkten der Selbst- und Fremdinszenierung. Des ständigen Sehen und Gesehen-Werdens. Zum einen weil sie es nicht nötig haben, weil ihre Selbstvermarktung auch ohne das gelingt. Zum anderen weil es die Inspiration des verschworenen kleinen aber feinen Kreises gibt, der vertrauten Gruppe, die sich in der urbanen Diaspora in eben ihrer Distanz zur „Szene“ heimisch fühlt. Die nur ab und zu die Impulse großer Gruppen und einer Menge fremder Gesichter braucht.
Besucht man diese Leute, sofern man von ihnen überhaupt weiß, ja sie sogar kennt, in der urbanen „Wüste“ der Ruhrstadt, so springt einem im selben Moment der Begriff der „Oase“ an. Ein gerade in seiner Abgelegenheit inspirierender Ort, der allerdings auch von seinen ständigen Besuchern lebt. Diese wiederum müssen in der Ruhrstadt – im Gegensatz zu Berlin – jedoch, wie die urbanen Wüstenkamele, bereit sein, längere Durststrecken der augenscheinlichen Leere zu überstehen.
Aber wie die Leere der Wüste eben selbst eine eigene sehr wohl inspirierende ästhetische Qualität hat, so hat diese auch das nicht endende Straßendorf namens Ruhr, die sogenannte größte Kleinstadt der Welt. Denn sie enthält im Gegensatz zu provinziellen Ordnung üblicher ländlicher Kleinorte so viele Brüche, Verschachtelungen und Fragmentierungen, dass auch der Weg zu den Oasen selten langweilig wird. Zumindest am Tag und in den frühen Abendstunden. Wer Gespräche führen will, kann das während dessen alle Nase lang tun. Er muss sich nur hinsetzen. Pause machen. Oder von sich aus Jemanden ansprechen. Selbst die schlichte Frage nach dem Weg kann hier ohne Weiteres zu einem überraschend langen Gespräch werden, dem sich in kürzester Zeit weitere (auf den Fremden) Neugierige anschließen.
Wer hoch interessante bisweilen sogar ausgesprochen schöne Gebäude bzw. Gebäudekomplexe sehen möchte kommt ebenfalls auf seine Kosten, sofern er die sonstige Banalität der Zwischenstadt nicht als Augenbeleidigung sondern als Ausdruck von Normalität auffasst. Auch Berlin ist in seiner Peripherie voll davon und nicht nur da. Wie alle Vorstädte dieser Welt. Die alte europäische Stadt, für die gerade aktuell wieder so viele der „Kreativen“ Schwärmen, macht nun mal auch in Europa nur noch einen Anteil von unter einem Prozent der städtischen Flächen aus. Das kann man bedauern und/oder sich in ihren letzten vorhandenen Enklaven ein mehr oder weniger teures Plätzchen sichern. Oder man kann sich dem stellen und auf Entdeckungsreise gehen. Im Emschertal zum Beispiel.
Gäbe es allerdings das B3E nicht, dann würde ich mich in Ruhr als Urbanaut , der ich nun einmal bin, nicht mehr so oft aufhalten. Dann wäre für mich Berlin eindeutig die erste Wahl in Deutschland. Egal wie viele tolle Museen, Theater, Konzerthäuser usw. usw. es in Ruhr gibt und noch geben wird. Egal wie viele kreative Oasen und Dissidenten sich im Ruhrstadtdschungel verstecken. Egal ob sich das ganze zu einer Stadt mit einer Verwaltung zusammenfindet oder weiter im Klein-Klein der Stadtfürstentümer verharrt.
Ich brauche auch die Impulse durch die dichte Menge der Unterschiede. Ich brauche auch das Schaulaufen der Vielen, die Selbstinszenierung der anderen, und sei es nur als Zuschauer. Ich brauche klassische sinnlich-interaktive Urbanität durch Menschendichte. Und da ist das sogenannte B3E im Ruhrgebiet (immer noch) nicht zu toppen. Und auch an diesem Ort –an dem es natürlich auch ein paar „Skinnys“ gibt – ist der Unterschied zu Berlin sichtbar. Nicht nur, dass es diese wenn auch nur städtisch punktuelle Dichte an so vielen Restaurants, Kneipen, Kinos usw. auf engstem Raum selbst in Berlin (noch) nicht gibt.
Hier begegnen sich in der Regel andere Leute. Sie sind bodenständiger und ihre Unterschiedlichkeit und Vielfalt ist real größer als in den meisten Szenevierteln Berlins. Dort werden sie in der Mehrzahl sowohl vom Outfit als auch vom Szene-Sprech von der mittlerweile weltweit recht einheitlichen Style- und Face-Book-Generation bestimmt. Und natürlich von ein paar echten und erfolgreichen „Kreativen“ die ihren Epigonen als umschwärmte Vorbilder gelten. Vielfältigkeit aus dem Worldwide Copyshop mit anschließender (Selbst-)Bildbearbeitung zwecks individueller Note. Nicht wirklich inspirierend eben.