Kinder haben mehr verdient! Das ist die klare Meinung der Verfassungsrichter in Karlsruhe, die heute deutlich gemacht haben: Die Hartz-IV Sätze für Kinder sind verfassungswidrig und entsprechen nicht der Lebenswirklichkeit. Wie knapp das Geld bei vielen Familien ist und wie sehr die Kinderarmut auch im Ruhrgebiet verbreitet ist, konnte ich erfahren, als ich die Arbeit der Bochumer Kindertafel einen Tag begleitet habe. Hier meine Eindrücke:
Die Frau weiß genau, wo die Tüte steht. Wenn sie ihre Tochter aus dem Kindergarten abholt, geht sie am Büro der Kita-Leiterin vorbei und nimmt sie unauffällig mit. Die Tüte ist gefüllt mit Lebensmitteln. Obst und Gemüse, zweiter Wahl. Sellerie, Kartoffeln, Bananen und Paprika. „Es gibt Kinder, die noch nie eine Paprika gesehen haben“ sagt Stefanie Rösen, die Leiterin der Kita. In dem Wattenscheider Kindergarten gibt es jeden Tag einen Korb mit frischem Obst und Gemüse.
Für einige Kinder der einzige Ort, an dem sie vitaminreiches Essen bekommen. Gefüllt wird der Korb von den Eltern. Doch nicht alle haben das Geld für Obst und Gemüse. Da hilft die Bochumer Kindertafel. „Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung der Tafel, vielen Familien fehlt es am Existenziellen“, sagt Rösen. 48 Tüten mit Lebensmitteln hat die Tafel gebracht, verteilt auf das Gemeindehaus, ein Altenheim und den Kindergarten. Am Morgen hatte die Tafel die Lebensmittel angeliefert, nachdem sie sie in Supermärkten im Ruhrgebiet eingesammelt hatte.
„Wir haben nur Frische im Kopf“ steht auf einem großen Werbeplakat. Es hängt über Regalen, die gefüllt sind mit Obst und Gemüse. Bananen ohne braune Flecken, strahlend grüne und rote Äpfel, knackige Gurken und Paprika. Eine Frau greift in die Kiste mit den Paprika, nimmt ein Dreierpack heraus, dreht es, begutachtet es, entdeckt einen Riss in der Plastikverpackung und legt es wieder hin. Diese Paprika ließen sich nicht mehr verkaufen, sagt die stellvertretende Marktleiterin Kerstin Kühnel: „Die Kunden wollen frische, schöne Ware. Wenn da ein Riss in der Packung ist, kauft das keiner mehr“. Kühlen legt sie in einen Karton, in dem schon Bananen mit leichten braunen Flecken und Äpfel mit Dellen liegen. Die sind für die Kindertafel bestimmt: „So kann sich noch jemand drüber freuen“. Täglich sortieren Kühnel und ihre Kollegen in diesem Bochumer Lidl-Markt Lebensmittel aus. Salat – zum Beispiel – dürfe nie länger als einen Tag im Regal liegen, sagt sie. Durch eine Stahltür wird der Karton mit Lebensmitteln auf einem Gitterwagen Richtung Anlieferungsrampe rausgeschoben.
Mit einem lauten Knarren rollt das Tor hoch. Auf der Laderampe stehen schwarze Säcke. Müll, der von Supermarktmitarbeitern aussortiert und hier zur Abholung bereit gestellt wurde. Daneben eine Palette, mit Lebensmitteln, wie Brot, Gurken, Grünkohl, Bananen und Paprika. Ein Wagen rollt rückwärts ans Tor. „Bochumer Kindertafel“ steht auf der Seite. Zwei Männer steigen aus. Heiko Kihl und Siegmund Hudzik.
Heiko Kihl ist vor vielen Jahren von Hamburg nach Bochum gezogen. Während er noch schnell an seiner Zigarette zieht, erzählt er vom Pech im Job und seinen Kindern, die er zu ernähren hat. Eines Tages war das Geld aufgebraucht und Kihl stand plötzlich in der Schlange für die Essensausgabe bei der Wattenscheider Tafel. Dann bot ihm die Arbeitsagentur einen Ein-Euro-Job an und Kihl nahm an. Seit fünf Wochen fährt er jeden Morgen Supermärkte in Bochum, Gelsenkirchen und Essen an, um das abzuholen, was andere nicht mehr wollen. „Es wird so viel weggeschmissen. Das ist leider unsere Konsumgesellschaft. Aber es ist schön, dass wir helfen können“.
Kihl und Hudzik wuchten grüne Kisten von der Ladefläche des Transporters auf die Laderampe des Lidl-Marktes stellt. Die beiden Männer packen die Lebensmittel direkt um, damit die Tafel nicht auf den Entsorgungskosten für die Kartons sitzen bleibt. Kihl und sein Kollege Hudzik packen die Lebensmittel um. Immerhin acht Kisten mit Obst und Gemüse sind zusammen gekommen.
Schnell laden die Beiden die Kisten in den Transporter, denn der Zeitplan für diese Tour ist eng gestrickt. Fünf Märkte sollen innerhalb von zwei Stunden angefahren werden. Wie viel es dort zu holen gibt, ist jeden Tag eine Überraschung. „Mal sind wir schon nach dreißig Minuten durch, mal reichen die zwei Stunden nicht, weil es so viel zu verladen gibt“, sagt Kihl, während er vom Hof des Lidl-Marktes fährt. Vorbei an den ersten Kunden, die in den Markt eilen um frisches Obst und Gemüse zu kaufen.
Für die Bochumer Kindertafel sind täglich 10 Transporter auf den Straßen des Ruhrgebiets unterwegs. Im Laufe des Vormittags fahren sie die Zentrale der Tafel auf einem ehemaligen Industriegelände in Wattenscheid an. Bochumer Kindertafel, Wattenscheider Tafel, Näherei und Sozialkaufhaus steht auf einem Schild, das den Weg auf den Hinterhof weist.
Der Initiator der Tafel ist Manfred Baasner. Seit mehr als 10 Jahren engagiert er sich in Bochum, nicht immer mit so viel Unterstützung wie heute. Auf einem Stuhl zurückgelehnt und etwas erschöpft erzählt er von den Zeiten, in denen die Politiker und die Stadtverwaltung von Kinderarmut nichts wissen wollten. „Was Sie da erzählen… so etwas gibt es in unserer Stadt nicht, waren damals die Reaktionen, als ich versucht habe die Kindertafel aufzubauen“, sagt Baasner. So kam es, dass er und sein Team zunächst im Verborgenen gegen Kinderarmut kämpften. Im Rahmen der Tafel, die Woche für Woche acht Tausend Menschen in Bochum mit Lebensmittel versorgt, wurden jahrelang auch Kindergärten und Schulen beliefert, vorbei an den Behörden, ja so, dass es keiner mitbekommt. Lehrer, Schulleiter und Erzieherinnen haben das Wohl der Kinder über die Regeln gestellt und heimlich Essen entgegengenommen und weiterverteilt. In der Zeit konnte Baasner Großspender akquirieren, Kühlschränke und Kühllaster kaufen und so dem Argument der Stadtverwaltung entgegentreten, er halte die Kühlkette nicht ein. Nach vielen Gesprächen, unter anderem mit Bundestagspräsident Norbert Lammert hat sich an der Blockadehaltung der Stadtverwaltung etwas geändert. Seit mittlerweile einem Jahr gibt es die Bochumer Kindertafel offiziell und ihr Bedarf wird zumindest nicht mehr geleugnet. 28 Schulen und 70 Kindergärten werden beliefert. Namen werden nicht genannt. Keiner bei der Stadt und kein Schul- oder Kindergartenleiter will, dass seine Schule oder sein Kindergarten mit Armut in Verbindung gebracht wird. Die Armut soll möglichst lautlos bekämpft werden und möglichst kostenlos. Finanzielle Zuschüsse von der Stadt gibt es nicht.
Deshalb ist Baasner über das große ehrenamtliche Engagement froh. Von früh morgens bis spät in die Nacht hinein arbeiten 420 ehrenamtliche Helfer und 1-Euro-Jobber für die Tafel. Es ist ein eingespieltes, aber doch hektisch wirkendes Hin- und Her in der Halle der Tafel. Ein Gabelstapler bringt große Kanister mit Öl zur Rampe. Daneben wird gerade ein Transporter ausgeladen. Kisten von der morgendlichen Supermarkttour werden auf dem Boden ausgebreitet und eine Frau macht sich direkt daran, die Lebensmittel zu sortieren. Es ist Barbara Kleiner. „Manchmal wundere ich mich schon, was alles weggeschmissen wird“, sagt sie und legt eine Paprika in eine der vielen grünen Gemüsekisten. Die arbeitslose Kleiner ist sechs Tage die Woche von halb sieben morgens bis zwei Uhr nachmittags bei der Tafel: „Ich habe Spaß an der Arbeit und es ist was Tolles, wenn man damit auch noch Kindern hilft“.
Und die Hilfe kommt an, ist sich Tafel-Chef Baasner sicher: „Viele Kinder gehen ohne Frühstück aus dem Haus, bekommen vielleicht einen Euro auf den Tisch gelegt, kommen nach Hause und kriegen nichts zu essen und Abendessen gibt’s auch nicht“. Baasner sieht in vielen Fällen die Eltern als Verursacher der Kinderarmut. Dadurch, dass die Tafel Schulen und Kindergärten beliefert, lernen viele Kinder das erste Mal in der Schule ein familiäres Verhalten kennen. Zum Beispiel bei einem gemeinsamen Frühstück, und das Ganze hat laut Baasner noch einen positiven Effekt: „Es hat sich herausgestellt dass Kinder, die morgens ein vitaminreiches Frühstück bekommen aufnahmefähiger sind und in der Schule nicht einschlafen.“
Der nächste Transporter fährt an die Rampe der Tafel. 60 Tüten mit Lebensmitteln werden eingeladen. Sie sind für Kindergärten bestimmt. Neben dem LKW vor der Rampe, stehen 6 Kinder und eine Frau. Die Kinder tragen Tornister. „Das ist unsere Schule, die jeden Montag und Donnerstag kommt. Die holen jetzt Lebensmittel ab und frühstücken gleich zusammen“, sagt Baasner.
Die Kinder und ihre Lehrerin packen sich Tüten mit Lebensmitteln und verlassen den Hof. Hinter sich lassen sie auch ein Plakat, das in der Halle der Tafel hängt. Darauf zu sehen ist eine Gruppe Schüler, die ein Mädchen ausgrenzt. 2,5 Millionen Kinder leben in Armut, steht unter dem Bild und darüber ist zu lesen: „…. und raus bist du!“
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