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Prinzipiell pazifistisch

Zäune zu Patronen. Foto: R. v. Cube

Wie wohl für meine Generation typisch, kenne ich den Krieg aus den Erzählungen meiner Großmutter. Und dabei sind Gartenzäune das Bild, das mir am stärksten im Kopf geblieben ist. Abgesägte Gartenzäune. Das, und die Tatsache, dass ihr geliebter Bruder am Ende eingezogen wurde, als er eigentlich noch ein Kind war. Nur um getötet zu werden. Das mit den Gartenzäunen hatte sie mir beim Spazierengehen erklärt. Heute sieht man das gar nicht mehr so oft, aber in den 80er Jahren war es normal, dass die Vorgärten von kleinen Mauern gesäumt wurden, aus denen, wie abgebrochene Zähne, die Stümpfe von Eisenzäunen herausragten. Die wurden abgesägt, um daraus Munition zu machen. Diese Information hat mir als Kind schlagartig die Absurdität des Krieges klargemacht. Dass die Menschen immer noch weiterschießen, obwohl sie schon alles verfeuert haben. Dass sie, wie Hungernde auf der Suche nach Essensresten, durch die Städte laufen und verdammte Zäune absägen, um selbst die noch zu Kugeln einzuschmelzen – und das nur, damit auch noch die 17-Jährigen erschossen werden.

Tatsächlich habe ich als Kind auch nie Krieg gespielt. Als Cowboy, Pirat oder Ritter habe ich sicher Unzählige über die Klinge springen lassen. Aber Krieg war kein Spaß, das war etwas Reales, Schreckliches. Und es ist komisch, dass für mich dieser Krieg gleichzeitig sehr nah und sehr weit weg war. Für die Erwachsenen war er schließlich nur so lange her wie für mich heute der Mauerfall. Aber mir schien es, selbst wenn meine Großmutter es miterlebt hatte, wie eine völlig andere Zeit, eine seltsame, historische Vorzeit. Und dennoch – und deswegen war er auch nah – eine Art Urknall. Etwas, mit dem die Zeitrechnung beginnt.

Ich war nie sonderlich politisch aktiv. Ich war in keiner Partei und in keiner Bewegung. Ich habe mir keine Theorien oder Ideologien zu eigen gemacht, durch deren Brille ich fortan die Welt betrachten würde. Ich empfinde das als großen Luxus, dass ich mir zu jeder Frage neu und frei von den Vorgaben einer Peer Group eine Meinung bilden kann. Oder auch, quasi als Default-Modus, erstmal keine Meinung haben muss. Üblicherweise höre ich mir gerne einfach gegensätzliche Argumente an und komme nicht selten zum Schluss, dass beide etwas für sich haben. Hellhörig, und mittlerweile geradezu allergisch, werde ich, wenn mir auffällt, dass gute Argumente missbraucht werden, um etwas zu begründen, das eigentlich aus ideologischen Gründen schon feststeht. Überspitzt gesagt: Argumente von jemandem, der eine Meinung hat, sind mir bereits suspekt.

Meine Haltung zum Krieg war immer klar: Es ist das Schrecklichste, das geschehen kann. Es muss vermieden werden. Wer Krieg führt, ist böse. Aber natürlich wurde anhand des bundesdeutschen Urknalls schnell klar, dass es Momente geben kann, in denen Krieg unvermeidbar ist. Dass es nicht böse ist, die Nazis zu bekämpfen. In meiner Begründung für die Wehrdienstverweigerung konnte ich daher auch nicht guten Gewissens behaupten, dass ich der Überzeugung wäre, alle Menschen müssten immer, und selbst bei Verteidigung gegen Angreifer, die Finger von Waffen lassen. Ich begründete es mit meiner persönlichen Haltung, mit dem individuellen Verhältnis zwischen mir und dem speziellen Menschen, den ich da vielleicht töten müsste. Was ich nicht schrieb, war, dass ich mir auch nicht sicher wäre, ob ich als Soldat denn in einen gerechten Krieg geschickt würde, wenn es so weit käme. Denn nur, weil es manchmal solche gerechten Kriege gibt, heißt das ja nicht, dass ein potentieller Einsatz mich dahin führen würde. Irgendjemand beginnt ja die ungerechten Kriege. Und irgendjemand muss damit beginnen, damit aufzuhören.

Ich habe mich vor ein paar Tagen mit jemandem unterhalten, der sich als Bellizist bezeichnet. Er sei schon immer der Ansicht gewesen, dass Krieg auch „gut“ sein könne. Der Krieg in der Ukraine sei für ihn eine große Genugtuung. Nun müssten alle Pazifisten, die ihn Jahrzehnte lang verurteilt haben, einsehen, dass er Recht hatte. Mich hat das ein wenig an einen Chirurgen erinnert, der ein Bein amputieren will, aber der Internist sagt, das kriegen wir auch so hin. Und der Patient lebt mehrere Jahrzehnte gut mit dem Bein, bis es eines Tages doch amputiert werden muss. Da kann der Chirurg natürlich auch sagen: Sehen Sie, ich hatte Recht.

Der Vergleich hinkt insofern, als die radikalen Pazifisten, im Gegensatz zu dem Internisten, eine fundamentalistische Haltung haben, in der die invasive Option (Krieg oder Amputation) grundsätzlich ausgeschlossen wird. Und dass diese Leute immer dann besonders laut sind, wenn der Krieg von den USA geführt wird und immer leise treten, wenn er von Schurkenstaaten kommt, das ist etwas, dass ich erst spät gelernt habe. Die haben zunächst eine Meinung: Die USA sind böse. Und unterfüttern diese nachträglich mit guten Argumenten: Man sollte friedlich sein. Siehe oben.

Dennoch bleibe ich der Überzeugung, dass man wo immer möglich Pazifist sein sollte. Es ist ja eigentlich selbstverständlich. Es erscheint geradezu absurd, dass man heute in einer Position ist, diesen Satz verteidigen zu müssen.
Verteidigen muss man ihn deshalb, weil die Einteilung in Lager, die Trennung in Schwarz und Weiß, allgegenwärtig ist, bei jedem Thema. Jede Ambivalenz wird aufgespürt und jeder einer Position zugeteilt. Wer heute sagt, dass er prinzipiell eher keinen Krieg gut findet, muss sich sofort die Frage gefallen lassen, ob er möchte, dass Kinderkrankenhäuser bombardiert werden. Aber Halt!, genau das ist ja Krieg, wenn Kinderkrankenhäuser bombardiert werden! Genau das gilt es zu verhindern. Und ja, mein Eindruck ist auch, dass bei diesem Krieg in der Ukraine diplomatische Wege derzeit aussichtslos sind. Wer gerade von einer Gang auf der Straße zusammengetreten wird, dem empfiehlt man auch nicht, doch mal freundlicher mit denen zu reden. Da ruft man die Polizei.

Bloß: Ich bin weder Außenpolitiker noch Militärstratege noch Geheimdienstler. Wenn ich auf meine obigen Ausführungen zurückkomme, würde ich mir gerne den Luxus leisten, mir hier keine genaue Meinung zu bilden. Wenn die Experten eine Chance sehen, durch neue diplomatische Entwicklungen weiterzukommen, wenn sich, vielleicht durch finanzpolitische Entwicklungen, ein Fenster auftut, mit bestimmten Sanktionen ganz besonders hohen Druck aufzubauen, wenn sich andererseits eine spezielle militärische Aktion ganz besonders eignet, dann soll mir das alles recht sein. Es gibt nur ein legitimes Ziel: Blutvergießen zu beenden. Dazu kann es manchmal nötig sein, diejenigen zu erschießen, die das Blutbad anrichten.

Kein legitimes Ziel hingegen wäre es, „ein Zeichen zu setzen“, „Stärke zu demonstrieren“, „sich strategisch neu auszurichten“ oder irgendein anderes Geschwurbel. Alles, was die Zahl der Toten am Ende erhöht, ist falsch. Das ist es was zählt. Dabei kann auch eine Rolle spielen, dass mangelnde Gegenwehr mittelfristig weitere Kriege begünstigen könnte. Ebenso, wie eine neue Kriegsbegeisterung neue Kriege begünstigen könnte. Leider weiß niemand mit Sicherheit, wie die Rechnung am Ende aufgeht. Wenn zu wenig oder keine militärische Hilfe das Blutvergießen erst so richtig möglich macht, ist das schlecht. Wenn mittelviel Hilfe es nur in die Länge zieht, ist das auch schlecht. Wenn sehr viel militärische Einmischung zu einem noch viel größeren Krieg führt, ist das auch schlecht. Was davon am wenigsten schlecht ist, wird man erst nachträglich beurteilen können. Wenn überhaupt – schließlich wird man auch dann nicht wissen, wie es bei einem alternativen Vorgehen gekommen wäre.

Das Problem ist, dass man den Luxus der Meinungsfreiheit (frei von einer Meinung zu sein) nicht hat, wenn eine gesellschaftliche Stimmung die Politik beeinflusst. Ich finde es okay, wenn Deutschland sicherheitshalber in dieser heiklen Situation seine Verteidigungsfähigkeiten ausbaut. Ich möchte, wenn ich auf der Straße verprügelt werde, die Polizei rufen können. Und ich möchte auch, dass das Land sich verteidigen kann. So wie sich die Ukraine verteidigen können muss. Wieviele Milliarden man dafür braucht, müssen andere beurteilen. Welche Waffen die Ukraine dafür benötigt und ob das nun „Angriffswaffen“ oder „Verteidigungswaffen“ sind, ab wieviel Kilogramm/Feuerkraft/Reichweite eine Waffe „schwer“ ist, das müssen auch andere beurteilen.

Was ich nicht möchte, ist, dass Krieg jetzt leichtfertiger geführt wird als vorher. Was ich nicht möchte ist, dass die Forderung nach Frieden jetzt seltener gestellt wird. Der offene Brief von Schwarzer und co. ist wenig durchdacht und schlecht argumentiert. Aber der Hass, der den Autoren dafür entgegenschlägt, dass sie, vielleicht etwas naiv, Sorge vor einem noch viel größeren Krieg haben, der ist unangemessen. Die Grundidee, lieber keinen noch viel größeren Krieg haben zu wollen, ist zunächst mal nicht komplett abwegig und die Sicherheit, mit der die Befürworter von Waffenlieferungen ihre Haltung zur Schau stellen, ist übertrieben. Ich bin selbst eher auf deren Seite. Aber ich sehe keinen Anlass, sich derart im Recht zu fühlen, dass man diejenigen, die es anders sehen, von einer so hohen moralischen Warte herab betrachten kann.

Man wirft ihnen vor, „feige“ zu sein. Das finde ich widerlich. Denn vielleicht schätzen sie die Situation falsch ein und messen der Gefahr eines Weltkriegs zu viel Bedeutung bei, im Verhältnis zur Gefahr durch ein nicht ausreichend in Schach gehaltenes Russland. Aber keinen Weltkrieg zu wollen ist nicht feige. Sofern ein Weltkrieg droht, ist es die absolut angemessene Reaktion, Angst zu haben und diesen abwehren zu wollen.
Dass der Begriff der Feigheit ausgegraben wird, zeigt, wie altmodische Ideale von Männlichkeit und Heldentum wieder Oberwasser bekommen. Aber auch wenn gerade Helden und „Männer“ gebraucht werden, sind diese Ideale dennoch für unzählige Kriege und Gewalt verantwortlich und es bleibt richtig, ihnen gegenüber misstrauisch zu sein. Es sind die Ideale von Männern wie Putin.

Ich will nicht den Fehler machen, und die von mir kritisierte Polarisierung selbst vorantreiben. Nicht jeder, der jetzt Waffenlieferungen oder militärisches Eingreifen fordert, ist ein Kriegstreiber. Wie gesagt: Diese Forderungen sind vermutlich in dieser speziellen Situation die notwendigen Mittel.
Aber es gibt da drüben, am unangenehmen Spektrum der Menschheit, Leute, die Krieg prinzipiell ganz reizvoll finden. Wenn es nicht so wäre, gäbe es ja keinen Krieg. Manche von denen sammeln Zinnsoldaten. Ich sage nicht, dass es falsch ist, Krieg zu spielen, nur weil ich das damals nicht getan habe. Aber wenn jemand sich offensichtlich für Krieg begeistert – nicht zähneknirschend, sondern fasziniert – und ausgerechnet so jemand jetzt mehr militärische Stärke fordert, dann muss man auch hier fragen, ob die Meinung vor dem Argument da war.

Pazifistische Äußerungen von USA-Hassern dürfen einem genauso suspekt sein wie bellizistische Äußerungen von Hobby-Generälen.

Wer „mehr Kriegsbegeisterung“ fordert, wer die Suche nach Frieden schon im Keim ersticken will, wer die Angst vor einem Atomkrieg als „feige“ abwertet, dem geht es nicht um eine sachliche Lösung, dem geht es darum, generell schneller zur Haubitze zu greifen. Und dass, wenn man das hübsche milliardenschwere Material erstmal angeschafft hat, man es irgendwann auch mal im Einsatz sehen will, ist eine menschliche Regung, vor der auch die demokratischsten Politiker nicht gefeit sein können. So viel Misstrauen in unbewusste Entscheidungsprozesse sollte man jedem entgegen bringen und jenen, die über Krieg und Frieden entscheiden, allemal.

Andere sagen Sätze wie „Deutschland muss wieder mehr internationale Verantwortung übernehmen“ (gemeint ist militärische). Und wieder: Ich schließe gar nicht aus, dass es jetzt oder künftig Situationen gibt, bei denen Verantwortung übernommen werden muss. Aber die Denkweise, bei der man erstmal mehr kriegerische Tätigkeiten fordert und dann guckt, wo das sein könnte, die macht mir Angst. Ein Chirurg, der sagt: „Ich sollte einfach viel mehr Beine amputieren“, kann kein guter Arzt sein. Es muss heißen: „Leider hatte ich zuletzt viele Fälle, wo es nicht anders ging.“ Und wenn jemand mehrere Jahrzehnte warten muss, bis er endlich einen „guten Krieg“ findet, dann spricht das vielleicht dafür, dass es die vergangenen Jahrzehnte tatsächlich nicht so falsch war, möglichst wenig Krieg zu führen.

Nach wie vor sind die meisten Kriege auf dieser Erdkugel verworrene Bürgerkriege mit diversen Parteien, die alle irgendwie nicht „die Guten“ sind; Stellvertreterkriege; Kriege, bei denen man irgendwie oberflächlich begründen kann, warum man sich einmischt, bei denen diese Einmischung aber mit dem eigenen Vorteil zusammenhängt; Kriege, bei denen, wenn eine Partei weg ist, keine bessere nachfolgen wird. Wenn man eine Liste machen würde, auf der man in einer Spalte jene Kriege auflistet, bei denen militärisches Eingreifen zu einem guten Ergebnis geführt hat und in der anderen jene, wo es nur zu noch mehr Elend kam, dann bin ich überzeugt, dass die linke Spalte sehr, sehr viel kürzer wäre als die rechte. Die linke Spalte wird überstrahlt vom zweiten Weltkrieg. Die rechte umfasst unzählige Krisenregionen und Jahrzehnte.

Auch ein guter oder vermeintlich guter Krieg fordert immer unschuldige Opfer. Und übrigens sind auch tote Soldaten etwas Schreckliches. In den Augen ihrer Mütter oder meinetwegen des lieben Gotts sind das durchaus ebenfalls Menschen und wenn man ihnen die Uniformen auszieht, wird es schwer zu unterscheiden, ob dies nun ein gerechtes oder ungerechtes Opfer war. Wer diese Opfer anders als zähneknirschend in Kauf nimmt, ist kein guter Mensch.

Wenn ein ukrainischer und ein russischer Soldat aufeinander schießen und beide sterben, ist beides schrecklich. In der Ukraine ist man in der seltenen und komfortablen Situation, den Schuldigen benennen zu können. Putin hat den russischen Soldaten dorthin geschickt und gezwungen auf den Ukrainer zu schießen. Der Ukrainer war in Notwehr gezwungen, zurückzuschießen. Putin trägt die Schuld an beiden Toten.
Aber gehen Sie mal Jahre und Jahrzehnte zurück und sagen Sie mir, wie viele Konflikte Ihnen einfallen, bei denen es so einfach war. Normalerweise sind alle Beteiligten zumindest etwas zwielichtig. Nur weil Assad in Syrien eindeutig ganz schön böse ist, heißt das nicht, dass der IS besser wäre. Wen soll man da zuerst abknallen? Auf wen schießen dort nochmal die Kurden? Auf wen unser Nato-Partner Türkei?

Es herrschten in den letzten Jahrzehnten immer irgendwo Kriege. An einigen war der Westen beteiligt. In vielen wurden Waffen aus westlicher Herstellung benutzt. Viele fanden in Regionen der Armut statt, während der Westen in Reichtum und Frieden lebte. Es wäre naiv zu behaupten, dass bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine alles gut war. Man kann darüber streiten, wie sehr der Westen an diesen Kriegen schuld ist. Sei es durch Waffenlieferungen, durch unterlassene Waffenlieferungen, durch „den Kapitalismus“, durch Anstacheln oder Wegsehen. Man kann Beispiele finden, bei denen militärisches Eingreifen auch damals schon hilfreich gewesen wäre. Man kann die westlichen Staaten für „die Bösen“ oder „die Guten“ halten.

Aber eines ist klar: Die westlichen, insbesondere europäischen Staaten, sind jene, die in den vergangenen Jahrzehnten wenigstens keine Angriffskriege geführt haben, jene, die Kriegseinsätze wenigstens vordergründig gut begründen mussten, jene, die wenigstens nicht leichtfertig oder unwidersprochen nationalistische, kriegerische Propaganda verkünden konnten. Wenn sie „die Guten“ sind, dann gerade deswegen. Wenn sie in der Position sind, guten Gewissens für die Ukraine einzustehen, dann gerade deswegen.
Wer Genugtuung empfindet, weil Krieg herrscht, der wollte nie Frieden. Wer all jene, die Angst vor Krieg haben, verhöhnt, der verhöhnt das einzige, was ihn von den Mördern trennt. Putin hat keine Angst vor Krieg. Er will Krieg.
Wir sind die, die keinen Krieg wollen. Der Weg dahin darf strittig sein. Doch das Ziel muss unser kleinster gemeinsamer Nenner sein.

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Kristin Wingender
Kristin Wingender
1 Jahr zuvor

Danke für diesen Artikel, der mir ein kurzes Luft holen in all meinem Atem anhalten seit dem 24.02.22 verschafft.

Nur einen Begriff scheue ich in diesem Zusammenhang und das ist der Begriff der „sachlichen Lösung“ welcher Emotionen – als Gegenpol zur Sachlichkeit – , die einen nichtsdestotrotz zu menschlicher Lösung bewegen könnten, mit auszuschließen scheint. Diesen Begriff läse ich lieber als „Lösung in der Sache“.

Irgendeine leise Stimme in mir bangt seit jeher, dass bei „sachlichen“ Lösungen zu viel auf der Strecke bleibt, was dann erst im Nachhinein einem Kriegsenkel beim Anblick abgesägter Gartenzäune aufscheint, oder erst wieder aufscheinen kann, weil all die Jahrzehnte nach dem Urknall Sachlichkeit zum Notwehrreflex gegen eine Rauschhaftigkeit wurde, die sich umso mehr Bahn bricht, wenn Emotionen in solchen Zusammenhängen mit grundsätzlichem Zweifel belegt werden.

Thomas Schweighäuser
Thomas Schweighäuser
1 Jahr zuvor

„Die westlichen, insbesondere europäischen Staaten, sind jene, die in den vergangenen Jahrzehnten wenigstens keine Angriffskriege geführt haben“ – da vielleicht noch einmal drüber nachdenken.

nussknacker56
nussknacker56
1 Jahr zuvor

#2

Herr Schweighäuser, Sie spielen vermutlich auf den Eingriff der NATO in das Mordhandwerk des serbischen Kriegsverbrechers Ratko Mladić an. In Srebrenica wurden 8.000 muslimische Männer und Jungen ermordet, unter den Augen von holländischen NATO-Soldaten. In Srebrenica fand der erste Genozid in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Und ich bin froh, dass die NATO dieses Morden mit einem gezielten Angriff gegen die Verursacher und ihre Unterstützer beendet hat.

Das damals auch bei mir verankerte linke „Feindbild NATO“ hat dadurch den ersten massiven Riss bekommen. Linke standen und stehen heute natürlich weiterhin aufseiten derer, die für dieses Verbrechen verantwortlich sind. Gerne auch mit dem Hinweis, dass Nazideutschland und ihre Verbündeten gegen die Serben besonders fürchterlich gewütet haben. Das stimmt, hat aber mit obigem Verbrechen nichts zu tun.

Ganz so wie Russland heute ihren faschistoiden Angriffskrieg gegen die Ukraine zur Rechtfertigung ebenfalls gerne mit Geschichten, Behauptungen und konstruierten Verbindungen aus dieser Zeit garniert. Dasselbe Russland hat damals übrigens auch verhindert, dass der Sicherheitsrat der UN diese Taten als Völkermord bezeichnete.

Angelika, die usw.
Angelika, die usw.
1 Jahr zuvor

#1
@Kristin Wingender

„…in all meinem Atem anhalten seit dem 24.02.22 …“

Und davor alles in Butter, heile Welt, nix passiert?

Susanne Scheidle
Susanne Scheidle
1 Jahr zuvor

Ehrlich gesagt kenne ich niemanden, der jetzt jubelt, dass mal wieder Krieg ist, dass „endlich mal wieder was los ist“, dass er/sie ja schon immer gesagt hat…
Und auch die allermeisten Kommentare zum Thema in den sozialen Medien – zumindest in meiner „Blase“ – gehen keineswegs in diese Richtung.
Der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Diskussion ist doch , dass man Verhandlungen nicht einseitig führen kann. Man kann sich Verhandlungen noch so sehr wünschen, wenn die andere Seite nicht will, kommt man zu nix.
Bis zum 24. Februar saß man am Verhandlungstisch, mit dem Ergebnis, dass Putin an absurd langen Tischen allen die Hucke vollgelogen hat.
Und es werden bis jetzt Verhandlungen geführt, obwohl Putin regelmäßig Vereinbarungen über humanitäre Korridore bricht indem er Konvois beschießen lässt oder die Straße vermint, die Schlächter von Butscha mit Orden behängt und Kiew mit Raketen beschießen lässt, während UN-Generalsekretär Guterres dort ist.
Deutlicher kann man eigentlich nicht zeigen, dass man null Interesse an Verhandlungen hat. Da ist jemand, der offenbar vor nichts zurückschreckt, der selbst seine eigenen Soldaten gnadenlos verheizt und ganz en passent mit seinem Krieg für Hungersnöte biblischen Ausmaßes in Afrika sorgen wird.
Und alleine das macht Angst – von der Drohung mit Nuklearwaffen mal ganz abgesehen. Insofern schließe ich mich natürlich der Ansicht an, dass Angst kein Anlass zu Häme und Gehässigkeit ist.
Wenn Angst überflüssig wäre, hätte die Evolution sie längst weggemendelt…
Aber wenn den Unterzeichnern des offenen Briefes in der Emma Feigheit vorgeworfen wird ist womöglich nicht deren Angst vor der Eskalation des Krieges gemeint, sondern eine gewisse Feigheit im Denken, in der mangelnden Akzeptanz von Gegebenheiten, die selbstverständlich jeder Vernunft widersprechen, die aber trotzdem gelegentlich vorkommen. Also nicht die Angst vor dem nuklearen Krieg, sondern die Angst davor, seine tiefsten Überzeugungen im Angesicht des total Bösen neu zu justieren.
Was einerseits auch wieder verständlich ist, in Deutschland wird ja seit den seligen Zeiten der Romantik Umdenken gerne als „Umfallen“ diffamiert.
Mit der martialischen stahlharten Verachtung der Feigheit im wilhelminischen Sinne hat das m. E. nichts zu tun.

Susanne Scheidle
Susanne Scheidle
1 Jahr zuvor

#4 @ Angelika, die usw.
Das ist ja die nächste Absurdität, die Behauptung, man hätte „77 Jahre in Frieden gelebt“ – das stimmt noch nicht einmal für Europa (das auf dem Globus ziemlich wenig Platz einnimmt!) – erinnert sich noch jemand an den Balkankrieg?
Im Kongo herrscht seit fast 30 Jahren Krieg. Die üblichen Schlaumeier tun das ab als den üblichen „Krieg um Rohstoffe“ und „der Westen“ ist der Übeltäter – man könnte auch sagen, jeder der am Tag so 40-50 Mal auf sein Smartphone kuckt hat täglich so 40-50 Mal mit dem Krieg dort zu tun – aber das ist zu kurz gegriffen, offenbar ist man dort schon eine Umdrehung weiter: Dort wird inzwischen Krieg geführt um Rohstoffe, um mit dem Erlös weiter Krieg zu führen.
Es gibt auf diesem Planeten Menschen, für die Krieg und rohe Gewalt eine Option ist wie andere auch. Das sind sehr wenige, aber sie richten einen enormen Schaden an. Und man tut gut daran, das im Hinterkopf zu behalten.

Thomas Schweighäuser
Thomas Schweighäuser
1 Jahr zuvor

@“Nussknacker56″ – Das Massaker an den bosnischen Muslimen fand 1995, der Angriffskrieg der Nato gegen Jugoslawien 1999 statt. Machen Sie sich bitte nicht lächerlich, indem Sie von einem “ Eingriff der NATO in das Mordhandwerk des serbischen Kriegsverbrechers Ratko Mladić“ sprechen.

Susanne Scheidle
Susanne Scheidle
1 Jahr zuvor

@ Thomas Schweighäuser #7
Allright, das Massaker an den bosnischen Muslimen fand 1995 statt, der NATO-Einsatz, der das fortschreitende Morden schließlich doch noch beendete, mit beschämender Verspätung – aber bitte, machen Sie sich nicht lächerlich, indem Sie diese Verspätung zu einem „Angriffskrieg“ umdefinieren.

nussknacker56
nussknacker56
1 Jahr zuvor

Thomas Schweighäuser #7

Mit Ihrer Antwort bestätigen Sie, dass für Sie und andere Linke nicht die Tatsache eines Genozids das Problem ist, sondern die Maßnahmen zur Verhinderung von weiteren Verbrechen dieser Art (diesmal gegen die Albaner im Kosovo). Der Einsatz der NATO – nach Ihrer Lesart ein „Angriffskrieg“ – im ehemaligen Jugoslawien wäre ohne das Massaker von Srebrenica nicht denkbar gewesen.

Thomas Schweighäuser
Thomas Schweighäuser
1 Jahr zuvor

@“Nussknacker56″ -Es wird die in Belgrad durch Bomben der Nato Zerfetzten sicherlich beruhigen, dass sie in einer „Maßnahme zur Verhinderung von weiteren Verbrechen dieser Art (diesmal gegen die Albaner im Kosovo)“ ums Leben kamen. Auch die künstlerisch ebenso freie wie kreative Gestaltung des „Hufeisenplans“ werden sie posthum bewundern. Mit Ihrer Logik darf die Nato jedes Land bombardieren, um mögliche weitere Untaten zu verhindern, irgendein Grund (bosnische Miliz – Serben, Jugoslawien – Serben, ergo: Serbe bleibt immer Serbe) wird sich schon finden lassen. Und natürlich ist das, was da passiert, kein Angriffskrieg. Warum verwenden Sie nicht einfach den Begriff „militärische Spezialoperation“?

Susanne Scheidle
Susanne Scheidle
1 Jahr zuvor

@ Thomas Scheighäuser #11
Und nach Ihrer Logik darf jeder Despot einfach die „eigene“ Bevölkerung abschlachten – oder irgendeinen nach frei flottierenden Regelnd definierten Feind – und niemand darf eingreifen, also jedenfalls nicht, wenn die NATO was damit zu tun hat?
Oder irgend ein anderer „westlicher“ Staat?

Vielleicht interessiert es Sie, dass nach dem Völkermord in Ruanda die UN eine Resolution verabschiedet hat, „Responsibility to Protect“ – kurz R2P – die besagt, dass es eben nicht eine „innerstaatliche Angelegenheit“ ist, wenn ein Despot die eigene Bevölkerung massakriert oder irgendwo ein Völkermord stattfindet, sondern dass es nottut, in diesen Fällen einzugreifen, wenn es sein muss mit militärischen Mitteln.

Vielleicht wischen Sie sich einfach mal den Schaum vom Mund, vergessen für einen Moment Ihre Vorurteile und fragen sich – nur so für den Anfang! – ob die Dinge im Kosovo wirklich besser wären, wenn der NATO-Einsatz nicht gewesen wäre.
Vielleicht kommen Sie dann, so auf Umwegen, auch zu einer etwas differenzierteren Betrachtungsweise zu Waffenlieferungen in die Ukraine.

Thomas Schweighäuser
Thomas Schweighäuser
1 Jahr zuvor

@#Susanne Schweidle: Es ist immer wieder erstaunlich, wie hartnäckig sich jahrzehntealte Lügen in den Köpfen halten. Noch einmal: Es ging bei den völkerrechtswidrigen Angriffskriegen der NATO gegen Jugoslawien und den Irak nicht darum, dass ein „Despot einfach die „eigene“ Bevölkerung abschlachten“ wollte – sowohl der „Hufeisenplan“ als auch die „Massenvernichtungsmittel“ haben nicht existiert. Die Kriege aber waren wirklich und kosteten Tausende Menschen das Leben.
Und wenn Sie fragen, „ob die Dinge im Kosovo wirklich besser wären, wenn der NATO-Einsatz nicht gewesen wäre“, so sei daran erinnert, dass es nach dem Krieg zu Pogromen kam – diesmal gegen die serbische Minderheit.

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