
2015 wurde Thomas Eiskirch (SPD) zum Oberbürgermeister Bochums gewählt. Im vergangenen Sommer kündigte er überraschend an, nicht für eine dritte Antszeit zur Verfügung zu stehen. Im Abschiedsinterview blickt er auf seine zehnjährige Amtszeit zurück.
Warum machen Sie es nicht weiter, ist natürlich die erste Frage. Sie waren erfolgreich, und Sie wären wahrscheinlich im ersten Wahlgang wiedergewählt worden.
Thomas Eiskirch: Weil ich glaube, dass alles seine Zeit hat. Und weil ich in der Politik zu viele gesehen habe, die zu spät gegangen sind. Den idealen Zeitpunkt, den gibt es in dieser Aufgabe kaum, weil man das nur alle fünf Jahre entscheiden kann – nicht dazwischen, zumindest nicht, wenn man das seriös macht. Und insofern war die Frage: Ist das jetzt richtig oder in fünf Jahren? Ich glaube, der ideale Zeitpunkt wäre wahrscheinlich so in 2,5 Jahren gewesen. Und ich habe immer gesagt: Du gehst lieber zu früh als zu spät. Zu spät habe ich schon bei vielen beobachtet. Und das ist meistens weder für die Person gut, es ist aber vor allem für die Stadt nicht gut. Es ist auch für die Aufgabe nicht gut, es ist für das Ansehen von Politik nicht gut. Und deswegen war es mir immer wichtig: auf jeden Fall lieber zu früh als zu spät. Und so habe ich es auch noch gehalten.
Was machen Sie nach dem Ausscheiden aus dem Amt?
Eiskirch: Erst mal nichts, und dann mal gucken – heißt: eben nicht immer von dem, was man schon getan hat, weiterdenken, sondern wirklich einen Abstand gewinnen und dann einmal in sich hineinhorchen, was man spannend findet und was nicht. Zehn Jahre – das waren heftige zehn Jahre.
Das waren ja zum Teil – wenn man sich die Entwicklung auf dem ehemaligen Opel-Gelände anschaut – erfolgreiche Jahre. Aber Sie haben mit Corona wahrscheinlich die schlimmste Krise als Oberbürgermeister miterlebt, die Bochum seit dem 2. Weltkrieg erlebt hat.
Eiskirch: Corona war für alle Menschen ein wirklicher Einschnitt und auch ein Stück lebensverändernd. Wenn ich an Familien denke, die sich von den Angehörigen in Altenpflegeheimen nicht verabschieden konnten, wenn sie verstorben sind. Aber auch wenn ich an junge Generationen denke – beispielsweise diejenigen, die in der Zeit so 17,18 waren –, gibt es einfach Dinge, die man nur einmal im Leben erlebt. Die sind dann für eine ganze Generation weggefallen. Aber klar, auch für Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister und für alle, die Verantwortung getragen haben, war das eine extreme Zeit. Ich war verantwortlich für 370.000 Menschen. Und das spürt man immer. Man spürt es in solchen Situationen noch einmal ganz besonders – wenn man eben nicht weiß, ob 10 Menschen sterben, 100 Menschen sterben oder 10.000 oder gar 100.000 Menschen sterben, für die man Verantwortung trägt. Und das macht was mit einem, aber das hat auch mit unserer ganzen Gesellschaft was gemacht. Das ist mit Sicherheit eine der großen Herausforderungen gewesen. Ähnlich übrigens wie hinterher auch noch mal die Frage: Wie geht man mit der Gasmangellage um? Wie kriegt man diese Fragestellung explodierender Preise irgendwie mit begleitet? In den Griff kann man die als Kommune überhaupt nicht bekommen.
Aber bei Corona konnten Sie ja handeln. Bei der Gasmangellage konnte die Stadt wenig tun.
Eiskirch: Und wir haben auch gehandelt. Ich glaube, dass viele der Impulse am Ende auch aus den Kommunen gekommen sind. Dass auf anderen Ebenen manchmal sehr lange – oder manchmal auch einen Tick zu lange – gedacht worden ist, wenn Handeln notwendig war. Viele der Impulse sind aus den Kommunen gekommen. Und gerade im Ruhrgebiet, muss ich sagen, ist das eine sehr intensive Zeit der Zusammenarbeit gewesen. Es gab ganz viel Abstimmung und Absprache zwischen den Oberbürgermeistern und Landräten. Manchmal gab es mehrmals in der Woche gemeinsame Videokonferenzen mit allen, in denen wir daran gearbeitet haben, dass wir als Region nicht zu stark auseinanderfallen – in dem, was wir regeln, wie wir es regeln, wie wir mit Themen umgehen wollen. Und ich glaube, das haben wir gar nicht so verkehrt gemacht. Natürlich muss man so etwas aufbereiten, und man muss schauen, was gut lief und was schlecht.
Aber es gab ja auch nicht nur Corona.
Eiskirch: Die zehn Jahre waren – wenn ich draufschaue – viel mehr davon geprägt, dass sich Bochum nach vorne entwickelt hat. Wir haben wirklich aktiv Zukunft gestaltet. Die wichtigste Veränderung sind nicht einzelne Projekte, sondern die Veränderungen im Mindset der Bochumerinnen und Bochumer. Vor zehn Jahren war Opel gerade weg, und uns allen steckte Nokia noch in den Knochen. Schlechte Nachrichten in der Tagesschau – da hatte man immer die Sorge: Gleich ist wieder Bochum dran. Und das hat sich gewandelt. Die Leute sind selbstbewusst, sind stolz auf das, was hier passiert. Sie merken, dass wir Dinge ermöglichen können, die woanders nicht ermöglicht werden. Und Erfolg zieht natürlich auch Erfolg an. Wenn die einen Investoren da sind, schauen die anderen hin und fragen sich: „Warum investieren die da?“ So wie Spiralen nach unten schneller werden, werden sie auch nach oben schneller. Aber um eine solche Situation umzukehren, ist immens viel Kraft notwendig. Und ich glaube, das ist uns ganz gut gelungen. Das Mindset der Bochumerinnen und Bochumer ist, glaube ich, heute wirklich ein anderes als vor zehn Jahren. Es ist auch viel offener und positiver – wenn Veränderungssituationen kommen – zu sagen: Ja, in denen liegt die nächste Chance, die wir nutzen werden.
Das waren natürlich auch zehn Jahre, in denen die Haushaltslage nicht so angespannt war wie vorher – und wie sie künftig wahrscheinlich wieder sein wird. Nimmt es noch einen Schwung, hält er dann die nächste Haushaltskrise durch?
Eiskirch: Also erst einmal sind wir schneller in positive Haushalte gekommen, als es damals prognostiziert war. Wir haben in den zehn Jahren die Gewerbesteuereinnahmen verdoppelt, ohne den Hebesatz zu verändern. Wir haben 25.000 mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Wir sind eine wachsende Stadt – 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner mehr –, was extrem wichtig ist, damit man eben nicht wie in schrumpfenden Städten die schlechteste Kita abschreibt, die schlechteste Schule abschreibt, sondern man immer wieder investiert, neu baut und die Dinge auch – und da ist noch was zu tun – im guten Zustand erhält. Also: wachsende Stadt ist ein wichtiger Punkt. Und das hat uns geholfen, mindestens drei Jahre früher aus der Haushaltssicherung zu kommen. Und das hilft uns auch jetzt, weil wir in den letzten Jahren eben wirklich auch Überschüsse erwirtschaftet haben, sodass wir jetzt die Jahre 2025, 2026, vielleicht auch 2027 damit durchstehen können. Insofern ist das eben nicht nur temporär stabiler gewesen, es ist auch insgesamt stabiler – aber auch eine eminent lange Strecke, in der Bund und Land die Kommunalfinanzen nicht in Ordnung gebracht haben.
Was würden Sie im Nachhinein sagen: Was war der größte Erfolg dieser Zeit?
Eiskirch: Ich glaube, der größte Erfolg ist wirklich die Veränderung des Mindsets. Und das setzt sich natürlich aus ganz vielen Dingen zusammen, wie Mosaiksteine. Also, dass Vonovia sich damals entschieden hat, nach einer Fusion mit einem Mülheimer Unternehmen nicht nach Essen oder Berlin zu gehen, sondern in Bochum zu bauen. Dass wir Bosch dafür gewinnen konnten, sich auf Markt 51°7 niederzulassen und da sozusagen IT-Security im Automobilbereich für den ganzen Konzern neu zu verorten. Und damit beispielsweise Menschen, die hier Hochschulabschlüsse machen, nicht mehr die Notwendigkeit haben, nach Stuttgart zu ziehen, sondern hierbleiben können. Und diese Beispiele haben andere nach sich gezogen.
Es gibt aber auch ganz andere Erfolge, die zu diesen Mosaiksteinen gehören – zum Beispiel das Fliednerhaus. Das ist die Notschlafstelle für Obdachlose in Bochum. Und im Regelfall ist es in Kommunen so, auch in Bochum früher, dass diese Notschlafstelle in der letzten Schrömmelimmobilie ist. Und wenn die dann ganz kaputt ist, in die nächste Schrömmelimmobilie zieht. Und mir war es ganz wichtig, da auch ein Zeichen von Wertschätzung denen gegenüber zu setzen, die sich am Rand unserer Gesellschaft fühlen. Und deswegen haben wir neu gebaut. Eine Notschlafstelle, neu gebaut, ganz modern. Mit Suppenküche drin, mit ärztlicher Versorgung drin, mit ganz anderen Angeboten. Und ich glaube, das ist auch einer der Mosaiksteine.
Also: Das sind eben wirtschaftliche Themen, aber es sind auch ganz viele soziale Themen dabei gewesen. Wir haben den Bochum-Pass jetzt für 60.000 Menschen in Bochum etabliert. Angefangen haben wir bei 498. Von 498 auf 60.000. Also: Sie mussten vorher einen Antrag stellen. Und wir gehen jetzt aktiv auf die Leute zu, bieten ihnen das an, lassen ihnen das zukommen. Also, das sind alles so Mosaiksteine, die vielleicht manchmal nicht so im Fokus stehen wie die großen Projekte.
Vieles gehört zur Bochum-Strategie, mit der Sie 2015 angetreten sind.
Eiskirch: Absolut. Heimat mit Zukunft – sozusagen ein Plan für Bochum. Und die Bochum-Strategie hat genauso funktioniert, indem wir gesagt haben: Wo soll eigentlich diese Stadt in der Zukunft stehen – in den verschiedensten Themenbereichen? Und wir haben uns dann so die Postkarten aus der Zukunft geschrieben: „Hallo Papa, ich bin hier in Bochum im Jahr 2030, im Kulturbereich sieht das hier folgendermaßen aus.“ Und haben uns das Bochum der Zukunft selbst beschrieben – und dann überlegt: Was sind eigentlich die Ziele, die du erreichen möchtest in den verschiedenen Bereichen? Und wie fügen die sich wieder zusammen? Und was sind die Wege, die du gehen musst, um diese Ziele zu erreichen? Und was sind die Projekte und Aktivitäten, um diese Wege begehen zu können?
Und das haben wir getan. Das sind die heutigen Kernaktivitäten – mittlerweile 75 –, die wir an den Start gebracht haben. Und wir haben zwei Dinge vielleicht anders gemacht als das, was ich von woanders höre, wo so Leitbilder entwickelt werden, die in der Schublade verschwinden: Wir haben es erstens mit Geld unterlegt, also konnten wir die Maßnahmen auch umsetzen. Und das Zweite: Wir haben es controlled. Also, wir haben Kennzahlen draufgelegt, wir haben Befragungen gemacht zur Entwicklung, wir haben regelmäßiges Reporting. Das heißt: Diejenigen, die am Anfang gedacht haben: „Mal gucken, wann die Sau tot ist, die da durchs Dorf getrieben wird“, wurden relativ schnell enttäuscht, weil sie merkten: Das ist verdammt ernst gemeint. Und wir machen das jetzt seit fast neun Jahren. Und die Strategie gibt die Richtung vor. Und da zahlt mittlerweile auch aus der Stadtgesellschaft ganz viel drauf ein, weil wir das ja eben nicht nur als Verwaltung entwickelt haben, sondern mit den Stakeholdern der Stadt zusammen – mit den Kirchen, den Hochschulen, den Gewerkschaften, den Unternehmensverbänden, Initiativen, Kultureinrichtungen und auf der ersten Bürgerkonferenz. Wir haben gemeinsam die Ziele entwickelt, die Wege und oftmals auch die Maßnahmen, die wir hinterlegt haben.
Wir haben mittlerweile das beste Bürgerbüro Deutschlands und laut Bitkom-Index die zweitdigitalste Verwaltung Deutschlands. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da standen hier 200 Meter Schlange auf dem Rathausvorplatz, um einen Ausweis zu bekommen.
Ich bin ja selten im Rathaus, aber auch beim Ausländerbüro hat sich viel geändert. An dem kommt man ja vorbei, wenn man zu Ihnen möchte.
Eiskirch: Ich habe entschieden, dass da auch „Foreigner Office“ steht – gegen diejenigen, die sagten: Amtssprache ist Deutsch. Aber das ist eben auch eine Frage, dann so etwas vorzugeben und zu sagen: Wir wollen das. Wir haben auch zum Beispiel Google Übersetzer auf die Webseite eingebunden, die jetzt in über 100 Sprachen erscheint. Es gibt auch eine „Integrate App“ für die Menschen, die hier hinkommen, und das „Welcome Office“. Also: Ich kann da hinkommen und kriege die Beratung – von der Berufsanerkennung über die aufenthaltsrechtlichen Fragestellungen, meine Wohnortanmeldung und vieles mehr.
Bedauern Sie es, dass Sie das Haus des Wissens nicht mehr als Oberbürgermeister einweihen können?
Eiskirch: Ich glaube, es kann keine Oberbürgermeister geben, die alle die Themen, die ihnen wichtig sind, noch selbst eröffnen, einweihen oder ähnliches. Dafür dauern Dinge zum einen zu lange – und zum anderen ist es so, dass man dies ja auch nur schaffen könnte, wenn man eine ganze Wahlperiode nichts Neues anfangen würde. Und das kann es ja nicht sein.
Insofern: Klar wünscht man sich immer, Dinge, die man angestoßen hat, von denen man auch fest überzeugt ist, zu Ende zu bringen. Wie beim Haus des Wissens, dass ein richtiger und wichtiger Impuls ist – sowohl für die Bildungssituation in unserer Stadt als auch für die Frequenzsituation in der Innenstadt und durch das man, Platz schafft für neues Wohnen in der Innenstadt. Das sind alles Dinge, von denen ich wirklich überzeugt bin, dass es richtig ist und dass es ähnlich wie beim Musikforum so sein wird, dass, wenn es fertig ist, alle drin sind und sagen: „Ich war schon immer dafür.“ Klar würde man das gerne selber mit übergeben und fertiggestellt sehen. Geht aber nicht.
Wann wird es denn fertig?
Eiskirch: Ich denke, im Laufe des Jahres 2027 wird es fertig, und 2028 werden dann Volkshochschule, Bücherei, UniverCity und Markthalle starten.
Was wünschen Sie Bochum für die kommenden Jahre?
Eiskirch: Das Eine ist: Wir haben gelernt, dass das gut funktioniert, wenn man als Stadt die Dinge selber in die Hand nimmt. Also wirklich Vertrauen in sich selbst zu haben – in die Stärke Bochums, in die Hochschulen hier, in die Menschen hier, in das Wir-Gefühl. Das Gemeinsame zu stärken und die Ellenbogen nicht zulassen – das sind Dinge, von denen ich mir sehr wünschen würde, dass man daran festhält. Weil dieses „Aus-sich-selbst-Heraus-etwas-zu-Entwickeln“ auch eine Stärke ist.
Das Zweite ist: Ich wünsche mir, dass Bochum ambitioniert bleibt. Dass man sich nicht darauf beschränkt, die Gegenwart zu gestalten, sondern weiterhin auch die Zukunft gestalten möchte. Weil ich glaube, dass die Kommunen, die aktiv Zukunft gestalten, auch die Kommunen sind, die Zukunft haben.
Und das Dritte, was ich mir wünsche: dass wir unsere Demokratie stabil halten. Dass wir es wirklich hinbekommen, dass das „Wir“ wieder größer wird und das „Ich“ und die Missgunst und der Neid und die eigene Lebensunzufriedenheit – die ja oft nicht bei denen am lautesten ist, die wirklich wenig haben – nicht gewinnt. Und das wäre gut, weil das unsere Demokratie stabilisieren würde.
Da spricht der Sozialdemokrat …
Eiskirch: Nein, da spricht der Mensch.
