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Woher die Arzneimittelknappheit kommt

By Fazal E Azeem Nisar (flickr.com), Public Domain Mark 1

In den letzten Tagen hat die Berichterstattung über die Engpässe bei der Lieferung wichtiger Medikamente an Fahrt aufgenommen. Die genauen Hintergründe werden dabei häufig nur oberflächlich betrachtet.

Wer mit der pharmazeutischen Industrie nicht viel zu tun hat, könnte auf die Idee kommen, die vorherrschende Arzneimittelknappheit käme aus heiterem Himmel, bedingt durch eine Häufung der Atemwegsinfektionen, Probleme der Lieferkette, den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, Gasmangel und Nachwirkungen der Coronakrise. Und sicherlich haben all diese Faktoren ihren Beitrag geleistet. Aber seit der zunehmenden Ansiedlung pharmazeutischer Unternehmen in Ländern wie Indien und China gehören Engpässe wichtiger Arzneimittel zum Alltag. Bisher war dieser Alltag allerdings allzu häufig lediglich eine Randmeldung wert. Da wir nun die Früchte der jahrzehntelangen Verfehlungen der Politik ernten, wird es Zeit für einen Blick ins Detail.

Betrachtet man die Lieferengpassmeldungen, ist häufig die Rede von Engpässen, die durch die gestiegene Nachfrage bedingt sind. Aber auch von Problemen bei den „Sonstigen Herstellern“, also den Zulieferern von Grund- und Wirkstoffen für die Arzneimittelherstellung ist die Rede. Wie kann es aber sein, dass ausgerechnet in dem Land, das einst als „Apotheke der Welt“ bezeichnet wurde, die Arzneimittel knapp werden?

Generika – preiswerte Arzneimittel mit Haken

Historisch betrachtet liegen die Grundzüge der deutschen Pharmaindustrie in kleinen Apotheken, in denen Apotheker wie Friedrich Merck damit begonnen haben, ihre Medikamente in größerem Umfang anzubieten und so über Jahrhunderte ein globales Unternehmen formten. Unternehmen wie Bayer und Hoechst hingegen, kommen aus dem Bereich der Teerfarbenherstellung. Was auf den ersten Blick merkwürdig klingt, ist bei näherer Betrachtung naheliegend. Auch wenn Farben und Medikamente zwei sehr unterschiedliche Geschäftsfelder sind, basieren beide auf der Synthese von organischen Molekülen, also Molekülen auf Kohlenstoffbasis. Auch wenn sich die Synthesewege unterscheiden, sind die Grundprinzipien und Techniken der Herstellung vergleichbar. Es bestehen also Überschneidungen zwischen der Herstellung von Farben und Arzneimitteln, auf denen ein klug geführtes Unternehmen aufbauen kann.

Mit diesem Potenzial ist es nicht verwunderlich, dass sich auf der Liste der unentbehrlichen Arzneistoffe zahlreiche Mittel wie Acetylsalicylsäure, Codein, Methadon, oder Phenobarbital finden, die ihre Ursprünge in Deutschland haben.

Und für jedes Medikament ist irgendwann der Zeitpunkt gekommen, an dem der Patentschutz abläuft. Im Anschluss daran steht es jedem Unternehmen frei, das entsprechende Medikament selbst zu produzieren. Wer den Wirkstoff Acetylsalicylsäure benötigt, ist schon seit Jahren nicht mehr darauf angewiesen, Aspirin von Bayer zu schlucken, sondern kann aus etwa einem halben Dutzend Hersteller wählen. Diese produzieren sogenannte Generika. Ein Generikum ist derselbe Wirkstoff, der auch im Originalmedikament Verwendung findet. Nur mit dem Unterschied, dass die Kosten für Generika häufig nur einen Teil des Originals betragen. Dies rührt daher, dass Unternehmen, die Generika produzieren nicht dieselben langwierigen und hunderte Millionen Euro teuren Zulassungsprozesse durchlaufen müssen. Sie müssen lediglich nachweisen, dass sich ihr Medikament im Körper so verhält wie das Original. Die so produzierten Generika müssen also nicht erst die Entwicklungskosten einbringen, sondern können sofort zu einem vergünstigten Preis angeboten werden.

In der Theorie wird so sichergestellt, dass auch anfänglich teure Medikamente nach einem bestimmten Zeitraum für eine Vielzahl von Menschen zu einem günstigen Preis zu Verfügung stehen. Und auch in der Praxis funktioniert diese Idee sehr gut. Gäbe es da nicht das Problem der Rabattverträge.

Rabattverträge mit Apotheken

Obwohl Generikahersteller mit vergünstigten Preisen arbeiten können, wollte die deutsche Regierung einen echten Preiskampf zwischen den Anbietern erzwingen und gleichzeitig den gesetzlichen Krankenkassen zwecks Kostenersparnis mehr Macht gegenüber den Pharmaunternehmen verleihen. Das GKV-Modernisierungsgesetz von 2003 räumte Krankenkassen erstmals die Möglichkeit ein, mit Arzneimittelherstellern Rabattverträge auf rezeptpflichtige Medikamente abzuschließen. Das Pharmaunternehmen räumt einen Rabatt beim Kauf der Arzneimittel ein. Im Gegenzug verpflichten sich die Versicherungen dazu, ausschließlich die rabattierten Arzneimittel über die Apotheke abzugeben. Von dieser Regelung darf nur unter besonderen Umständen abgewichen werden.

Das heißt, die billigsten Anbieter bekommen den Zuschlag der Krankenkassen. Der Generikahersteller kann also seine Produktion auslasten, hat sichere Margen, aber eine geringe Gewinnspanne pro verkaufter Packung. Noch problematischer wird es für Generikahersteller, die keine Rabattverträge abschließen konnten. Sie bekommen ihre Medikamente in Deutschland quasi nicht verkauft. Auf der einen Seite spart diese Praxis den Kassen pro Jahr Milliarden, macht den Generikamarkt in Deutschland für Hersteller aber unattraktiver.

Trotzdem existieren in Deutschland einige bekannte Generikahersteller wie Ratiopharm oder HEXAL. Die Preispolitik der Krankenkassen genügt als alleinige Erklärung für die derzeitige Misere nicht. Die Frage, wie Indien und insbesondere China zum Taktgeber der pharmazeutischen Industrie werden konnten, liefert nicht nur Antworten, sondern auch einen Ausweg aus der derzeitigen Situation.

Roche vs. Bolar

Bis das Patent auf ein Arzneimittel abläuft, ist ausschließlich der Patentinhaber zur Herstellung berechtigt. Wenn Generikahersteller allerdings erst nach Ablauf des Patentschutzes damit beginnen können, den Wirkstoff zu produzieren oder einzukaufen und so die nötigen Tests für die Zulassung durchzuführen, bedeutet das nicht, dass der Patentinhaber dadurch faktisch über den Ablauf des Patents hinaus das Monopol auf das Medikament besitzt?

Genau mit dieser Frage beschäftigte sich ein US-Gericht, nachdem das Unternehmen „Bolar Pharmaceutical Co.“ einen zum damaligen Zeitpunkt geschützten Wirkstoff der Firma „Roche Products, Inc.“ eingekauft und für die ersten Prüfungen auf Biosimilarität verwendet hat. Roche argumentierte aus Sicht des Patentinhabers, Bolar auf Grundlage der Ausnahme für Forschungszwecke, die es gestattet, das Patentrecht zu verletzen, wenn es der Vorbereitung einer Arzneimittelzulassung dient. Auf Basis dieses Falls verabschiedete der Kongress ein Gesetz, das die Argumentation von Bolar in geltendes Recht überführte und die Grundlage für die Entwicklung Generika in den USA darstellte.

Dieses Gesetz findet im Wesentlichen auch im europäischen Recht Anwendung und ermöglicht die Verletzung des Patentrechts zu Zulassungszwecken. Allerdings nur zu Zulassungszwecken. Die Produktion im Labormaßstab zu skalieren oder sogar die erste Charge zu produzieren, um sie nach Ablauf des Patents zeitnah auf den Markt zu bringen, ist in Europa und den USA nach wie vor verboten.

In China und Indien hat man von Roche vs. Bolar zwar gehört, aber ähnliche Regeln schweben den Verantwortlichen in diesen Ländern nicht im Traum vor. Dies erlaubt den asiatischen Generikaherstellern die effiziente Zulassung und Produktion der ersten Arzneimittelchargen, die dann innerhalb von Stunden nach Ablauf des offiziellen Patents an Apotheken der westlichen Welt geliefert werden können.  „Stunden“ ist übrigens keine Übertreibung. Läuft ein Patent um 00:00 Uhr aus, kann es passieren, dass zur Öffnung der ersten Apotheken um 08:00 Uhr bereits die ersten Generika geliefert werden.

Diese Effizienz verdrängt westliche Generikahersteller vom Markt, die noch nicht mit der Produktion der Arzneimittel begonnen haben, während asiatische Hersteller den Markt bereits fluten. Wer also im Spiel bleiben möchte, der lagert seine Produktion vorwiegend nach Indien und China aus, um das Bolar-Urteil zu umgehen.

Diese Wettbewerbsfähigkeit erkaufen sich Unternehmen in dem Wissen, wie es um die Sicherheit in den indischen Produktionsstätten steht. Die Zahl der Zwischenfälle, die sich in den indischen Fabriken ereignen, ist erschreckend hoch (z.B hier, hier, hier, hier und hier). Das Problem liegt allerdings nicht nur in der Sicherheit der Produktionsstätten, sondern auch in der Tatsache, dass dort regelmäßig GMP-Richtlinien unterlaufen werden. GMP steht für „Good Manufacturing Practice (gute Herstellungspraxis)“. Diese Richtlinien schreiben vor, wie Arzneimittel zu produzieren sind, welche Maßnahmen zur Qualitätskontrolle eingehalten werden müssen, wie Mitarbeiter zu schulen sind, welche Abweichungen akzeptabel sind, welche Qualifikationen die Zulieferer einhalten müssen, welche Daten aufbewahrt und eingereicht werden müssen usw.

Hält ein Unternehmen diese Richtlinien nicht ein, werden die produzierten Chargen nicht freigegeben. In Deutschland droht im schlimmsten Fall die Schließung der Produktionsstätte bis zur Behebung der Mängel. In der westlichen Welt existiert im Grunde ein gutes Verständnis für die Notwendigkeit der GMP-Richtlinien. Die Regelmäßigkeit mit der die FDA Warnungen an indische Pharmaunternehmen versendet (z.B. hier, hier und hier) zeigt deutlich, dass dieses Verständnis in anderen Ländern noch nicht so ausgeprägt ist. Dies kann im schlimmsten Fall zur Gefährdung der Patientensicherheit führen.

Von den Zuständen in China, wo ein Großteil der grundlegenden Wirkstoffe produziert wird, die auch in indischen Pharmaunternehmen verarbeitet werden, will ich gar nicht erst anfangen. Hier haben die massiven Lockdowns, die vorgeblich zur Coronabekämpfung durchgeführt wurden, tatsächlich auch zu massiven Produktionsausfällen in der Pharmaindustrie und damit zu weltweiten Lieferengpässen geführt.

Production’s coming home?

Nun werden die Rufe laut, die pharmazeutische Produktion endlich wieder zurück in die Heimat zu verlagern. Christian Karagiannidis spricht in der Tagesschau sogar von staatlichen Produktionsstätten für lebenswichtige Medikamente.

Diese Debatte ist so vorhersehbar wie eindimensional. Möchte man die produzierenden Pharmaunternehmen nach Deutschland oder Europa zurückholen und die Abhängigkeit von Asien reduzieren, muss Deutschland die Regelung der Rabattverträge reformieren und Europa einen Weg finden, das Bolar-Gesetz so zu verändern, dass auch Produktionen der ersten Chargen erlaubt werden.

Natürlich sind die in diesem Artikel erwähnten Gründe nicht vollständig. Die Knappheit bei Zäpfchen und Fiebersäften ist beispielsweise auch darauf zurückzuführen, dass die Menschen zu Hamsterkäufen neigen, sobald von einer Mangellage die Rede ist. Trotzdem sind wir gezwungen zu handeln, wenn wir die ständigen Lieferprobleme bei lebenswichtigen Medikamenten bekämpfen wollen. Und wir beeilen uns besser, bevor das gesamte Knowhow ins Ausland abgewandert ist und die letzten Apotheken ihre Pforten schließen.

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