Alles außer Pop – Cattle Decapitation

Ach du meine Güte. Ach. Du. Meine. Güte.

Ja, auch schon auf ihrem Vorgängeralbum „Anthropocene Extinction“ von 2015 thematisierten Cattle Decapitation das menschengemachte Ende der Welt technisch brillant, frei von Genregrenzen und voller musikalischer Gewalt. Allerdings scheinen sie zwischenzeitlich in einen Öltanker voller Zaubertrank gefallen zu sein und entschieden zu haben, das Experiment noch einmal unter Anwendung ihrer mittlerweile erworbenen übermenschlichen Kräfte zu wiederholen. „Death Atlas“ nennt sich das Ergebnis.

Hatern wird es zu glatt produziert sein und überhaupt, wenn eine Extrem-Metal-Band plötzlich melodischen Gesang einsetzt, ist das Misstrauen geweckt – häufig zurecht. Aber bitte erstmal anhören, auch wenn ich einräume, dass sich insbesondere an diesem Gesang die Geister scheiden werden.

Kommen wir erstmal zum Drumherum. Natürlich ist es nichts neues, wenn eine Metal- bzw. Grindcore-Band über den „Geozid“, das „Große Sterben“, das Ende der Welt etc. (siehe Songtitel) singt. Aber angesichts der aktuellen Entwicklung ist die Thematik freilich besonders dringlich. Was nichts nützen würde, wenn die Musik nicht halten würde, was die Programmatik verspricht. Aber sie hält. Über weite Strecken ist das sicher längst kein Grindcore mehr, sondern technischer Death Metal. Mit Breaks und Tempowechseln, die so leichtfüßig daher kommen, als hätten Nile im Studio die Göttin Isis herbeigerufen. Mit Schichten und Aberschichten aus Gegrunze und Gekeife und dynamischen Entwicklungen, die den Hörer ergreifen und auf eine Reise schicken, die 55 Minuten lang keinen Ausstieg erlaubt.

Aber diese technischen Finessen, die sind kein Selbstzweck, die sind nur der Grund, auf dem das Kunstwerk wächst. Und wenn es gerade Sinn ergibt, dann kann auch mal dreißig Sekunden lange staright durchgeknüppelt werden. Die Wurzeln aus Grindcore ragen stets tief in die verseuchte Erde. Bei allem, was es schon an Meisterwerken gab, eine derart dichte Atmosphäre, ein solches Gewitter aus saurem Regen und Sandstürmen zu erschaffen, das hebt die Band auf ein neues Niveau. Zaubertrank eben. Oder vielleicht radioaktive Strahlung oder genetische Experimente?

Und dann eben der Gesang. Auf „Anthropecene Extinction“ wurde er schon angedeutet. Hier ist er tragendes Element geworden und taucht in ca. jedem zweiten Lied auf. Normalerweise wird ein sogenannter Clean-Gesang als Insel der Harmonie und Ruhe eingesetzt. Und auch, wenn es hier vordergründig ähnlich verwendet wird, so bewirkt die Stimme auf „Death Atlas“ kein tröstliches Gefühl. Der Gesang ist verfremdet und lässt, Achtung!, zeitweise schon fast an Autotune denken. Jetzt bitte nicht sofort zum Klo rennen und übergeben, denn der Effekt hat hier nichts von grauenhaften Pop-Affirmationen, wie man sie in verdorbenen Genres á la Djent oder Metalcore finden kann, sondern führt zu einem ganz eigenwilligen, wiedererkennbaren Sound, der dem Album seinen Stempel aufdrückt. Dieser Sound ist gerade noch menschlich oder vielleicht auch gerade nicht mehr. Keine Computerstimme, aber eben auch kein natürlicher Gesang. Und wenn diese Stimme Zeilen singt wie

We know that we’re wrong
We know what we’ve done
Yet we still carry on

dann ahnt man, dass sie eine Menschheit repräsentiert, die schon mit einem Bein in der transhumanistischen Entfremdung steckt, die im Herzen schon so digitalisiert ist, so dem Diktat des Konsums verfallen, so sehr ein Cyborg, dass sie nicht mehr aufhören kann. Schnell noch ein Selfie davon machen, wie wir im Meer versinken. Die Zerstörung ist längst eingeleitet, das Ende unausweichlich, yet we still carry on.

Selten wurde diese Weisheit mit derartiger Durchschlagskraft vertont, wie auf der neuen Cattle Decapitation.

Der Autor schreibt hier regelmäßig über Musik. Über Musik redet er auch im Podcast Ach & Krach – Gespräche über Lärmmusik.

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